Inhaltsverzeichnis
- A. Vorläufiger Rechtsschutz nach §§ 80 ff. VwGO
- I. § 80 Abs. 1 VwGO
- II. § 80 Abs. 2 VwGO
- 1. Öffentliche Abgaben und Kosten (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO)
- 2. Unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO)
- 3. Spezialgesetzlicher Ausschluss der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 2 VwGO)
- 3a. Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3a VwGO)
- 4. Behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO)
- III. § 80 Abs. 4 VwGO
- IV. § 80 Abs. 5 VwGO
- 1. Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
- a) Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
- b) Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
- c) Zuständiges Gericht
- d) Beteiligten- und Prozessfähigkeit
- e) Antragsbefugnis
- f) Richtiger Antragsgegner
- g) Antragsfrist
- h) Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
- 2. Begründetheit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
- 3. Übungsfall Nr. 7
A. Vorläufiger Rechtsschutz nach §§ 80 ff. VwGO
498
Grundsätzlich wird der vorläufige Rechtsschutz gegen belastende Verwaltungsakte allein schon durch die Erhebung von Widerspruch bzw. Anfechtungsklage gewährleistet, denen nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO jeweils automatisch aufschiebende Wirkung zukommt („Suspensionsautomatik“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 17 f.). Nur dann, wenn die in § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO genannten Rechtsbehelfe ausnahmsweise nicht einen solchen Suspensiveffekt entfalten (s. § 80 Abs. 2, § 80a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 80b Abs. 1 VwGO ; Rn. 515 ff.), bedarf es weiterer Maßnahmen, um vorläufigen Rechtsschutz zu erlangen, vgl. § 80 Abs. 4, 5 VwGO (Rn. 546 ff.). Bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung regelt § 80a VwGO den vorläufigen Rechtsschutz (Rn. 542, 584).
499
I. § 80 Abs. 1 VwGO
500
Erlässt eine Behörde einen Verwaltungsakt, so wird dieser grundsätzlich unabhängig von seiner Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird, § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG (Ausnahme: Nichtigkeit z.B. gem. § 44 Abs. 1 VwVfG, s. § 43 Abs. 3 VwVfG). Diese Wirksamkeit behält der Verwaltungsakt gem. § 43 Abs. 2 VwVfG bei, d.h. er muss vom Bürger befolgt und kann von der Behörde unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen notfalls zwangsweise durchgesetzt (vollstreckt) werden,Dazu s. im Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“ Rn. 335 ff. solange und soweit der Verwaltungsakt nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Um nun zu verhindern, dass durch den Vollzug eines belastenden Verwaltungsakt vollendete Tatsachen geschaffen werden, ohne dass dessen Rechtmäßigkeit zuvor (widerspruchs-)behördlich bzw. gerichtlich überprüft wurde, ordnet § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO an, dass der gegen einen Verwaltungsakt erhobene (Anfechtungs-)Widerspruch ebenso wie die gegen einen Verwaltungsakt erhobene Anfechtungsklage jeweils grundsätzlich aufschiebende Wirkung hat (Rn. 296). Dieser Suspensiveffekt hat verfassungsrechtliche Bedeutung, kommt Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG doch auch die Aufgabe zu, irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen. „Ohne die aufschiebende Wirkung […] würde der Verwaltungsgerichtsschutz im Hinblick auf die notwendige Dauer der Verfahren häufig hinfällig, weil bei sofortiger Vollziehung des Verwaltungsakts regelmäßig vollendete Tatsachen geschaffen würden“BVerfG NVwZ 2017, 149 (150). (Rn. 487).
501
Beispiel
Nach Geis/Hinterseh JuS 2001, 1176 (1180 f.).Die zuständige Behörde erlässt gegenüber Hauseigentümer E eine Verfügung, mit der er zum Abriss seines Hauses verpflichtet wird. Gegen diese Verfügung erhebt E Anfechtungsklage.
Da hier kein Fall des § 80 Abs. 2 VwGO vorliegt, hat die Anfechtungsklage des E gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Während dieser Suspensiveffekt andauert, braucht E die Verfügung nicht zu befolgen und darf die Behörde diese nicht zwangsweise durchsetzen.
502
Tatbestandlich knüpft § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO den Eintritt der aufschiebenden Wirkung an „Widerspruch und Anfechtungsklage“, wobei mit Ersterem trotz des weiter gefassten Gesetzeswortlauts freilich nur der Anfechtungswiderspruch nach § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO, nicht aber auch der Verpflichtungswiderspruch nach § 68 Abs. 2 VwGO (Rn. 304), gemeint ist. Dies ergibt sich aus der inneren Systematik von § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO (Erwähnung des „Widerspruchs“ neben der „Anfechtungsklage“) sowie aus § 123 Abs. 5 VwGO.
503
Damit der Suspensiveffekt auch im konkreten Fall eintritt, muss in diesem einer der beiden vorgenannten Rechtsbehelfe – also entweder der (Anfechtungs-)Widerspruch oder in den Fällen des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO (Rn. 306 ff.) die Anfechtungsklage –
504
• | statthaft sein. Das ist nach § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO bzw. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO dann der Fall, wenn es sich bei der betreffenden Maßnahme um einen Verwaltungsakt handelt. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in Rn. 129 ff., 304 wird verwiesen. Ergänzend stellt § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO klar, dass die aufschiebende Wirkung nicht nur bei befehlenden (Ge-/Verbot), d.h. vollstreckungsfähigen, sondern auch bei rechtsgestaltenden (z.B. Rücknahme gem. § 48 VwVfG) sowie (z.B. die Staatsangehörigkeit) feststellenden Verwaltungsakten gilt; und |
505
• | tatsächlich erhoben sein. Die aufschiebende Wirkung tritt weder automatisch mit Bekanntgabe des Verwaltungsakts ein noch wird sie durch die bloße Möglichkeit, (Anfechtungs-)Widerspruch oder Anfechtungsklage zu erheben, herbeigeführt. Vielmehr ist nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO Anknüpfungspunkt der aufschiebenden Wirkung der (Anfechtungs-)Widerspruch (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO) bzw. die Anfechtungsklage (Fälle des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO). |
506
Weitere Anforderungen an die Zulässigkeit und Begründetheit von (Anfechtungs-)Widerspruch bzw. Anfechtungsklage stellt § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO seinem Wortlaut nach nicht. Im Prinzip lösen diese daher auch im Fall ihrer Unzulässigkeit den in § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO angeordneten Suspensiveffekt aus.
507
Eine erste Einschränkung erfährt dieser Grundsatz allerdings daraus, dass § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO überhaupt nur bei Bestehen der deutschen Gerichtsbarkeit (Rn. 46), der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (Rn. 53 ff.) sowie bei Statthaftigkeit von Widerspruch (Rn. 304 ff.) bzw. Anfechtungsklage (Rn. 126 ff.) in der Hauptsache anwendbar ist, d.h. wenn objektiv ein Verwaltungsakt vorliegt. Mangelt es im konkreten Fall an einer dieser (Zulässigkeits-)Voraussetzungen, so entfaltet ein(e) gleichwohl erhobene(r) Widerspruch bzw. Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung. Entsprechendes gilt nach h.M.S. die Nachweise bei Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 142. fernerhin auch dann, wenn der Widerspruch bzw. die Anfechtungsklage aus anderen Gründen offensichtlich unzulässig ist (Argument: Verhinderung von Rechtsmissbrauch). Dies ist namentlich dann der Fall, wenn der Betroffene unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in einem seiner subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt sein kann, d.h. ihm die Widerspruchs- bzw. Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO (analog) fehlt (Rn. 248 ff., 324 f.), oder der jeweilige Rechtsbehelf offensichtlich verfristet ist (§§ 70, 74 Abs. 1 VwGO; Rn. 342 ff., 360 ff.), d.h. der Verwaltungsakt formell bestandskräftig (unanfechtbar) geworden ist, vgl. § 80b Abs. 1 S. 1 VwGO. In beiden Fällen fehlt es an der notwendigen „innere[n] Verknüpfung der aufschiebenden Wirkung mit der Möglichkeit einer erfolgreichen Anfechtung.“BVerwG NJW 1993, 1610 (1611). Demgegenüber ist weithinNachweise zur a.A. bei Koehl JA 2016, 610 (612). anerkannt, dass selbst ein offensichtlich unbegründeter Widerspruch bzw. eine offensichtlich unbegründete Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO entfaltet.
Beispiel
Nach Koehl JA 2016, 610 (612).Gegen die ihm gegenüber erlassene gaststättenrechtliche Verfügung legt G nach Ablauf der Widerspruchsfrist Widerspruch ein. Entfaltet dieser aufschiebende Wirkung, wenn weder ein Fall des § 68 Abs. 1 S. 2 noch des § 60 VwGO vorliegt?
Nein. Der Widerspruch des G entfaltet keine aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO, da er offensichtlich unzulässig ist. Er wurde erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist (§ 70 VwGO) eingelegt und auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO kommt vorliegend nicht in Betracht.
508
§ 80 Abs. 1 S. 2 VwGO stellt klar, dass – sofern keine Ausnahme einschlägig ist – Widerspruch und Anfechtungsklage auch bei Verwaltungsakten mit DrittwirkungZu den hiervon abzugrenzenden Verwaltungsakten mit Misch- bzw. Doppelwirkung s. im Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“ Rn. 315. Zur Terminologie (Doppel- bzw. Drittwirkung) s. Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1016. i.S.v. § 80a VwGO aufschiebende Wirkung haben. Hierunter sind Verwaltungsakte zu verstehen, die eine Person begünstigen (vgl. § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG) und zugleich eine andere Person belasten.Mitunter wird für die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80a VwGO (freilich nicht auch die Antragsbefugnis) eine faktische Belastungswirkung als ausreichend erachtet, s. Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 165, 171 m.w.N. auch zur a.A. Dabei kann entweder die Begünstigung beim Adressaten und die Belastung beim Dritten eintreten (§ 80a Abs. 1 VwGO; z.B. belastet die dem Bauherrn gegenüber erteilte Baugenehmigung dessen Nachbarn); oder aber umgekehrt die Begünstigung beim Dritten und die Belastung beim Adressaten vorliegen (§ 80a Abs. 2 VwGO; z.B. begünstigt die gegenüber dem Ruhestörer erlassene Polizeiverfügung dessen Nachbarn).
509
Welche Rechtsfolgen genau mit dem Eintritt der „aufschiebenden Wirkung“ nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO verbunden sind, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Mittelbar lässt sich § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3–5 und § 80a Abs. 1, 2 VwGO, die jeweils vom Gegenstück („Vollziehung“) sprechen, allerdings entnehmen, dass hiermit richtigerweise die Hemmung der Vollziehung gemeint ist. Diese wiederum bewirkt, dass während ihres Andauerns ein befehlender Verwaltungsakt vom Adressaten nicht befolgt werden muss und von der Behörde jedenfalls nicht vollstreckt werden darf, vgl. etwa § 6 Abs. 1 VwVG. Allerdings ist „der Begriff der Vollziehung i.S. des § 80 [VwGO] […] weiter als der am Verwaltungszwang orientierte und nur behördliche Zwangsmaßnahmen umfassende Begriff der Vollstreckung i.S. der Vollstreckungsgesetze.“Schmitt Glaeser/Horn Verwaltungsprozessrecht Rn. 256. Vgl. auch Proppe JA 2004, 324.
510
Definition
Definition: Vollziehung
„Vollziehung ist die einseitige Durchsetzung der im Bescheid getroffenen Regelung mit hoheitlichen Mitteln.“BVerwGE 132, 250 (251).
