Staatsorganisationsrecht

Die Bundestagswahlen

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I. Die Bundestagswahl

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Durch Wahlen erhalten die Volksvertretungen ihre demokratisches Fundament. Erst hierdurch wird dem Volk der vom Demokratieprinzip geforderte Ursprung aller Staatsgewalt eröffnet. Leiden die Wahlen an schwerwiegenden Mängeln, die sich auf das Wahlergebnis auswirken, fehlt sowohl den Abgeordneten als den von ihnen getroffenen Entscheidungen die erforderliche demokratische Legitimation.

Das Grundgesetz verlangt daher nicht nur für die Bundestagswahl in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, sondern auch für die Landtags- und Kommunalwahlen nach Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG die Einhaltung bestimmter Wahlrechtsgrundsätze. Für die Bundestagswahl bestehen neben den Wahlrechtsgrundsätzen (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) weitere verfassungsrechtliche Vorgaben hinsichtlich der Wahlperiode (Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG), des Wahltermins (Art. 39 Abs. 1 S. 3 und S. 4 GG), des Wahlalters (Art. 38 Abs. 2 GG) und der Wahlprüfung (Art. 41 GG). Nähere Regelungen zum Wahlsystem regelt das Grundgesetz jedoch nicht selbst, sondern überlässt dies nach Art. 38 Abs. 3 GG dem einfachen Gesetzgeber. Deshalb sind viele wichtige Aspekte zur Bundestagswahl im Bundeswahlgesetz (BWahlG) normiert.

Beispiel

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Die Anzahl der zu wählenden Abgeordneten (598 zzgl. Überhang- und Ausgleichsmandate), die 5 %-Sperrklausel, das Zweistimmenwahlrecht etc. stehen nicht im Grundgesetz, sondern im Bundeswahlgesetz.

Expertentipp

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Die Aufteilung der Regelungen zur Bundestagswahl im Grundgesetz einerseits und im BWahlG anderseits ist für Prüfungsaufgaben von Bedeutung. Aufgrund des höheren Ranges des Grundgesetzes müssen alle Regelungen des Bundeswahlgesetzes mit dem Grundgesetz, insbesondere also den Wahlrechtsgrundsätzen in Einklang stehen. Wahlrechtlich geprägte Staatsrechtsklausuren haben deshalb oft die Aufgabenstellung, dass eine Regelung des BWahlG am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen ist.

Gem. Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG wird der Bundestag regelmäßig aller vier Jahre neu gewählt. Eine Neuwahl darf frühestens drei Monate und muss spätestens einen Monat vor Ablauf der Wahlperiode stattfinden.

Eine vorzeitige Auflösung des Bundestages ist nur in zwei Fällen vorgesehen:

wenn es nicht zur Wahl des Bundeskanzlers kommt (Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG, s. Rn. 179) oder

wenn der Vertrauensantrag des Bundeskanzlers vom Parlament abgelehnt wird (Art. 68 GG, s. Rn. 181).

In beiden Fällen bedarf es einer entsprechenden Entscheidung des Bundespräsidenten.

Im Falle der vorzeitigen Auflösung des Bundestags findet die Neuwahl innerhalb von 60 Tagen nach der Auflösung statt (Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG).

Mit dem Ende der Wahlperiode des Bundestages gelten alle Vorlagen (mit Ausnahme von Petitionen und Vorlagen, die keiner Beschlussfassung bedürfen) als erledigt (§ 125 Geschäftsordnung des Bundestages – GOBT). Dieser (verfassungsgewohnheitsrechtlich begründete) Grundsatz der Diskontinuität bedeutet etwa, dass alle noch nicht beschlossenen Gesetzentwürfe unabhängig vom Stand der Beratungen erneut in den neu gewählten Bundestag einzubringen sind.

1. Personalisierte Verhältniswahl

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In Art. 38 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 GG werden nur die Grundzüge der Wahl der Abgeordneten des Bundestages umrissen. Gem. Art. 38 Abs. 3 GG wird das Nähere durch das BWahlG geregelt.

Expertentipp

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Bitte nehmen Sie bei den folgenden Erörterungen neben dem GG unbedingt auch das BWahlG zur Hand.