511
Da nicht sämtliche Verwaltungsakte der Vollstreckung zugänglich sind, würde der Suspensiveffekt im Fall einer Gleichsetzung der Vollzugs- lediglich mit einer Vollstreckungshemmung bei rechtsgestaltenden sowie feststellenden Verwaltungsakten nicht Platz greifen. Nicht zuletzt aufgrund der Unvereinbarkeit eines solchen Ergebnisses mit § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO wird der Begriff der „aufschiebenden Wirkung“ daher insbesondere von der RechtsprechungVgl. BVerfG NJW 2006, 3551 (3552); VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 463 (464). über eine bloße Vollstreckungshemmung hinaus i.S. eines „umfassende[n] Verwirklichungs- und Ausnutzungsverbot[s]“OVG Koblenz DVBl 1989, 890 (891) m.w.N. betreffend den mit dem Widerspruch bzw. der Anfechtungsklage angegriffenen Verwaltungsakt verstanden. Aus diesem dürfen vom Zeitpunkt seines Erlasses an – die Erhebung von Widerspruch bzw. Anfechtungsklage führt zum rückwirkenden Eintritt des Suspensiveffekts (ex tunc; Folge u.a.: zwischenzeitliche Vollzugsmaßnahmen sind rechtswidrig und daher auszusetzen bzw. rückgängig zu machen; Rn. 586) – von den Behörden, Gerichten und Beteiligten weder rechtlich noch tatsächlich (un-)mittelbare Folgen gezogen werden: Der Adressat des angegriffenen Verwaltungsakts braucht die darin enthaltenen Ver- und Gebote nicht zu befolgen, d.h. er darf die untersagte Tätigkeit zunächst weiter ausüben; „[d]ie aufschiebende Wirkung [belässt] dem Betroffenen [damit] vorübergehend eine ,Rechtsposition‚ […], die ihm nach dem geltenden Recht möglicherweise nicht zusteht.“Schmitt Glaeser/Horn Verwaltungsprozessrecht Rn. 260. Andererseits darf er aber auch nicht von einer behördlichen Erlaubnis etc. Gebrauch machen, gegen die ein Dritter eine(n) nicht offensichtlich unzulässige(n) Widerspruch bzw. Anfechtungsklage erhoben hat (Rn. 503 ff.). „Ein durch den [Verwaltungsakt] Begünstigter handelt rechtswidrig, wenn er trotz aufschiebender Wirkung von einer Erlaubnis Gebrauch macht.“Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 4. Umgekehrt ist die Verwaltung aufgrund der aufschiebenden Wirkung ihrerseits daran gehindert, sich auf die durch den angegriffenen Verwaltungsakt etwaig veränderte Rechtslage (z.B. Aufhebung eines begünstigenden Dauerverwaltungsakts) zu berufen sowie Strafen, Geldbußen oder sonstige Sanktionen aufgrund von dessen Nichtbefolgung zu verhängen; die Anfechtung des „Grund-Verwaltungsakts“ (z.B. Widerruf der Gaststättenerlaubnis gem. § 15 Abs. 2 GastG) entzieht einem „Folge-Verwaltungsakt“ (z.B. Schließungsverfügung gem. § 31 GastG i.V.m. § 15 Abs. 2 GewO) die Basis. Schließlich sind beide Seiten daran gehindert, Folgerungen aus der im angegriffenen Verwaltungsakt getroffenen Feststellung zu ziehen. Die Aufrechnung als solche wird hingegen von § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO zwar nicht verhindert, „wohl aber die Aufrechenbarkeit solcher Gegenforderungen, deren Bestand oder Fälligkeit ihrerseits einen Verwaltungsakt voraussetzt, sofern und solange die Vollziehung dieses Verwaltungsakts ausgesetzt ist.“BVerwGE 132, 250 (252) m.w.N.
512
Nicht zu folgen ist hingegen den im SchrifttumS. die Nachweise bei Koehl JA 2016, 610. mitunter befürworteten Wirksamkeitstheorien. Nach der strengen Wirksamkeitstheorie werde die Wirksamkeit des mit einem Widerspruch bzw. der Anfechtungsklage angegriffenen Verwaltungsakts bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über den jeweiligen Rechtsbehelf aufgeschoben. Sofern der Verwaltungsakt darin nicht aufgehoben werde, erlange er erst zu diesem Zeitpunkt (ex nunc) seine Wirksamkeit. Vermittelnd zwischen dieser Ansicht und der Vollziehbarkeitstheorie (Rn. 509 ff.) geht schließlich die eingeschränkte Wirksamkeitstheorie davon aus, dass Widerspruch und Anfechtungsklage zwar die Wirksamkeit des Verwaltungsakts hemmten, diese Hemmung aber nur vorläufiger Natur sei. Werde der Verwaltungsakt bestands- bzw. rechtskräftig bestätigt, so entfalle die infolge der Wirksamkeitshemmung zunächst eingetretene schwebende Unwirksamkeit rückwirkend (ex tunc).
513
Trotz der im Ausgangspunkt unterschiedlichen dogmatischen Einordnung des Suspensiveffekts bedarf es in der Fallbearbeitung gleichwohl nur dann einer Entscheidung des diesbezüglich geführten Meinungsstreits, wenn und soweit die verschiedenen Auffassungen auch im konkreten Fall zu voneinander abweichenden Ergebnissen gelangen. Von vornherein ausgeschlossen ist dies jedoch zum einen dann, wenn der Verwaltungsakt von Anfang an rechtswidrig war, so dass er mit Rückwirkung auf seinen Erlasszeitpunkt (ex tunc) aufgehoben wird. Und auch im Übrigen bedarf es zum anderen keiner Entscheidung zwischen der Lehre von der Vollziehbarkeitshemmung und der Theorie der eingeschränkten Wirksamkeitshemmung, da beide Konzeptionen letztlich regelmäßig zu demselben praktischen Ergebnis führen. Gegen die verbleibende strenge Wirksamkeitstheorie spricht bereits der Wortlaut von § 43 Abs. 2 VwVfG, in dem die „aufschiebende Wirkung“ gerade nicht als Grund für die Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts genannt wird. Zudem hätte die Befolgung dieser Ansicht zur Konsequenz, dass mittels der Erhebung selbst eines offensichtlich unbegründeten Widerspruchs bzw. einer offensichtlich unbegründeten Anfechtungsklage aufgrund der Prozessvorschrift des § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO (Rn. 507 a.E.) ein Resultat erzielt werden könnte (nämlich die Wirksamkeit des angegriffenen Verwaltungsakts erst mit Eintritt von dessen Bestands- bzw. Rechtskraft), das sich nach dem materiellen Recht nicht erreichen lässt, s. § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG: „Ein Verwaltungsakt wird [. . .] in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er [. . .] bekannt gegeben wird.“ Vgl. auch § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG.
514
Die aufschiebende Wirkung endet nach Maßgabe von § 80b VwGO, im Fall des § 80 Abs. 5 S. 5 VwGO auch mit Fristablauf sowie darüber hinaus ebenfalls mit der Erledigung der Hauptsache.
II. § 80 Abs. 2 VwGO
515
Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen im Verwaltungsprozess ist verfassungsrechtlich durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG zwar grundsätzlich geboten (Rn. 488 ff., 500), allerdings nicht ausnahmslos. Vielmehr vermögen überwiegende öffentliche Belange es durchaus zu rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Demgemäß entfällt die aufschiebende Wirkung, die Widerspruch und Anfechtungsklage gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO i.d.R. zukommt, nach § 80 Abs. 2 S. 1 VwGO
1. | bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten (Rn. 516 ff.), |
2. | bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten (Rn. 524), |
3. | in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen (Rn. 525 f.), |
4. | in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird (Rn. 528 ff.). |
Schließlich können die Länder nach § 80 Abs. 2 S. 2 VwGO auch bestimmen, dass Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der VerwaltungsvollstreckungDazu s. im Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 335 ff. durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden (so z.B. Art. 11 S. 1 AGVwGO Brem.).
1. Öffentliche Abgaben und Kosten (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO)
516
Zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf der Staat eines stetigen Zuflusses finanzieller Mittel. Um eine ordnungsgemäße Haushaltsplanung zu sichern (vgl. §§ 2, 8 HGrG) und zu verhindern, dass Abgaben- und Kostenschuldner allein schon zwecks Erlangung eines Zinsvorteils Rechtsbehelfe gegen entsprechende Bescheide einlegen und hierdurch dem Staat eingeplante Einnahmen vorenthalten, kommen Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte, mit denen öffentliche Abgaben und Kosten angefordert werden, kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zu, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO.
Definition
Definition: Öffentliche Abgaben
„Öffentliche Abgaben“ i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind „hoheitlich geltend gemachte öffentlich-rechtliche Geldforderungen, die […] zur Deckung des Finanzbedarfs eines Hoheitsträgers für die Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben dienen“.
Gersdorf in: Posser/Wolff, VwGO § 80 VwGO Rn. 46 m.w.N. Bei dem dort zudem genannten Merkmal „von allen erhoben werden, die einen gesetzlich bestimmten Tatbestand erfüllen“, handelt es sich richtigerweise nicht um ein Begriffsmerkmal der Abgabe, sondern vielmehr um eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ihrer Erhebung, vgl. Rn. 518.Sonstige öffentlich-rechtliche Geldforderungen, die nicht primär der allgemeinen Staatsfinanzierung, sondern vorrangig anderen Zielen dienen (z.B. Zwangsgeld nach § 11 VwVG), unterfallen dagegen nicht dem als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO. Bereits nach dessen ausdrücklichem Wortlaut ist nicht „jeder Verwaltungsakt, der eine Geldleistung zum Gegenstand hat, sofort vollziehbar […]. Die bloße Einnahmeerzielung als solche ist nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO als Rechtfertigungsgrund für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung […] gerade nicht vorgesehen.“ „Deshalb darf [insofern] nicht lediglich allgemein auf die Deckung des Finanzbedarfs zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben abgestellt werden.“ Vielmehr müssen zusätzlich zur Finanzierungsfunktion der vom Einzelnen zu erbringenden Geldleistung als notwendige Voraussetzung des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO noch die „Verlässlichkeit und die Berechenbarkeit des Mittelzuflusses in die öffentlichen Kassen“ hinzukommen.Zum gesamten Vorstehenden s. Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im öffentlichen Recht § 29 Rn. 45 f.
517
Zu den öffentlichen Abgaben i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO gehören namentlich Steuern (sofern diesbezügliche Streitigkeiten überhaupt der VwGO – und nicht der FGO – unterfallen; Rn. 110), Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben:
518
• | Steuern sind nach der Legaldefinition des § 3 Abs. 1 AO (ggf. i.V.m. z.B. § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) KAG NRW) „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein“, wobei es sich bei der Gesetzmäßigkeit und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung richtigerweise nicht um Begriffsmerkmale der Steuer, sondern vielmehr um Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit ihrer Erhebung handelt;Näher dazu Wienbracke KStZ 2013, 41 (43); ders. JuS 2019, 673 ff., jew. m.w.N. |
519
• | Gebühren sind Geldleistungen, die als Gegenleistung für eine besondere Leistung – Amtshandlung oder sonstige Tätigkeit – der Verwaltung (Verwaltungsgebühren; z.B. für die Erteilung einer Baugenehmigung) oder für die tatsächliche Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen (Benutzungsgebühren; z.B. für das städtische Schwimmbad) erhoben werden, vgl. § 3 Abs. 4 BGebG und § 4 Abs. 2 KAG NRW;Näher dazu Wienbracke JuS 2019, 1070 ff. |
520
• | Beiträge werden zur vollständigen oder teilweisen Deckung des Aufwandes für die Herstellung, Anschaffung und Erweiterung öffentlicher Einrichtungen und Anlagen als Gegenleistung dafür erhoben, dass dem Beitragsschuldner ein wirtschaftlicher Vorteil in Form der bloßen Möglichkeit der Inanspruchnahme der betreffenden öffentlichen Einrichtungen oder Anlage geboten wird (z.B. Kindergartenbeitrag), vgl. § 8 Abs. 2 KAG NRW; |
521
• | Sonderabgaben (z.B. BaFin-Umlage nach § 16 FinDAG) sind (1) „Geldleistungspflicht[en] mit (2) Aufkommenswirkung zugunsten der öffentlichen Hand, deren (3) gesetzliche Anordnung auf einer Kompetenzgrundlage außerhalb der Finanzverfassung, d.h. einer der Sachgesetzgebungszuständigkeiten der Art. 70 ff. GG, beruht. (4) Als Sonderlast wird sie zusätzlich zur allgemeinen Steuerpflicht nur Angehörigen eines von der Allgemeinheit sowie anderen Gruppen abgrenzbaren Personenkreises auferlegt und dies (5) ohne Rücksicht auf eine korrespondierende Leistung der öffentlichen Hand (,voraussetzungslos‘). (6) Das Abgabenaufkommen ist einem besonderen Finanzbedarf gewidmet, d.h. es dient lediglich der Finanzierung besonderer Aufgaben, und wird demgemäß zweckgebunden – und nicht von den Finanzbehörden – verwaltet. Darüber hinaus wird speziell für Sonderabgaben im engeren Sinn noch die Verfolgung eines ,Finanzierungszweck[s] – sei es als Haupt- oder als Nebenzweck –‘ als weiteres Begriffsmerkmal genannt“.Wienbracke VR 2021, 73 (75) m.w.N.. Vgl. auch Birk/Desens/Tappe Steuerrecht, Rn. 110 f.; Tappe/Wernsmann Öffntliches Finanzrecht, Rn. 304 ff., jew. m.w.N. |
522
Definition
Definition: Öffentliche Kosten
„Öffentliche Kosten“ i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO sind alle Gebühren und Auslagen (vgl. § 1 Abs. 1 VwKostG a.F.), die den Beteiligten wegen der Durchführung eines Verwaltungsverfahrens (inkl. des Widerspruchverfahrens) nach im Voraus feststehenden Sätzen auferlegt werden.Koehl JA 2016, 610 (613); Schoch in: ders./Schneider VwGO § 80 Rn. 139; ders. in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 51.
Ob Kostenentscheidungen, die nicht isoliert (selbstständig), sondern zusammen mit einer Sachentscheidung (d.h. unselbstständig; vgl. § 13 Abs. 1 S. 2 BGebG) erhoben werden (z.B. Gebühren für die Erteilung einer Genehmigung), unter § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO zu subsumieren sind, ist streitig.Nachweise zum Meinungsstand bei Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 29 Rn. 51. Konsequenz der diese Frage bejahenden Ansicht ist, dass die etwaig bestehende aufschiebende Wirkung des gegen die Sachentscheidung eingelegten Rechtsbehelfs sich nicht auch auf die mit ihr verbundene Kostenentscheidung erstreckt. Nach a.A. ist diese dagegen i.d.S. „akzessorisch“, als sie in Bezug auf den Eintritt der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO das Schicksal des „Grundverwaltungsakts“ teilt. Richtigerweise nicht unter den Begriff der „öffentlichen Kosten“ i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO fallen jedenfalls solche behördliche Geldforderungen, die im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung entstanden sind (z.B. Kosten für die Anwendung von unmittelbaren Zwang; str.Kopp/Schenke VwGO § 80 Rn. 63 m.w.N. auch zur a.A.); denn deren jeweilige Höhe ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig.
523
Beispiel
Unter Anordnung der sofortigen Vollziehung hatte die zuständige Behörde B dem Grundstückseigentümer E aufgegeben, durch fachkundige Personen einen Hangrutsch auf seinem Grundstück beobachten zu lassen. Da E dem Gebot nicht nachkam, ordnete B die Ersatzvornahme an und verlangte nach deren Durchführung die hierdurch angefallenen Kosten von E durch Bescheid ersetzt. Gegen diesen Kostenbescheid hat E in zulässiger Weise Widerspruch erhoben. Muss E die Kosten nunmehr gleichwohl sofort begleichen?
Nein. Denn gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO hat der Widerspruch des E aufschiebende Wirkung. Die Ausnahme des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO greift vorliegend nicht ein (zu § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO s. Rn. 526). Bei den hier von der Behörde gegenüber E geltend gemachten Kosten handelt es sich nach h.M. nicht um „Kosten“ i.S. dieser Vorschrift. Diese erfasst nämlich nur nach feststehenden Sätzen auferlegte und der allgemeinen Staatsfinanzierung dienende Gebühren und Auslagen, nicht hingegen auch solche, deren Höhe sich – wie diejenigen einer Ersatzvornahme – nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls richtet.
2. Unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO)
524
Um eine effektive Gefahrenabwehr sicherzustellen, entfalten gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO auch Widerspruch und Anfechtungsklage gegen unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten keine aufschiebende Wirkung. In persönlicher Hinsicht erfasst § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO nur Vollzugsbeamte der Polizei im institutionellen Sinn, nicht dagegen auch solche der allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsbehörden (Verwaltungspolizei). Zudem muss die Anordnung oder Maßnahme in sachlicher Hinsicht unaufschiebbar, d.h. ein sofortiges Eingreifen der Polizei erforderlich sein (z.B. eilbedürftige Gefahrenabwehrmaßnahmen bei „Gefahr im Verzug“). Aufgrund ihrer Funktionsgleichheit mit unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten findet § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO auf Verkehrszeichen, die Ge- bzw. Verbote enthalten (§§ 41 Abs. 1, 45 StVO), analoge Anwendung.Dazu s. im Skript „Juristische Methodenlehre“ Rn. 264.
3. Spezialgesetzlicher Ausschluss der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 2 VwGO)
525
Von der sich aus § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO ergebenden Ermächtigung, durch (förmlichesNicht also: Rechtsverordnungen wie z.B. (§ 47 Abs. 1) FeV.) Bundesgesetz oder – für Landesrecht – durch Landesgesetz Ausnahmen von dem sich aus § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO ergebenden Grundsatz der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage zu schaffen, u.a. „für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen“ (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Hs. 2 VwGO), hat der Gesetzgeber mittlerweile in beachtlichem Ausmaß Gebrauch gemacht. Auf bundesgesetzlicher Ebene sind insoweit neben § 212a Abs. 1 BauGB v.a. noch § 18e Ab. 2 S. 1 AEG, § 17e Abs. 2 S. 1 FStrG, § 14e Abs. 2 S. 1 WaStrG, § 10 Abs. 4 S. 1 LuftVG und § 2d Abs. 2 S. 1 MBPIG zu nennen; ferner s. § 84 Abs. 1 AufenthG, § 75 AsylVfG, § 14 PassG sowie § 126 Abs. 4 BBG und § 54 Abs. 4 BeamtStG. Typisches Beispiel für eine auf § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO basierende landesrechtliche Vorschrift ist § 112 JustG NRW, wonach „Rechtsbehelfe, die sich gegen Maßnahmen der Vollstreckungsbehörden und der Vollzugsbehörden […] in der Verwaltungsvollstreckung richten […], keine aufschiebende Wirkung“ haben (ferner s. § 12 S. 1 LVwVG BW, Art. 21a S. 1 bay. VwZVG, § 63 Abs. 1 S. 1 JustG Bln., § 16 VwVGBbg., § 29 Abs. 1 Hs. 1 HmbVwVG, § 16 HessAGVwGO, § 110 VwVfG M-V i.V.m. § 99 Abs. 1 S. 2 SOG M-V, § 111 Abs. 6 VwVfG M-V, § 66 NVwVG, § 70 Abs. 1 NVwVG i.V.m. § 64 Abs. 4 S. 1 Nds. SOG, § 20 AGVwGO RhPf., § 20 S. 1 AGVwGO Saarl., § 11 S. 1 SächsVwVG, § 9 AGVwGO LSA, § 53 Abs. 4 S. 1 SOG LSA, §§ 248 Abs. 1 S. 2, 322 Abs. 1 LVwG SchlH., § 8 S. 1 ThürAGVwGO). Dieser Ausschluss des Suspensiveffekts bezieht sich namentlich auf die Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln, nicht hingegen auf Kostenbescheide für Vollstreckungsmaßnahmen. Letztere ergehen nämlich nicht mehr „in“, sondern vielmehr erst „nach“ der Verwaltungsvollstreckung.
526
Beispiel
Nicht also: Rechtsverordnungen wie z.B. (§ 47 Abs. 1) FeV.In dem in Rn. 523 gebildeten Beispielsfall hat der Widerspruch des E gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Die Ausnahme des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. dem jeweiligen Landesrecht greift hier nicht ein (zu § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO siehe Rn. 523). Denn bei der Anforderung der Kosten für die Ersatzvornahme handelt es sich nicht mehr um eine Maßnahme „in“ der Verwaltungsvollstreckung.
3a. Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3a VwGO)
527
Ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien bezweckt die durch Art. 1 des Gesetzes zur Beschleunigung von Investitionen vom 3.12.2020BGBl. 2020 I, 2694. neu in § 80 Abs. 2 S. 1 VwGO eingefügte Regelung die beschleunigte Zulassung von bestimmten Infrastrukturvorhaben mit überregionaler Bedeutung, nämlich den in der dortigen Nr. 3a VwGO ausdrücklich genannten „Bundesverkehrswege[n] und Mobilfunknetze“. Bei diesen bestehe regelmäßig ein dringendes öffentliches Interesse an einer zügigen Realisierung, d.h. am sofortigen Vollzug, welches das Interesse Dritter an der aufschiebenden Wirkung eines gegen die Zulassungsentscheidung eingelegten Rechtsbehelfs grundsätzlich überwiege. Es sei daher gerechtfertigt, die aufschiebende Wirkung durch Gesetz auszuschließen.Zum gesamten Vorstehenden s. BT-Drucks. 19/22139, S. 18. Vgl. auch BT-Drucks. 19/24040, S. 21.
Definition
Definition: Zulassung
Der Begriff „Zulassung“ i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3a VwGO ist dahingehend weit zu verstehen, dass er über die bloße Genehmigung eines Vorhabens hinaus u.a. auch Änderungen erfasst.BT-Drucks. 19/22139, S. 18.
Aufgrund des in § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3a VwGO enthaltenen negativen Tatbestandsmerkmals „und die nicht unter Nummer 3 fallen“ werden von der Neuregelung nur solche Fälle erfasst, in denen die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nicht bereits nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. entsprechenden gesetzlichen Sonderregelungen entfällt (dazu s. Rn. 525).BT-Drucks. 19/22139, S. 18.
Hinweis
4. Behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO)
528
Ist keiner der vorgenannten Fälle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a, S. 2 VwGO einschlägig (Rn. 516 ff.), so gelangt an sich der in § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO normierte gesetzliche Regelfall zur Anwendung, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung entfalten (Rn. 500 ff.). Sollte im konkreten Fall gleichwohl einmal das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schwerer wiegen als dasjenige an der aufschiebenden Wirkung der vorgenannten Rechtsbehelfe, so kann die Behörde gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO – entweder zusammen mit dem Verwaltungsakt oder zu einem späteren Zeitpunkt – dessen sofortige Vollziehung anordnen.
529
Der Rechtsnatur nach handelt es sich bei dieser Anordnung der sofortigen Vollziehung (AsV) der h.M.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1045 m.w.N. auch zur a.A. zufolge um eine rein verfahrensrechtliche (Neben-)Entscheidung ohne sachliche Rechtsfolgenanordnung (Regelung, vgl. § 35 S. 1 VwVfG) und damit nicht um einen Verwaltungsakt. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist folglich nicht über den Widerspruch bzw. die Anfechtungsklage, sondern allein über das Verfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 (Rn. 551 ff.) bzw. § 80a Abs. 3 VwGO zu erlangen.
530
Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ist in formeller Hinsicht, dass sie durch die zuständige Behörde erfolgt. Wie sich aus dem ausdrücklichen Wortlaut von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ergibt, sind sowohl die Ausgangsbehörde – und zwar auch noch nach Abgabe an die Widerspruchsbehörde bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts – als auch (im Zeitraum zwischen Erhebung des Widerspruchs und Zustellung des Widerspruchbescheids; str.Nach a.A. sei die Widerspruchsbehörde bereits vor Erhebung des Widerspruchs, nämlich ab Erlass des Verwaltungsakts, für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zuständig. Nachweise zum Meinungsstreit bei Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1050.) die Widerspruchsbehörde (Rn. 328 ff.) für die Anordnung nach dieser Vorschrift zuständig („Zuständigkeitskonkurrenz“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 65.).
531
Einer Anhörung bedarf es vor Ergehen der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach h.M.Nachweise zum Meinungsstreit bei Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 68. nicht. Bei dieser handelt es sich nämlich nicht um einen Verwaltungsakt (Rn. 529), so dass der einen solchen aber gerade voraussetzenden § 28 Abs. 1 VwVfG im vorliegenden Zusammenhang unmittelbar ohnehin keine Anwendung findet. Doch auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift scheitert nach richtiger Ansicht daran, dass § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO die in formeller Hinsicht an die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu stellenden Anforderungen abschließend regelt.
532
Expertentipp
In den Fällen, in denen die Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO unmittelbar mit dem Erlass des für sofort vollziehbar erklärten Verwaltungsakts verbunden hat, braucht auf die Frage der analogen Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 VwVfG nicht weiter eingegangen zu werden, s. Übungsfall Nr. 7. Denn selbst diejenigen Stimmen, die aus rechtsstaatlichen Gründen eine Anhörung in Bezug auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung fordern, lassen es genügen, wenn diese zusammen mit derjenigen, die nach § 28 Abs. 1 VwVfG in Bezug auf den für sofort vollziehbar erklärten Verwaltungsakt ggf. notwendig war, erfolgt ist.Vgl. Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 159.
533
Was die Form der Anordnung der sofortigen Vollziehung anbelangt, so muss diese „besonders“ angeordnet werden, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. Eine konkludente Anordnung – etwa in Gestalt der rein tatsächlichen Vollziehung eines Verwaltungsakts – ist daher nicht möglich.
534
Zudem ist gem. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO das „besondere Interesse“ an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sieht § 80 Abs. 3 S. 2 VwGO lediglich dann vor, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum, vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft. Der Sinn und Zweck des Begründungserfordernisses nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO besteht voranging darin, der Behörde den Ausnahmecharakter der Anordnung der sofortigen Vollziehung vor Augen zu führen (Warnfunktion).Ferner: Inkenntnissetzung sowohl des Bürgers als auch des Gerichts von den Gründen, welche die Verwaltung zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bewogen haben, damit der Bürger die Erfolgsaussicht eines hiergegen gerichteten Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO abschätzen (Rechtsschutzfunktion) bzw. das Gericht die getroffene Anordnung ordnungsgemäß auf ihre Rechtmäßigkeit hin kontrollieren kann (Kontrollfunktion). Diese muss das besondere Interesse gerade an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts dartun. Dies erfordert eine Auseinandersetzung der Behörde mit den konkreten Umständen des Einzelfalls. Aus der Begründung muss hervorgehen, warum speziell in diesem ein überwiegendes Interesse nicht bloß am Erlass des Verwaltungsakts, sondern gerade an dessen – vom gesetzlichen Regelfall des § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO abweichenden – sofortiger Vollziehung besteht. Nicht ausreichend sind daher einzelfallunabhängige allgemeine Floskeln, formelhafte bzw. pauschale Wendungen sowie die bloße Wiedergabe des Wortlauts von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. Im Grundsatz ebenfalls ungenügend ist die Wiederholung der den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigenden Gründe bzw. – im Ergebnis gleichbedeutend – der Hinweis auf dessen offensichtliche Rechtmäßigkeit. Denn wäre der Verwaltungsakt nicht ohnehin rechtmäßig, so dürfte er wegen Art. 20 Abs. 3 GG bereits gar nicht erst erlassen, geschweige denn für sofort vollziehbar erklärt werden. „Zwischen der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts (als notwendige Voraussetzung) und der Dringlichkeit seiner Vollziehung (als hinreichende Voraussetzung) ist […] zu unterscheiden.“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 74.