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Der Gesetzgeber darf in Ausführung dieses Regelungsauftrags das Verfahren der Wahl zum Bundestag als Mehrheitswahl oder als Verhältniswahl gestalten. Er darf auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden, solange dabei die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG berücksichtigt werden.

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Das geltende Wahlrecht verbindet beide Systeme: Nach § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG werden die Abgeordneten des Bundestags, deren regelmäßige Zahl nach § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG 598 beträgt, nach den Grundsätzen einer personalisierten Verhältniswahl gewählt.

Jeder Wähler hat nach § 4 BWahlG zwei Stimmen. Beide Stimmen werden auf einem einheitlichen amtlichen Stimmzettel abgegeben, der links die Erststimme und rechts die Zweitstimme enthält (vgl. § 34 BWahlG). Das Element der Personenwahl findet seinen Ausdruck, dass die Hälfte der Abgeordneten gem. § 1 Abs. 2, § 4 BWahlG mit der Erststimme auf der Grundlage von Kreiswahlvorschlägen in Wahlkreisen nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl gewählt werden. Derjenige Bewerber, der im Wahlkreis die meisten Stimmen erreicht hat, zieht direkt in den Bundestag ein (§ 5 S. 2 BWahlG). Es reicht daher im Wahlkreis die einfache (relative) Mehrheit. Da die gesetzliche Regelgröße des Bundestages 598 Abgeordnete umfasst und die Hälfte von ihnen nach den Regeln der Mehrheitswahl in den Wahlkreisen gewählt werden, sind vom Bundestag 299 Wahlkreise zu bilden. In diesen Wahlkreisen werden die 299 Direktbewerber gewählt. Kreiswahlvorschläge können sowohl von Parteien als auch von Wahlberechtigten eingereicht werden (§§ 18, 20 BWahlG). Parteien müssen ihre Bewerber in Versammlungen mittels geheimer Wahl aufstellen (§ 21 Abs. 3 S. 1 BWahlG). Ein Kreiswahlvorschlag darf nur einen Bewerber enthalten, d.h. dass es bei Kreiswahlvorschlägen von Parteien in den Aufstellungsversammlungen zu Kampfabstimmungen kommen kann.

Mit der Zweitstimme werden die übrigen 299 Abgeordneten aufgrund von Landeslisten der politischen Parteien nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt, § 1 Abs. 2, § 4 Hs. 2, § 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG. Anders als Kreiswahlvorschläge können Landeslisten also nur von Parteien eingereicht werden. Man spricht deshalb vom Listenprivileg der Parteien. Dadurch wird ihre besondere verfassungsrechtliche Funktion der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) konkretisiert. Die Bedeutung des Listenprivilegs wird dadurch gesteigert, dass die Zweitstimme (für die Landeslisten) von maßgeblicher Bedeutung für die Sitzverteilung im Bundestag ist.

Hinweis

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Bitte wiederholen Sie im Rahmen des Bundeswahlrechts die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien.

Das Verhältnis von Erst- und Zweitstimme ist im Einzelnen in den §§ 5, 6 BWahlG geregelt. Für die Verteilung der Sitze insgesamt auf die einzelnen Parteien ist die Zweitstimme entscheidend. Die Mandatszuteilung vollzieht sich in mehreren Schritten. Zunächst werden die in den Wahlkreisen errungenen Direktmandate ermittelt. Sodann wird die jeder Landesliste zustehende Abgeordnetenzahl separat in den Ländern ermittelt, § 6 Abs. 2 S. 1 BWahlG. Dabei werden die Sitzkontingente der Länder nach deren Bevölkerungsanteil bestimmt. Schließlich werden für die endgültige Mandatsverteilung die in den Wahlkreisen errungenen Direktmandate auf die für jede Landesliste ermittelte Abgeordnetenzahl angerechnet (§ 6 Abs. 4 S. 1 BWahlG). Übersteigt die Zahl der von einer Partei in einem Land errungenen Direktmandate die Zahl der ihr nach dem Anteil der Wählerzweitstimmen zustehenden Sitze, bleiben diese Mandate der Partei zwar erhalten (sog. Überhangmandate, § 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG). Jedoch ist im Anschluss die Gesamtsitzzahl so weit anzupassen, dass Überhangmandate im Verhältnis der Parteien zueinander bis auf drei vollständig ausgeglichen werden (§ 6 Abs. 5, Abs. 6, Abs. 7 BWahlG); sog. Ausgleichsmandate.