Definition
Definition: Begründungserfordernis
„Dem formalen Begründungserfordernis gem. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO genügt die Behörde bereits dann, wenn sie schlüssig, konkret und substantiiert darlegt, aufgrund welcher Erwägungen sie gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung als gegeben ansieht und das Interesse des Rechtsbehelfsführers am Bestehen der gesetzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung zurückzutreten hat.“OVG Münster BeckRS 2023, 37112 (Rn. 9) m.w.N.
535
In Abhängigkeit von der Fassung der jeweils einschlägigen Norm kann das allgemeine Interesse an ihrem Vollzug, d.h. dem Erlass eines entsprechenden Verwaltungsakts, ausnahmsweise allerdings durchaus mit dem Interesse an dessen sofortiger Vollziehung zusammenfallen („Identität zwischen Erlassinteresse und besonderem Vollziehungsinteresse“Schoch Jura 2001, 671 (679).), d.h. das „besondere Vollzugsinteresse in der Rechtsgrundlage zum Erlass des Verwaltungsakts mit angelegt“Schoch Jura 2001, 671 (679). sein. Da die Vollziehbarkeit jedoch nicht von der Formulierung der betreffenden Ermächtigungsgrundlage abhängen kann, reicht es in derartigen Konstellationen (v.a. im Bereich der Gefahrenabwehr) aus, wenn die Behörde hinsichtlich des besonderen Vollzugsinteresses auf die Begründung des zu vollziehenden Verwaltungsakts Bezug nimmt. Auch im Übrigen wird davor gewarnt, die Anforderungen an den Inhalt der nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO notwendigen Begründung zu überspannen.
536
Ob eine den vorgenannten Anforderungen genügende Begründung die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch inhaltlich trägt, ist im Rahmen von § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO, der ein rein formelles Begründungserfordernis statuiert, hingegen ohne Bedeutung.
537
Fehlt es zunächst an einer i.S.v. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO ordnungsgemäßen Begründung, holt die Behörde diese jedoch im Laufe des gerichtlichen Verfahrens (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO) nach, so führt dies nach der RechtsprechungS. etwa OVG Münster NJW 1986, 1894 (1895); OVG Greifswald NVwZ-RR 1999, 409; OVG Berlin-Brandenburg NVwZ-RR 2008, 727 m.w.N. zu einer rückwirkenden Heilung der zuvor insoweit rechtswidrigen – nicht aber nichtigen, d.h. gleichwohl wirksamen – Anordnung der sofortigen Vollziehung. Denn es würde einen reinen Formalismus darstellen, die nachgeholte Begründung im Aussetzungsverfahren unberücksichtigt zu lassen, obwohl die Behörde doch jederzeit eine neue – ordnungsgemäß begründete – Anordnung der sofortigen Vollziehung aussprechen könne. Genau hierauf will das SchrifttumEtwa Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1055; Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 71 m.w.N. die Verwaltung jedoch verweisen. Eine Heilung der Begründung gem. § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG scheitere an der fehlenden Verwaltungsaktqualität der Anordnung der sofortigen Vollziehung (Rn. 529) und auch eine analoge Anwendung dieser Norm komme aufgrund des abschließenden Charakters von § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO nicht in Betracht. Zudem könne der mit dieser Vorschrift verfolgte Zweck, der Behörde den Ausnahmecharakter der Anordnung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO zu verdeutlichen (Rn. 534), im Nachhinein nicht mehr erreicht werden. Es bestehe daher nur die Möglichkeit des Neuerlasses einer Vollziehungsanordnung mit Wirkung ex nunc.
Expertentipp
In der Klausur ist ein näheres Eingehen auf die Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO – sowie bei deren Nichtvorliegen auf die vorstehende Heilungsproblematik – nur dann angezeigt, wenn der mitgeteilte Sachverhalt Angaben zur behördlichen Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung enthält.Schübel-Pfister JuS 2012, 993 (997).
538
Jedenfalls dann, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht nur ursprünglich fehlerhaft war, sondern der Fehler i.S.v. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO auch nachträglich nicht wieder behoben wurde, hat ein zulässiger Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO auf gerichtliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung allein deshalb schon, d.h. ohne weitere Sachprüfung, Erfolg (Rn. 569 f.).
539
Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung in materieller Hinsicht ist gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO das Vorliegen entweder eines öffentlichen (u.U. auch rein fiskalischen) Interesses (Alt. 1) oder – bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung – eines überwiegenden Interesses eines Beteiligten (Alt. 2; Rn. 542) an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts. M.a.W.: Zusätzlich zu demjenigen Interesse, welches den Erlass des Verwaltungsakts überhaupt rechtfertigt, muss grundsätzlich noch ein weiteres „besonderes Interesse“ (§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO) dahingehend hinzukommen, dass dieser sofort – und nicht erst nach Eintritt der Bestands- bzw. Rechtskraft – vollzogen wird („besondere Dringlichkeit des Vollzugs“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 74.). Ob dies der Fall ist, ist im Wege einer umfassenden Abwägung zwischen dem Aufschubinteresse einerseits und dem Interesse am Sofortvollzug andererseits zu ermitteln. Dabei ist „[d]er Rechtsschutzanspruch des Bürgers […] umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt.“BVerfG NVwZ 2007, 1302 (1304) m.w.N. Insoweit gelten dieselben Maßstäbe wie im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO (Rn. 568 ff.). Ein etwaiges non liquet geht zu Lasten der Behörde.
Beispiel
Nach OVG Hamburg DÖV 2023, 776.Bei einer baurechtlichen Beseitigungsanordnung, die als schwerwiegende Maßnahme im Fall ihres Vollzugs erhebliche Kosten für den Betroffenen verursacht und nur schwer reversible Zustände schafft, genügt das allgemeine öffentliche Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände in der Regel nicht, um ein besonderes öffentliches Interesse i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO zu begründen. Denn dieses allgemeine Interesse findet schon im Erlass der baurechtlichen Verfügung selbst seinen Ausdruck. Auch wenn sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage als rechtmäßig erweist, genießt das Aussetzungsinteresse nach § 80 Abs. 1 VwGO Vorrang. Regelmäßig wiegen die mit der sofortigen Beseitigung der baulichen Anlage für den Betroffenen verbundenen Nachteile schwerer als diejenigen Nachteile, die mit dem vorläufigen weiteren Bestand der baulichen Anlage verbunden sind. Es entspricht der grundrechtlich geschützten Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG), dass mit erheblichem Aufwand erschaffene Substanzwerte grundsätzlich so lange nicht vernichtet werden dürfen, bis Klarheit darüber herrscht, ob sie erhalten bleiben dürfen. Folglich ist es grundsätzlich geboten, mit der Vollziehung der eine solche Zerstörung vorschreibenden Verfügung zuzuwarten, bis rechtskräftig über die Genehmigungsfähigkeit entschieden ist.
Besondere Umstände, die abweichend vom Vorstehenden ausnahmsweise die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer baurechtlichen Beseitigungsanordnung zu legitimieren vermögen, sind etwa dann gegeben, wenn eine Beseitigung der baulichen Anlage ohne Substanzverlust möglich ist und keine erheblichen Aufwendungen für Entfernung und Lagerung entstehen (in einem solchen Fall geht die Beeinträchtigung für den Betroffenen nicht wesentlich über diejenigen einer Nutzungsuntersagung hinaus) oder wenn nicht erst von der Nutzung der baulichen Anlage, sondern von ihr selbst Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, die ein sofortiges Einschreiten in Form ihrer Beseitigung erfordern (z.B. bei fehlender Standsicherheit). Liegen mehrere derartige Aspekte gleichzeitig nebeneiner vor, so kann gerade diese Parallelität eine besondere Dringlichkeit begründen (so beispielsweise bei Anlagen der Außenwerbung).
540
Hat allerdings das Gericht in derselben Sache die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO bereits angeordnet bzw. wiederhergestellt, so hindert dies die Behörde selbst bei zwischenzeitlicher Änderung der Umstände grundsätzlich daran, ihrerseits nunmehr die sofortige Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO anzuordnen, vgl. § 80 Abs. 7 VwGO. Abweichendes gilt ausnahmsweise dann, wenn die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung allein wegen eines formellen Fehlers erfolgt ist.
541
Liegen sämtliche formellen und materiellen Voraussetzungen vor, die das Gesetz an die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO stellt, so steht es in deren Ermessen, ob sie die Vollziehungsanordnung trifft oder nicht. Dieses kann je nach Ergebnis der Interessenabwägung allerdings dahingehend eingeschränkt sein, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung mit einer Sicherheitsleistung oder Auflage (§ 80 Abs. 5 S. 4 VwGO analog) zu versehen oder – im Fall eines teilbaren Verwaltungsakts – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur in (personell, sachlich und/oder zeitlich) beschränktem Umfang rechtmäßig ist.
542
Hinweis
Bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung stehen sich die widerstreitenden Privatinteressen – das Aufschubinteresse des durch den Verwaltungsakt belasteten Rechtsbehelfsführers (m.a.W.: dessen Interesse an der vorläufigen Aufrechterhaltung des status quo) einerseits und das Interesse des durch diesen Begünstigten an der sofortigen Vollziehung (d.h. am umgehenden Gebrauchmachen von der betreffenden Regelung) andererseits – prinzipiell gleichrangig und -gewichtig gegenüber. Ebenso wie im Rahmen von § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO (Rn. 572) ist dieses Patt auch im vorliegenden Zusammenhang durch ein Abstellen auf die Erfolgsaussicht in der Hauptsache aufzulösen. Ist diese bei summarischer Prüfung negativ, so hat der durch den Verwaltungsakt (z.B. Baugenehmigung, § 74 Abs. 1 S. 1 BauO NRW) Begünstigte mit Blick auf sein in der Sache jeweils betroffenes Grundrecht (z.B. aus Art. 14 Abs. 1 GG) sowie aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) einen Anspruch auf Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde, deren Ermessen folglich i.d.S. reduziert ist (Pflicht zur Anordnung der sofortigen Vollziehung). „Es wäre unbillig, den Begünstigten an dieser Grundrechtsausübung nur deswegen zu hindern, weil ein Dritter den Verwaltungsakt mit einem aussichtslosen Rechtsbehelf angegriffen hat.“Finkelnburg/Dombert/Külpmann Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren Rn. 1095. Das bedeutet, dass im tripolaren (dreipoligen/-seitigen) Verwaltungsrechtsverhältnis – anders als grundsätzlich im bipolaren der Fall (Rn. 539) – die Anordnung der sofortigen Vollziehung kein über das Erlassinteresse hinausgehendes besonderes Vollziehungsinteresse voraussetzt (Rn. 584). Ist die Erfolgsaussicht dagegen offen, so ist zu beachten, dass durch die Anordnung bzw. Verweigerung der sofortigen Vollziehung keine irreparablen Rechtsbeeinträchtigungen entstehen dürfen.Zum gesamten Vorstehenden s. Brühl JuS 1995, 818 (820); Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 200–201; Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1058; Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 78 f.
543
Im Übrigen muss die Anordnung der sofortigen Vollziehung „die Ausnahme bleiben. Eine Verwaltungspraxis, die [das] Regel-Ausnahme-Verhältnis [von § 80 Abs. 1 S. 1 zu § 80 Abs. 2 VwGO] umkehrte, indem [. . .] Verwaltungsakte generell für sofort vollziehbar erklärt würden, wäre mit der Verfassung nicht vereinbar.“BVerfG NVwZ 2009, 240 (241). Insbesondere handelt es sich bei der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung des belastenden Verwaltungsakts um einen selbstständigen Eingriff in das Grundrecht des Betroffenen zumindest aus Art. 2 Abs. 1 GG, was die Durchführung einer gesonderten Verhältnismäßigkeitsprüfung gerade mit Blick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung erfordert. Insoweit ist insbesondere zu prüfen, ob ein Gebrauchmachen vom betreffenden Verwaltungsakt schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt. Allerdings kann sich eine Verpflichtung der Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem EU-Recht ergeben (z.B. einem bestandskräftigen Kommissionsbeschluss, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV), sofern sich diesem im konkreten Fall das Gebot des unverzüglichen Vollzugs entnehmen lässt – und dies aufgrund der Höherrangigkeit des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht selbst dann, wenn die Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO einmal nicht vorliegen sollten. Im Ergebnis wird Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (Suspensiveffekt) damit durch das EU-Recht (Sofortvollzug; vgl. auch Art. 278 S. 1 AEUV) beschränkt.
544
Entscheidet sich die Behörde für die Anordnung der sofortigen Vollziehung, so beseitigt diese ab dem Zeitpunkt ihres Ausspruchs (ex nunc) die bis dahin gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO bestehende aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage. Konkret: Ergeht die Anordnung zusammen mit dem Erlass des Verwaltungsakts, so entfaltet ein gegen diesen erhobener Rechtsbehelf von vornherein keinen Suspensiveffekt; macht die Behörde erst zu einem späteren Zeitpunkt von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO Gebrauch, so entfällt die aufschiebende Wirkung von da an. In beiden Fällen ist der Verwaltungsakt vorläufig „wie ein unanfechtbar gewordener […] zu behandeln: Verfügungen sind zu beachten und können vollstreckt werden (vgl. § 6 Abs. 1 VwVG), bei feststellenden und rechtsgestaltenden Verwaltungsakten stellen sich die in der Regelung vorgesehenen Rechtswirkungen ein, beim Verwaltungsakt mit drittbelastender Doppelwirkung darf der Begünstigte von der getroffenen Regelung (Erlaubnis, Genehmigung, Zulassung etc.) Gebrauch machen.“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 83. Vgl. auch Schmitt Glaeser/Horn Verwaltungsprozessrecht Rn. 270.
545
Beispiel
Nach Budroweit/Wuttke JuS 2006, 876 (879 f.); Geis/Hinterseh JuS 2001, 1176 (1180 f.).Auf Antrag des Nachbarn N hin erlässt die zuständige Behörde gegenüber Hauseigentümer E eine Verfügung, mit der er zum Abriss seines Hauses verpflichtet wird. Gegen diese Verfügung erhebt E Anfechtungsklage.
Da hier kein Fall des § 80 Abs. 2 VwGO vorliegt, hat die Anfechtungsklage des E aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 1 S. 2 i.V.m. S. 1 VwGO. Während dieser Suspensiveffekt andauert, braucht E die Verfügung nicht zu befolgen und darf die Behörde diese nicht zwangsweise durchsetzen. Um den Abriss des Hauses zu beschleunigen, könnte N einen Antrag nach § 80a Abs. 2 i.V.m. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO bei der Behörde – oder nach § 80a Abs. 3 S. 1 VwGO unmittelbar bei Gericht – auf Anordnung der sofortigen Vollziehung stellen.
III. § 80 Abs. 4 VwGO
546
Entfalten Widerspruch und Anfechtungsklage abweichend vom Grundsatz des § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO gem. § 80 Abs. 2 VwGO ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung – sei es kraft Gesetzes oder besonderer Anordnung (Rn. 515 ff.) –, so räumt § 80 Abs. 4 VwGO der Behörde die Möglichkeit ein, die Vollziehung auszusetzen und damit den gesetzlichen Regelfall der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage (wieder-)herzustellen („Negation der Negation“Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 22.). Ebenso wie ihr „Gegenstück“, die Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO, ist auch die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO kein Verwaltungsakt (Rn. 529), sondern ein unselbstständiger Annex. Gegen eine ablehnende Behördenentscheidung ist gerichtlicher Rechtsschutz daher nur über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 (Rn. 551 ff.) bzw. § 80a Abs. 3 VwGO zu erlangen.
547
Die Voraussetzungen, unter denen ein nach § 80 Abs. 4 VwGO gestellter Antrag auf behördliche Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsakts zulässig ist, entsprechen weitgehend denjenigen seines gerichtlichen Pendants nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO und sind daher auch im vorliegenden Zusammenhang zu prüfen (v.a. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, Statthaftigkeit, Antragsbefugnis; Rn. 553 ff.). Zuständig für die Aussetzung der Vollziehung ist, soweit bundesgesetzlich nicht etwas anderes bestimmt ist, entweder die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, § 80 Abs. 4 S. 1 VwGO. Das insoweit zu § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO Gesagte (Rn. 530) gilt auch hier.
548
Die im Rahmen der Begründetheitsprüfung vorzunehmende Interessenabwägung ist entsprechend den zu § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO entwickelten Grundsätzen durchzuführen (Rn. 568 ff.), wobei § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO eine Sonderregelung hinsichtlich der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO (Rn. 517 ff.) trifft. Bei diesen „soll“ die Aussetzung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (z.B. Bedrohung der beruflichen Existenz).
549
Sind die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt, so „kann“ (Ermessen) die Behörde die Vollziehung – mit Wirkung ex nunc oder ex tuncEnthält die jeweilige Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO keine zeitliche Bestimmung, so gilt sie „nicht rückwirkend, sondern […] allein für die Zukunft“, OVG Magdeburg NVwZ-RR 2012, 384 m.w.N. – aussetzen, bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten auch gegen Sicherheit, § 80 Abs. 4 S. 2 VwGO. Darüber hinaus kann sie analog § 80 Abs. 5 S. 4 VwGO aber auch in sonstigen Fällen die Aussetzung der Vollziehung von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig machen sowie entsprechend § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO die Aufhebung einer etwaig bereits erfolgten Vollziehung des Verwaltungsakts anordnen (Rn. 561). Was die Dauer der Aussetzung der Vollziehung anbelangt, so verfügt die Behörde über zwei Möglichkeiten: „Zum einen die einfache Vollziehungsaussetzung, die nach der Regel des § 80b Abs. 1 S. 1 und S. 2 Hs. 1 [VwGO] endet, und zum anderen die Aussetzung der Vollziehung bis zur Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts (vgl. § 80b Abs. 1 S. 2 letzter Hs. [VwGO]).“Schmitt Glaeser/Horn Verwaltungsprozessrecht Rn. 273.
550
Beispiel
Nach Budroweit/Wuttke JuS 2006, 876 (878 f.); Erbguth JA 2008, 357 (362); Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 166; Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 599.Auf Antrag des Bauherrn B hin wird diesem von der zuständigen Behörde eine Baugenehmigung nach § 74 Abs. 1 S. 1 BauO NRW erteilt. Gegen diese erhebt Nachbar N Anfechtungsklage (der Widerspruch ist vorliegend nicht statthaft), welche gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Um das Bauvorhaben des B dennoch vorläufig zu stoppen, kann N gem. § 80a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 i.V.m. § 80 Abs. 4 VwGO einen Antrag bei der Behörde – oder nach § 80a Abs. 3 VwGO unmittelbar beim VG – auf Aussetzung der Vollziehung stellen. Zudem kann N zur Sicherung seiner Rechte gem. § 80a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 VwGO einen Antrag bei der Behörde auf Erlass einer Stilllegungsverfügung stellen.
IV. § 80 Abs. 5 VwGO
551
Haben Widerspruch oder Anfechtungsklage abweichend von § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufgrund von § 80 Abs. 2 VwGO ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung (Rn. 515 ff.), so kann das Gericht der Hauptsache gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a, S. 2 VwGO ganz oder teilweise anordnen bzw. im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen.
552
Das Verfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist ein eigenständiges Rechtsschutzverfahren, das namentlich im Fall des behördlich gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordneten Sofortvollzugs auch Elemente eines Rechtsbehelfsverfahrens innerhalb des vorläufigen Rechtsschutzes aufweist. Ein nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO gestellter Antrag hat Erfolg, wenn er zulässig (Rn. 553 ff.) und begründet (Rn. 568 ff.) ist.Ein Fallbeispiel hierzu findet sich bei Wienbracke NWVBl 2018, 302. Im Fall einer kumulativen Antragshäufung findet § 44 VwGO entsprechende Anwendung (Rn. 49 ff.).
1. Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
a) Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
553
Die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz durch die VGe nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO setzt voraus, dass der Rechtsweg zu ihnen eröffnet ist. Insofern wird auf die Ausführungen in Rn. 53 ff. zum Hauptsacheverfahren verwiesen. Ob die dort erwähnte Verweisungsvorschrift des § 17a Abs. 2 S. 1 GVG auch im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes Anwendung findet, ist allerdings streitig.Nachweise zum Streitstand bei Kopp/Schenke VwGO Anh § 41 Rn. 2a, der wie Koehl JA 2016, 610 (616) selbst eine a.A. vertritt. Während dies z.T. insbesondere unter Hinweis auf die Eilbedürftigkeit verneint wird, weist die wohl h.M. u.a. auf § 17a Abs. 2 S. 2 GVG hin, der neben dem „Kläger“ ausdrücklich auch den „Antragsteller“ erwähnt.
b) Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
554
In Abgrenzung zum vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO (Rn. 591 ff.) ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO immer dann statthaft, wenn der Antragsteller die gerichtliche Anordnung (Fälle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3a, S. 2 VwGO) bzw. Wiederherstellung (Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO) der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage begehrt, d.h. es ihm um die Suspendierung eines belastenden Verwaltungsakts geht – und zwar auch dann, wenn dieser bereits vollzogen ist, vgl. § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO (Rn. 561). Mitunter (Hummel JuS 2011, 317 [320]) wird dieser Aspekt erst im Rahmen des Allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses (Rn. 567) geprüft. Wie hier dagegen Brühl JuS 1995, 722 (723). Dies ist nach der in Rn. 491 erwähnten „Faustformel“ regelmäßigZu Sonderfällen s. Herbolsheimer JuS 2024, 24 (25). dann der Fall, wenn in der Hauptsache die Anfechtungsklage die statthafte Klageart ist (Rn. 126 ff.; zum faktischen Vollzug siehe Rn. 559). U.U. ist der Antrag nach § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO analog auszulegen. Insbesondere kann ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO in einen solchen nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO – und umgekehrt – umzudeuten sein (vgl. Rn. 36 ff.). Veranlassung hierzu besteht in der Praxis nicht selten. Entsprechendes gilt innerhalb von § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO im Verhältnis des Antrags nach dessen Alt. 1 („Anordnung“ der aufschiebenden Wirkung) zum Antrag nach dessen Alt. 2 („Wiederherstellung“ der aufschiebenden Wirkung), s. Übungsfall Nr. 7.Zum Vorgehen bei einem Verwaltungsakt mit Drittwirkung s. die 1. Auflage dieses Skripts, Rn. 303.
Beispiel
Nach OVG Schleswig BeckRS 2023, 32543.Anwohner A hat in zulässiger Weise Widerspruch gegen die dem B erteilte Baugenehmigung erhoben. Nachfolgend hat A beim zuständigen VG einen Antrag auf Gewährung von Eilrechtsschutz gestellt. In diesem beantragt er wörtlich „festzustellen, dass der gegen die dem B erteilte Baugenehmigung erhobene Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.“ In der Antragsbegründung nimmt A u.a. auf § 212a Abs. 1 BauGB und die Bedeutung dieser Vorschrift für die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs Bezug.
Das VG würde das Antragsbegehren des A unter Verstoß gegen § 88 i.V.m. § 122 Abs. 1 VwGO nicht zutreffend erfassen, wenn es den Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung ohne die gebotene Auslegung auf seinen Wortlaut beschränken würde. Zwar darf das Gericht nach § 88 VwGO nicht über das Klagebegehren hinausgehen; doch ist es an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Vielmehr hat es das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Relevant für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, v.a. der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit gelten die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze der §§ 133, 157 BGB entsprechend. Maßgebend ist danach der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt dagegen hinter deren Sinn und Zweck zurück. Ist der Kläger im Verwaltungsprozess rechtsanwaltlich vertreten, so kommt der Fassung des Klageantrags bei der Ermittlung des tatsächlich Gewollten zwar eine gesteigerte Bedeutung zu. Sofern allerdings das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung eindeutig abweicht, darf auch insoweit die Auslegung vom Antragswortlaut abweichen. Das gilt nach § 122 Abs. 1 VwGO ebenfalls für Verfahren, die – wie vorliegend der Fall – durch Beschluss zu entscheiden sind. Danach darf das VG den Feststellungsantrag des A nicht wörtlich nehmen, sondern muss ihn vielmehr im Sinne des tatsächlichen Begehrens auslegen. Insofern wird aus der Antragsschrift nämlich deutlich, dass das Antragsbegehren darauf gerichtet ist, dass der Widerspruch gegen die Baugenehmigung aufschiebende Wirkung entfalten und diesbezüglich eine entsprechende Wirkung durch das Gericht angeordnet werden soll. Dies folgt insbesondere daraus, dass in der Antragsbegründung selbst auf § 212a Abs. 1 BauGB und dessen Bedeutung für eine aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs Bezug genommen wird. A hat mithin durchaus erkannt, dass sein Widerspruch kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat, weshalb der Antrag abweichend vom Wortlaut mit Blick auf das Antragsziel nach § 88 VwGO allein so ausgelegt werden kann, dass A die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs durch das VG begehrt, um auf diese Weise dem gesetzlich vorgesehenen Entfall des Suspensiveffekts entgegenzuwirken. Eine gegenteilige Sichtweise, wonach A analog § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO die Feststellung einer auch ohne gerichtliche Anordnung bestehenden aufschiebenden Wirkung begehrte, würde daher nicht verfangen.
555
Expertentipp
Da der vorläufige Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO gegenüber demjenigen nach § 80 Abs. 5 VwGO subsidiär ist (§ 123 Abs. 5 VwGO), ist in der Klausurbearbeitung die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO stets vor derjenigen des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO zu prüfen.Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 146.
Voraussetzung für die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist mithin, dass
556
• | ein Verwaltungsakt vorliegt. Vorbeugender vorläufiger Rechtsschutz gegen einen lediglich „drohenden“ Verwaltungsakt vermag dagegen allenfalls über § 123 Abs. 1 VwGO erlangt zu werden (Rn. 182, 378). Auch darf der Verwaltungsakt noch nicht unanfechtbar sein. Denn Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen infolge Ablaufs der Frist des § 70 bzw. § 74 Abs. 1 VwGO formell bestandskräftigen Verwaltungsakt lösen keine aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO aus (Rn. 507), die vom Gericht gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO angeordnet bzw. wiederhergestellt werden könnte. Im Übrigen wird auf die Ausführungen in Rn. 129 ff. verwiesen; |
557
• | der Verwaltungsakt muss entweder kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3a, S. 2 VwGO; Rn. 516 ff.) oder behördlicher Anordnung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO; Rn. 528 ff.) sofort vollziehbar sein; |
558
• | zudem wird teilweiseSchoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 105 f.; Koehl JA 2016, 610 (616). noch verlangt, dass der in der Hauptsache statthafte Rechtsbehelf spätestens im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO eingelegt sowie nicht zurückgenommen ist – was mitunterGersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 155, 193. Wie hier: Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1069. freilich erst im Rahmen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses geprüft wird (Rn. 567). Denn ohne die Existenz eines Widerspruchs (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO) bzw. – in den Fällen des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO (Rn. 306 ff.) – einer AnfechtungsklageIst diese im Zeitpunkt der Stellung des „80-5er-Antrags“ noch nicht erhoben, so lautet dieser auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer noch zu erhebenden Anfechtungsklage, s. Proppe JA 2004, 324. könne dessen bzw. deren aufschiebende Wirkung schon rein begriffsnotwendig weder angeordnet noch wiederhergestellt werden; es fehle am erforderlichen Bezugspunkt. Die diese Auffassung verneinende GegenansichtSchenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1069. Vgl. auch BVerfG NJW 1993, 3190 unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG. beruft sich v.a. auf § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO, wonach „der Antrag [. . .] schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig“ ist; Entsprechendes müsse ebenfalls für einen vor Erhebung des Widerspruchs gestellten Antrag gelten. Zu überzeugen vermag dieses Argument letztlich allerdings nicht. Denn § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO, der den Regelfall des § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO voraussetzt, ist richtigerweise so zu verstehen, dass der Antrag gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO im Fall der Zurückweisung des – bereits erhobenen (!) – Widerspruchs durch die Behörde noch vor Erhebung der Klage in der Hauptsache gestellt werden kann. Zur Entkräftung des weiteren Arguments der Gegenmeinung, dass nämlich bei anderer Sichtweise die Rechtsbehelfsfristen in der Hauptsache verkürzt würden, wird vorgebracht, dass demjenigen, der einen Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO stellt, auch die kurzfristige Einlegung des in der Hauptsache statthaften Rechtsbehelfs typischerweise ohne weiteres zumutbar sei.Vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren Rn. 945 f. A.A. Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 607. |
559
Mangels Vorliegens eines sofort vollziehbaren Verwaltungsakts an sich unstatthaft ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auf gerichtliche Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung folglich dann, wenn der eingelegte Rechtsbehelf (Widerspruch oder Anfechtungsklage) bereits kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 1 S. 1 VwGO) Suspensiveffekt entfaltet (Rn. 500 ff.), dieser von der Behörde tatsächlich allerdings missachtet wird (z.B. durch das Ergreifen von Vollziehungs- oder gar Vollstreckungsmaßnahmen).Gründe hierfür können sein: die Behörde bejaht fälschlich einen Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3a, S. 2 VwGO (Rn. 515 ff.), Umfang und Reichweite des Suspensiveffekts werden bewusst missachtet oder sind umstritten (Rn. 509 ff.), ebenso wie im konkreten Fall etwa die Zulässigkeit des dort eingelegten Rechtsbehelfs (Rn. 507), siehe Schübel-Pfister JuS 2017, 1078 (1082) m.w.N. Aber auch gegenüber einer solchen faktischen Vollziehung fordert Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG vorläufigen Rechtsschutz – und zwar ebenfalls dann, wenn diese erst droht (was z.B. in der nicht an die Bestandskraft bzw. Unanfechtbarkeit anknüpfenden Formulierung zum Ausdruck kommt, dass der im angefochtenen Bescheid festgesetzte Betrag „innerhalb von vier Wochen zu entrichten“ seiVGH München NVwZ-RR 2020, 619.). Auf welchem Wege Letzterer zu erlangen ist, ist in Ermangelung einer diese Fallkonstellation unmittelbar erfassenden einfachgesetzlichen Vorschrift jedoch umstritten. Unter Hinweis darauf, dass es in der Hauptsache um einen mittels der allgemeinen Feststellungs- bzw. Leistungsklage geltend zu machenden Unterlassungsanspruch gehe, wird teilweiseOVG Bremen NVwZ 1986, 59 (61) m.w.N. die Auffassung vertreten, dass insofern der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft sei (Rn. 493, 591 ff.). Demgegenüber weist die h.M.S. nur VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 463 (464); Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1094 m.w.N. zutreffend darauf hin, dass vorläufiger Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Anfechtungsklage ausschließlich über die speziellen §§ 80, 80a VwGO zu erlangen ist, vgl. § 123 Abs. 5 VwGO. Die sich aus § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ergebende Befugnis des Gerichts, die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage anzuordnen bzw. wiederherzustellen, umfasst als „Minus“ erst recht die Möglichkeit, den objektiv bereits bestehenden Suspensiveffekt lediglich festzustellen.Zum argumentum a maiore ad minus s. im Skript „Juristische Methodenlehre“ Rn. 180 ff. Dort (Rn. 228 ff.) auch zu der von einer a.A. (Nachweise bei Gersdorf in: Posser/Wolff, VwGO § 80 Rn. 158) im vorliegenden Zusammenhang befürworteten analogen Anwendung von § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO. Liegt objektiv ein Fall des faktischen Vollzugs vor, wurde bei Gericht aber gleichwohl die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragt, kommt eine Umdeutung des Antrags in einen solchen auf deren gerichtliche Feststellung in Betracht.
560
Beispiel
Nach Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 29 Rn. 42, 52, 59, 87, 94.In dem in Rn. 523 gebildeten Beispielsfall ist B der Auffassung, dass E die Kostenforderung sofort begleichen müsse. Nach Meinung des E entfalte sein Widerspruch dagegen mangels Einschlägigkeit insbesondere weder von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO noch von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. dem jeweiligen Landesrecht gem. § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung.
Zur Klärung der umstrittenen Rechtslage kann E gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO (ggf. analog) beim VG die Feststellung beantragen, dass der von ihm erhobene Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.
561
Ist der Verwaltungsakt (z.B. polizeiliche Sicherstellung eines Gegenstands in Anwesenheit des Betroffenen) im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen (z.B. durch Inbesitznahme), so kann das Gericht gem. § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO auf weiteren Antrag hin die Aufhebung der Vollziehung anordnen (z.B. Herausgabe des Gegenstands). Dabei umfasst dieser Begriff vorliegend nicht nur die zwangsweise Durchsetzung des Verwaltungsakts durch die Behörde, sondern auch dessen freiwillige Befolgung durch den Adressaten. Gestellt werden kann dieser Annexantrag auf vorläufige Rückgängigmachung der unmittelbaren Vollzugsfolgen nicht isoliert, sondern nur zusammen mit dem Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung – wovon im Zweifel allerdings auszugehen ist (vgl. Rn. 36 ff.). Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen bestehen im Hinblick auf den Antrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO nicht.
c) Zuständiges Gericht
562
Zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO das Gericht der Hauptsache (Rn. 220 ff.). Vor Erhebung der Klage ist dies dasjenige Gericht, das zur Entscheidung über die künftige Klage sachlich, instanziell und örtlich zuständig wäre und nach Klageerhebung dasjenige Gericht, bei dem das Hauptsacheverfahren anhängig ist. Zur im vorliegenden Zusammenhang umstrittenenNachweise zu den insofern vertretenen Meinungen bei Hummel JuS 2011, 413 (416). Anwendbarkeit von § 83 S. 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG vgl Rn. 553.
d) Beteiligten- und Prozessfähigkeit
563
Die Beteiligten- und Prozessfähigkeit von Antragsteller (nicht: Kläger) und Antragsgegner (nicht: Beklagter) richten sich nach §§ 61 f. VwGO (Rn. 231 ff.).
e) Antragsbefugnis
564
Analog § 42 Abs. 2 VwGO muss der Antragsteller antragsbefugt sein, d.h. es muss die Möglichkeit bestehen, dass er durch den (Vollzug des) Verwaltungsakt(s),Eine Trennung zwischen der Rechtsverletzung durch den Verwaltungsakt und dessen Vollzug ist „logisch und faktisch kaum denkbar“, Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 34. bzgl. dessen die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage angeordnet bzw. wiederhergestellt werden soll, in einem seiner subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt wird. Die in Rn. 248 ff. gemachten Ausführungen gelten insofern entsprechend. Beim Antrag eines Drittbetroffenen i.S.v. § 80a VwGO kommen allein drittschützende Normen in Betracht.
Expertentipp
Bzgl. der Antragsbefugnis wird für entsprechend gelagerte Fälle folgende Formulierung empfohlen: „Der Antragsteller ist als Adressat des belastenden Verwaltungsakts möglicherweise durch die Vollziehung des Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt.“Herbolsheimer JuS 2024, 24 (26).
f) Richtiger Antragsgegner
565
Wer der richtige Gegner des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist, ergibt sich aus der analogen Anwendung von § 78 VwGO (Rn. 283 ff.).
g) Antragsfrist
566
Sofern das jeweils einschlägige Fachrecht keine abweichende Regelung trifft (so aber z.B. § 58a Abs. 4 S. 2 AufenthG, § 36 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 AsylVfG, § 17e Abs. 2 S. 1, § 18f Abs. 6a S. 2 FStrG), ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO nicht fristgebunden. D.h., er kann prinzipiell vom Erlass des Verwaltungsakts an bis zum Eintritt von dessen Bestandskraft gestellt werden. Ist jedoch die Widerspruchs- bzw. Anfechtungsfrist nach § 70 bzw. § 74 Abs. 1 VwGO in Bezug auf den Verwaltungsakt, bzgl. dessen die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung begehrt wird, abgelaufen, so ist der Antrag bereits nicht statthaft (Rn. 556).
h) Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
567
Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, das auch für die Zulässigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO erforderlich und bei Vorliegen der übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen regelmäßig zu bejahen ist, fehlt namentlich dann, wenn Widerspruch bzw. Anfechtungsklage aufgrund ihrer offensichtlichen Unzulässigkeit ohnehin keine aufschiebende Wirkung entfalten (Rn. 507; speziell zu deren – im Rahmen von § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO mithin inzidenter zu prüfender – Verfristung s. Rn. 566). Zudem liegt das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ebenfalls dann nicht vor, wenn die begehrte gerichtliche Eilentscheidung für den Antragsteller von vornherein nutzlos erscheint, weil die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu keiner Verbesserung der Rechtsstellung des Antragstellers führen könnte.BVerfG BeckRS 2020, 13383, Rn. 14 m.w.N. Darüber hinaus soll das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO auch dann fehlen, wenn die Behörde erklärt, den Verwaltungsakt bis zur Entscheidung über den in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelf nicht zu vollziehen.Kopp/Schenke VwGO § 80 Rn. 136 m.w.N. Demgegenüber entfällt das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis im Fall der faktischen Vollziehung nicht dadurch, dass der Antragsteller unter dem Druck drohender Vollstreckung dieser durch „freiwillige“ Zahlung („unter Vorbehalt“) zuvorkommt.VGH München NVwZ-RR 2020, 619. Wie sich im Umkehrschluss aus § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO ergibt, wonach „[i]n den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 […] der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig [ist], wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat",Bei diesem Erfordernis handelt es sich nicht um eine (nachholbare) Zulässigkeits-, sondern vielmehr um eine Zugangsvoraussetzung (Rn. 42), die bei Stellung des Eilantrags vorliegen muss und deren Fehlen mangels Heilbarkeit zur Unzulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO führt. Hierzu in Bezug auf § 80a VwGO siehe Koehl JA 2016, 610 (617). bedarf es mit Ausnahme der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten i.S.v. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO (Rn. 516 ff.) – § 80 Abs. 6 S. 2 VwGO normiert freilich auch insoweit wieder Ausnahmen – vor der Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO beim VG nicht der erfolglosen Beantragung der Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde gem. § 80 Abs. 4 VwGO.
2. Begründetheit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
568
Im Gegensatz beispielsweise zu § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, der bestimmt, dass das Gericht den mit der Anfechtungsklage angegriffenen Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid aufhebt, soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, enthält § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO keine ausdrückliche Regelung dazu, unter welchen Voraussetzungen der Antrag auf gerichtliche Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung begründet ist („Problem der Maßstabsbildung“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 135.). Gleichwohl ist das Gericht bei der von ihm nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO zu treffenden eigenständigen (originären) Ermessensentscheidung („kann“) keineswegs etwa völlig frei, sondern ist diese vielmehr am Zweck dieser Vorschrift sowie an Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auszurichten (Rn. 488 ff., 500). Hieraus wird gemeinhin gefolgert, dass Entscheidungsmaßstab für die Prüfung der Begründetheit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO letztlich eine Abwägung des Aussetzungsinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts ist.
569
Auch im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (Rn. 528 ff.) ist das Gericht nicht lediglich auf eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung beschränkt, sondern es hat – sofern diese rechtmäßig ist – eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen.Das bedeutet, dass auch erst vom Gericht ermittelter Sachverhalt zu berücksichtigen ist. Umgekehrt ist die aufschiebende Wirkung dann wieder herzustellen, wenn das ursprünglich vorhandene besondere öffentliche Vollzugsinteresse zwischenzeitlich wieder entfallen ist. Zutreffend weist Proppe JA 2004, 324 (325) darauf hin, dass es falsch ist, die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung auf materielle Fehler hin zu überprüfen. Denn „die Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit ist von der in jedem Fall zu treffenden Abwägungsentscheidung nicht weiter zu differenzieren“, Engelbrecht JA 2006, 789 (793). Vgl. auch Koehl JA 2016, 610 (617). A.A. etwa Zacharias JA 2002, 345 (346 f.) m.w.N.; Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2016, 1079 (1081). Hieraus folgt, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO dann begründet ist, wenn
• | entweder die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO formell rechtswidrig ist (Rn. 528 ff.) oder |
• | das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Verwaltungsakts überwiegt (siehe Übungsfall Nr. 7). |
570
Ist die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung formell fehlerhaft (z.B. wegen Verstoßes gegen das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO; Rn. 534 ff.), so ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO allein deshalb schon, d.h. unabhängig von einer Interessenabwägung, begründet (Rn. 538). Allerdings soll dieser Verstoß nach umstrittenerS. nur Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1078 m.w.N. RechtsprechungEtwa VGH Mannheim DÖV 2011, 984. nicht zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, sondern lediglich zur – in § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO freilich nicht ausdrücklich vorgesehenen – isolierten Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung führen. „Die bloße Aufhebung der Vollziehungsanordnung der Behörde durch das Gericht soll, ausgerichtet an der Erkenntnis, dass lediglich ein Verstoß gegen das formelle Begründungserfordernis vorliegt, es der Behörde ersparen, einen Antrag auf Änderung des Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO gem. § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen und die Behörde (erneut) in die Lage versetzen, die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts anzuordnen.“VGH Mannheim DÖV 1996, 839. Letztlich nützt dem Antragsteller ein bloßer Begründungsfehler daher nicht viel.
571
Im Fall des faktischen Vollzugs (Rn. 559) ist der analog § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO gestellte Antrag auf verwaltungsgerichtliche Feststellung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs bereits dann begründet, wenn der jeweilige Widerspruch bzw. die jeweilige Anfechtungsklage Suspensiveffekt hat. Einer Interessenabwägung bedarf es insoweit nicht mehr.
572
573
Expertentipp
Da Ausbildungs- und Prüfungsarbeiten auf Grundlage des jeweils mitgeteilten (bekannten) Sachverhalts zu lösen sind und die rechtliche Prüfung nach dem Vorstehenden prinzipiell gerade nicht nur eine kursorische ist, ergeben sich aus dem Schlagwort der „summarischen Prüfung“ für die studentische Fallbearbeitung keine praktischen Unterschiede zwischen der im Rahmen von § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO vorzunehmenden Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts gegenüber derjenigen, die bei einer Anfechtungsklage erfolgt (Rn. 392 ff.).
Brühl JuS 1995, 722 (725); Erbguth JA 2008, 357 (361); Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 157, 198; Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2016, 1079 (1081).Ergibt die danach v.a. durchzuführende Überprüfung des Verwaltungsakts, dass
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• | dieser rechtswidrig ist und den Antragsteller in dessen subjektiv-öffentlichen Rechten (Rn. 255 ff.) verletzt, so ist dem Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung grundsätzlich ohne weiteres stattzugeben. An der (sofortigen) Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts besteht nämlich kein (besonderes) öffentliches Interesse. Abweichendes gilt nach dem nunmehr in § 80c Abs. 2 S. 1, 2 VwGO positivierten Rechtsgedanken jedoch ausnahmsweise dann, wenn absehbar ist, dass ein formeller Fehler (z.B. fehlende Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG), sofern dieser überhaupt beachtlich ist (§ 46 VwVfG), geheilt wird (z.B. gem. § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG) bzw. fehlende Ermessenserwägungen in zulässiger Weise ergänzt werden, vgl. § 114 S. 2 VwGO (Rn. 407 ff.); |
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Hinweis
Beruht die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts darauf, dass die zugrundeliegende Ermächtigungsgrundlage des nationalen Rechts mit
• | dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, so sind die VGe – abweichend vom Hauptsacheverfahren (Rn. 403) – nach umstr. AuffassungMeinungsüberblick bei Schenke JuS 2017, 1141 (1143 ff.) m.w.N. nicht etwa durch Art. 100 Abs. 1 GG daran „gehindert […], auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz (hier: gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO) zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird.“BVerfGE 86, 382 (389). Denn bei bloßen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formellen nachkonstitutionellen Gesetzes ist Art. 100 Abs. 1 GG, der die Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit verlangt, schon gar nicht anwendbar. Doch selbst wenn Letztere vorliegen sollten, gebührt Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG angesichts des die Effektivität des Rechtsschutzes gefährdenden Zeitaufwands für die Durchführung der konkreten Normenkontrolle Vorrang im Konflikt mit Art. 100 Abs. 1 GG.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1082; Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 139. Im Ergebnis ist damit erforderlich, dass das VG die betreffende nationale Rechtsnorm (in einem nachkonstitutionellen Parlamentsgesetz, s.o.) für evident verfassungswidrig erachtet, damit es diese im Eilverfahren nicht anwendet;VG München BeckRS 2023, 18752, Rn. 34 m.w.N. |
• | europäischem Unionsrecht nicht vereinbar ist, so haben die deutschen Gerichte effektiven Rechtsschutz nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften (hier: § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO) zu gewährleisten.Vgl. auch OVG Saarlouis NVwZ 2007, 717. „Dabei dürfen die Verfahrensmodalitäten […], die den Schutz der den Einzelnen aus dem [Unions-]recht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche [Rechtsbehelfe] (Grundsatz der Gleichwertigkeit) und die Ausübung der durch die [Unions-]rechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)“EuGH NJW 2007, 3555 (3556 f.) – Unibet., vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV (effet utile). |
Handelt es sich bei der Ermächtigungsgrundlage für den Verwaltungsakt nicht um eine Vorschrift des nationalen Rechts, sondern um eine unmittelbar anwendbare Norm des europäischen Sekundärrechts (z.B. Verordnung, Art. 288 Abs. 2 AEUV), so kann das mitgliedstaatliche Gericht, welches diese etwa wegen Verstoßes gegen die Grundfreiheiten der Art. 28 ff. AEUV für EU-primärrechtswidrig hält, der in Anlehnung an die Art. 278 f. AEUV ergangenen EuGH-RechtsprechungS. die weiteren Nachweise bei OVG Lüneburg DÖV 2012, 652. zufolge die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nur dann gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO anordnen bzw. wiederherstellen,
• | „wenn es erhebliche „Dieser Maßstab […] begegnet als solcher […] keinen verfassungsrechtlichen Bedenken“, BVerfG NVwZ 2004, 1346 (1347) in Bezug auf § 123 VwGO. Zweifel an der Gültigkeit der [EU-]Verordnung hat und |
• | die Frage dieser Gültigkeit [vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV], sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befaßt ist, diesem selbst vorlegt [und zwar auch im Fall des Art. 267 Abs. 2 AEUV]; |
• | wenn die Entscheidung dringlich ist und dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht und |
• | wenn das Gericht das Interesse der [EU] angemessen berücksichtigt.“EuGH NVwZ 1991, 460 (461) – Zuckerfabrik Süderdithmarschen in Bezug auf § 69 Abs. 3 FGO. Kompetenzrechtliche Bedenken an dieser Rechtsprechung äußert Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 140 m.w.N. |
Liegen diese Voraussetzungen vor, so darf das VG die aufschiebende Wirkung des gegen den Verwaltungsakt eingelegten Rechtsbehelfs bereits vor einer Entscheidung des EuGH über die Gültigkeit des betreffenden EU-Sekundärrechtsakts anordnen bzw. wiederherstellen.Detterbeck Allgemeines Verwaltungsrecht Rn. 1512. Umgekehrt darf es einem Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO dann nicht stattgeben, wenn die Behörde die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO deshalb angeordnet hat, weil sie hierzu EU-rechtlich verpflichtet ist (Rn. 543).Detterbeck Allgemeines Verwaltungsrecht Rn. 1514 unter Hinweis auf EuGH EuZW 2007, 56 – Kommission/Frankreich.
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• | dieser rechtmäßig ist, so ist wie folgt zu differenzieren:
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Expertentipp
Im Hinblick auf die Fallbearbeitung wird folgender Obersatz für die Prüfung der Begründetheit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO empfohlen: „Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 S. 1 [Alt.] 1 VwGO ist begründet, wenn das Gericht im Rahmen einer eigenen Interessenabwägung zu dem Ergebnis kommt, dass das private Aussetzungsinteresse gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse überwiegt. Da der Gesetzgeber in Konstellationen wie hier grundsätzlich vom Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses ausgeht, kann ein Überwiegen des privaten Aussetzungsinteresses nur dann angenommen werden, wenn sich der angegriffene VA bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist, da der Vollzug eines rechtswidrigen VA nicht im öffentlichen Interesse liegen kann. Insoweit hat das Gericht seiner Interessenabwägung die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zugrunde zu legen.“Herbolsheimer JuS 2024, 24 (29).
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Expertentipp
Im Hinblick auf die Fallbearbeitung wird folgender Obersatz für die Prüfung der Begründetheit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO empfohlen: „Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 S. 1 [Alt.] 2 VwGO ist begründet, wenn die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht und/oder das Gericht im Rahmen einer eigenen Interessenabwägung zu dem Ergebnis kommt, dass das private Aussetzungsinteresse gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist der Fall, wenn sich der angegriffene VA bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist, da der Vollzug eines rechtswidrigen VA nicht im öffentlichen Interesse liegen kann. Erweist sich der VA hingegen als rechtmäßig, vermag das private Aussetzungsinteresse nur dann zu überwiegen, wenn es an dem nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO erforderlichen besonderen Vollzugsinteresse fehlt.“Herbolsheimer JuS 2024, 24 (30).
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• | dessen Rechtmäßigkeit offen ist (non liquet bzw. „Pattsituation“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 130.), so ist eine von der Erfolgsaussicht im Hauptsacheverfahren unabhängige Abwägung zwischen Aufschub- und Vollzugsinteresse vorzunehmen, was mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG grundsätzlich in Einklang steht. Diese Interessenabwägung ist zwar „gesetzlich vorstrukturiert, aber nicht präjudiziert“, erübrigt sich doch trotz der nachfolgend aufgezeigten Wertung des Gesetzgebers die im Rahmen von § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO bei offenem Ausgang des betreffenden Rechtsbehelfs durchzuführende Interessenabwägung nicht.BVerwG NVwZ 2005, 689 (690). |
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Kriterien für die demnach sowohl im Rahmen von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a, S. 2 VwGO (Rn. 580) als auch von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO (Rn. 581) ggf. erforderliche Abwägung des Aussetzungsinteresses des Rechtsschutzsuchenden mit dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts (zweite Prüfungsebene) sind namentlich das Gewicht der durch diesen tangierten Rechtsgüter sowie die Schwere der ihnen drohenden Beeinträchtigung (z.B. Schaffung vollendeter Tatsachen). M.a.W.: Zunächst sind – wie bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung i.e.S.Dazu s. im Skript „Allgemeines Verwaltungsrecht“ Rn. 245. – die sich gegenüberstehenden Interessen zu benennen und sodann zu bewerten. „Im Wege der sog. ,Doppelfiktion‘ [‚Folgenabwägung‘Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 130 unter Hinweis auf § 32 BVerfGG. Hierzu s. etwa BVerfG NVwZ 2005, 927 (928); NVwZ 2018, 1467 (1468). Vgl. nunmehr auch § 80c Abs. 3 S. 1 VwGO: „Vollzugsfolgenabwägung“.] ist hier zu fragen:
• | Was wäre, wenn [der Verwaltungsakt] sofort vollzogen würde, die Klage letztlich aber erfolgreich bliebe? |
• | Was wäre, wenn die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt würde, die Klage sich aber als erfolglos erwiese? |
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Die Entscheidung muss dann zugunsten desjenigen ausgehen, dessen Belange härter berührt sind als die der übrigen Beteiligten.“Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 39. Dabei sind „die verschiedenen für die Interessenabwägung maßgeblichen Faktoren [. . .] untereinander ausgleichsfähig“, d.h. sie bilden ein „bewegliches System“.Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1081. Gibt es danach also durchaus „Fälle, in welchen trotz des grundsätzlichen Vorrangs des Vollziehungsinteresses bei kraft Gesetzes angeordneten Sofortvollzugs das Suspensivinteresse des Betroffenen überwiegt“BVerfG NVwZ 2007, 1304 (1303)., so schlägt „[d]er Rechtsschutzanspruch […] umso stärker zu Buche und darf umso weniger zurückstehen, je schwerer die dem Einzelnen auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken“BVerwG NVwZ 2005, 689 (690). Vgl. auch BVerfGE 35, 382 (402). („Je-desto-Formel“Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 614.). Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass der öffentlichen Hand – bzw. in den Fällen des § 80a VwGO dem durch den Verwaltungsakt mit Drittwirkung Begünstigten – bei späterem Obsiegen in der Hauptsache kein Schadensersatzanspruch gegen den im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO erfolgreichen Antragsteller zusteht (kein Haftungsrisiko für den durch die aufschiebende Wirkung Begünstigten). Anders als § 123 Abs. 3 VwGO (Rn. 637) verweisen §§ 80, 80a VwGO nämlich nicht auf § 945 ZPO und auch eine Analogie hierzu wird überwiegendKopp/Schenke VwGO § 80 Rn. 208 m.w.N. Nachweise zur a.A. bei Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 43. abgelehnt.
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Hinweis
Bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung kann das vorstehend zu § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO betreffend bipolare (zweipolige/-seitige) Verwaltungsrechtsverhältnisse zwischen Staat und Bürger entwickelte Abwägungsprogramm nicht unbesehen übernommen werden. Denn in den von § 80a Abs. 3 VwGO erfassten tripolaren Verwaltungsrechtsverhältnissen stehen sich i.d.R. nicht öffentliche und private, sondern auf beiden Seiten prinzipiell gleichwertige, jeweils verfassungsrechtlich geschützte Individualrechtspositionen gegenüber. Dies verdeutlicht der in dieser Hinsicht typische Fall des Nachbarwiderspruchs gegen die einem Bauherrn erteilte Baugenehmigung. „Es geht dann um praktische Konkordanz durch Verfahren.“Hufen Verwaltungsprozessrecht § 31 Rn. 2. Namentlich die in § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung lässt sich im vorliegenden Zusammenhang daher nicht fruchtbar machen.Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 29 Rn. 158 m.w.N. auch zur a.A. Das Regel-Ausnahmeverhältnis des § 80 Abs. 1, 2 VwGO gibt hier deshalb nichts her, weil es allein mit Blick auf den Widerstreit zwischen privatem und öffentlichem Interesse normiert wurde.Loos JA 2001, 698 (704). Vielmehr ist im Rahmen von § 80a Abs. 3 VwGO eine Abwägung der jeweils betroffenen Privatinteressen, d.h. zwischen
• | dem Interesse des durch den Verwaltungsakt Begünstigten an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und |
• | dem Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten an der Aussetzung der Vollziehung des Verwaltungsakts, d.h. der Beibehaltung des status quo, andererseits |
vorzunehmen.Decker in: Wolff/Decker, VwGO/VwVfG § 80a VwGO Rn. 16; Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 597. Das VG fungiert insoweit „als Schiedsrichter zwischen den widerstreitenden Bürgerinteressen“Pietzner/Ronellenfitsch Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht Rn. 1602. und hat dabei stets eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen, auch wenn zuvor die Behörde eine Entscheidung nach § 80a Abs. 1 bzw. 2 VwGO getroffen hat.Finkelnburg/Dombert/Külpmann Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren Rn. 1065. Da § 80a Abs. 3 VwGO zur Auflösung dieses „Interessen-Patt“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 146. keinen Entscheidungsmaßstab benennt, ist auf die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Widerspruch bzw. Klage) abzustellen (insofern vgl. Rn. 572 ff.). Hierbei kann freilich das Interesse der einen oder anderen Seite durch die jeweiligen öffentlichen Interessen verstärkt sein (so z.B. in Bezug auf die von einem privaten Betreiber vorgesehene Errichtung einer Mülldeponie).Mann/Wahrendorf Verwaltungsprozessrecht § 24 Rn. 430.
• | Danach ist von einem überwiegenden Interesse des durch den Verwaltungsakt Begünstigten an dessen sofortiger Vollziehung schon dann auszugehen, wenn der Verwaltungsakt rechtmäßig, d.h. der hiergegen in der Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos ist. Anders als im Zusammenhang mit § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO z.T. der Fall, bedarf es im Rahmen von § 80a Abs. 3 VwGO allerdings keines über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts noch hinausgehenden besonderen Interesses gerade an dessen sofortiger Vollziehung mehr (Rn. 542). Denn der durch einen Verwaltungsakt begünstigte Private (z.B. Bauherr) hat regelmäßig ein schutzwürdiges Interesse (z.B. aus Art. 14 Abs. 1 GG) an der sofortigen Vollziehung des rechtmäßigen Verwaltungsakts (z.B. Baugenehmigung, § 74 Abs. 1 S. 1 BauO NRW).Vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren Rn. 1070 f.; Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 200–201. „[D]er Eintritt rechtmäßiger vollendeter Tatsachen [ist] von dem Dritten hinzunehmen“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 147 m.w.N. Vgl. auch BVerfG NVwZ 2009, 240 (242) m.w.N.; |
• | demgegenüber überwiegt das Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten an der Aussetzung von dessen Vollziehung, wenn sein gegen diesen in der Hauptsache eingelegter Rechtsbehelf offensichtlich erfolgreich ist, d.h. insbesondere der Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Belastete dadurch in einem seiner subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt wird;Vgl. BVerfG NVwZ 2009, 240 (242); Finkelnburg/Dombert/Külpmann Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren Rn. 1068; Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 203. |
• | ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen offen, so gelten die oben (Rn. 582 f.) zur Folgenabwägung gemachten Ausführungen entsprechend.Vgl. Brühl JuS 1995, 818 (820, 822); Windthorst in: Gärditz, VwGO § 80a Rn. 56, jeweils m.w.N. |
585
Ist der gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO gestellte Antrag begründet, so folgt aus dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG), dass das Gericht die aufschiebende Wirkung anordnen bzw. wiederherstellen muss. In diesem Fall darf die Behörde den Verwaltungsakt vorläufig nicht durchsetzen und grundsätzlich auch nicht (erneut) die sofortige Vollziehung anordnen (Ausnahme: die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erfolgte allein wegen eines formellen Fehlers; Rn. 570). Ebenfalls unzulässig ist der nochmalige Erlass des Verwaltungsakts mit inhaltsgleicher Anordnung der sofortigen Vollziehung. Hat der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO dagegen keinen Erfolg, so darf die Behörde den Verwaltungsakt vollziehen.
Beispiel
TenorierungsbeispielNach Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 42; Loos JA 2001, 698 (705); Mann/Wahrendorf Verwaltungsprozessrecht § 24 Rn. 438; Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 1063.
Bei Erfolg des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO: „Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs/der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … wird angeordnet“ (Fälle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3a, S. 2 VwGO) bzw. „wiederhergestellt“ (Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). Bei Unzulässigkeit oder Unbegründetheit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO: „Der Antrag wird abgelehnt“.
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Lediglich bzgl. des „Wie“ – v.a. im Hinblick auf § 80 Abs. 5 S. 4, 5 VwGO – verfügt das Gericht über Ermessen. Sofern sich aus der jeweiligen Entscheidung nichts anderes ergibt, tritt die aufschiebende Wirkung rückwirkend (ex tunc) ein und dauert bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts. Das hat zur Folge, dass etwaig bereits getroffene, ursprünglich rechtmäßige Vollzugsakte nachträglich ihre Rechtsgrundlage (causa) verlieren und damit rechtswidrig werden. Steht dem Antragsteller materiell-rechtlich ein Anspruch auf Beseitigung derartiger Vollzugsfolgen zu (Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch; Rn. 139), so kann das Gericht gem. § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO die Aufhebung der Vollziehung anordnen, falls der Antragsteller dies zusammen mit dem Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO beantragt hat (Rn. 561).
Hinweis
Vollzieht die Behörde einen Verwaltungsakt vor Eintritt seiner Unanfechtbarkeit bzw. des Endes der aufschiebenden Wirkung (§ 80b VwGO), so handelt sie auf eigenes Risiko; Entsprechendes gilt in Bezug auf den Begünstigten eines Verwaltungsakts mit Drittwirkung. Solange der Betroffene in zulässiger Weise Widerspruch oder Anfechtungsklage erheben kann, muss die Behörde damit rechnen und ihr Verhalten darauf einstellen. Macht er hiervon – ggf. auch erst am letzten Tag des Fristablaufs – tatsächlich Gebrauch, so wird auch eine zunächst rechtmäßige (voreilige) Vollziehungsmaßnahme rückwirkend rechtswidrig.Schmitt Glaeser/Horn Verwaltungsprozeßrecht Rn. 257 f.; Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 603.
587
Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ergeht durch Beschluss (vgl. § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO), wobei gem. § 80 Abs. 8 VwGO in dringenden Fällen der Vorsitzende entscheidet (ferner siehe Rn. 15). Gegen Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO, die analog § 121 VwGO die Beteiligten binden und nach § 122 Abs. 2 S. 2 VwGO stets zu begründen sind, ist nach § 146 Abs. 1 VwGO das Rechtsmittel der Beschwerde an das OVG statthaft (Rn. 8). Zudem kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit – mit Wirkung ex nunc – ändern oder aufheben, sei es gem. § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO von Amts wegen oder nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO auf Antrag eines Beteiligten, der sich auf veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beruft; zu diesen zählt auch eine nachträgliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Inhaltlich richtet sich die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 VwGO – hierbei handelt es sich um ein selbstständiges Verfahren – nach denselben Grundsätzen, die gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO auch für die erstmalige Entscheidung über den Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gelten (Rn. 568 ff.). Doch geht es dabei „nicht um eine Rechtsmittelentscheidung […], sondern um eine zukunftsorientierte [eigenständige Ermessens-]Entscheidung über den Fortbestand der im Aussetzungsverfahren getroffenen Entscheidung“Schoch in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 34 Rn. 160. („Art ,Wiederaufnahmeantrag‘“Hufen Verwaltungsprozessrecht § 32 Rn. 52. S. auch VGH Kassel NVwZ 2011, 1530.).
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Prüfungsschema
Wie prüft man: Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
A. | Zulässigkeit |
| ||
| I. | Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs |
| |
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| öffentlich-rechtliche Streitigkeit | (Rn. 553) |
| II. | Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO |
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| Verwaltungsaktqualität der angegriffenen Maßnahme | (Rn. 554) |
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|
| Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt | (Rn. 558) |
| III. | Beteiligtenfähigkeit, § 61 VwGO |
| |
| IV. | Prozessfähigkeit, § 62 VwGO |
| |
| V. | Antragsbefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO analog |
| |
|
|
| subjektiv-öffentliches Recht des Klägers | (Rn. 564) |
| VI. | Richtiger Antragsgegner, § 78 VwGO analog |
| |
| VII. | Grds. keine Antragsfrist |
| |
| VIII. | Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis |
| |
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| vorheriger Antrag bei der Behörde | (Rn. 567) |
B. | Begründetheit |
| ||
| I. | Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO: Formelle Rechtswidrigkeit der AsV |
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| Tenorierung bei nur formeller Rechtswidrigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung (Rn. 570); falls formell rechtmäßig: weiter wie „II.“ |
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| II. | Fälle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3, S. 2 VwGO: Überwiegendes Suspensivinteresse |
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| Entscheidungsmaßstab bei (offener) materieller Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts | (Rn. 579 ff.) |
3. Übungsfall Nr. 7
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Bitte lösen Sie den Übungsfall:
Tote TantenNach Peine Klausurenkurs im Verwaltungsrecht Rn. 813 ff. Vgl. auch VGH München NJW 2003, 1618; VGH Mannheim VBlBW 2006, 186; OVG Berlin-Brandenburg LKV 2009, 566.