Hinweis

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Überhangmandate, die nicht ausgeglichen werden, sind verfassungsrechtlich nicht unbedenklich, da sie das Kräfteverhältnis nach dem Zweitstimmenergebnis verfälschen. Sie führen im Ergebnis dazu, dass Parteien mit Überhangmandaten pro Sitz weniger Stimmen als Parteien ohne Überhangmandate benötigen. Das BVerfG lässt aber die Möglichkeit von maximal fünfzehn ausgleichslosen Überhangmandaten zu und erklärt dies mit dem vom Gesetzgeber gewollten Element der Persönlichkeitswahl.BVerfGE 131, 316, 357 ff. Bis zu einer solchen Grenze bestehe ein gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum des Art. 38 Abs. 3 GG („Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“).  

Zur Berechnung der Sitzzuteilung an die Parteien und für die Verteilung der Wahlkreise auf die Länder wird das Sitzberechnungsverfahren „Sainte-Laguë/Schepers“ nach Maßgabe des § 6 Abs. 2 S. 2 bis 7 BWahlG angewandt.

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2. Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG

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Gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG werden die Abgeordneten des Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.

Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl postuliert.BVerfGE 123, 39 („Wahlgeräte“). Dieser besagt, dass die wesentlichen Schritte einer Wahl für die wählende Person transparent und nachvollziehbar sein müssen. Er wird abgeleitet aus den Staatsstrukturprinzipien der Demokratie, Republik und Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 GG).

Diese Wahlrechtsgrundsätze binden den Gesetzgeber, wenn er gem. Art. 38 Abs. 3 GG das Wahlrecht im Bundeswahlgesetz näher ausgestaltet. Die Wahlrechtsgrundsätze unterstützen sich teils gegenseitig, teils können sie im Rahmen einer Abwägung untereinander oder mit anderen hochwertigen Verfassungsgütern eingeschränkt werden – so garantiert etwa die geheime Wahl die Freiheit der Wahl und die Öffentlichkeit findet ihre Grenze in der geheimen Wahl.

a) Allgemeinheit der Wahl

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Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet das Wahlrecht als das „vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“.BVerfG Beschluss vom 29.1.2019 – 2 BvC 62/14 -, juris, Rn. 106. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl untersagt daher den unberechtigten Ausschluss von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl. Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen.

Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl garantiert das Recht aller Staatsbürger, zu wählen und gewählt zu werden.BVerfGE 58, 202, 205; BVerfG Beschluss vom 29.1.2019 – 2 BvC 62/14 -, juris, Rn. 41.

Beispiel

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Bis zur Einführung des Wahlrechts für Frauen im Jahr 1918 war diese Bevölkerungsgruppe von der Ausübung des Wahlrechts ausgeschlossen. Dies ist mit dem Grundsatz der allgemeinen Wahl nicht vereinbar.

Wahlberechtigt ist nach Art. 38 Abs. 2 GG, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.

Hinweis

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Für eine Absenkung des Wahlalters wäre eine Grundgesetzänderung nach Art. 79 GG notwendig.

Nach § 12 Abs. 1 BWahlG sind Ausländer vom Wahlrecht auf Bundesebene ausgeschlossen. Fraglich ist, ob dies mit dem Art. 38 Abs. 1 GG, konkret dem Grundsatz der allgemeinen Wahl, zu vereinbaren ist. Das Staatsvolk wird in der Präambel und Art. 146 GG jeweils explizit als das „deutsche Volk“ bezeichnet. Ist aber das „Volk“ in diesem Sinne durch die Wahlrechtsgrundsätze berechtigt, kann ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG dann nicht vorliegen, wenn Personen ausgeschlossen werden, die überhaupt nicht zum so definierten Volk gehören. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk vermittelt jene dauerhafte Beziehung des Bürgers zum Staat, die durch die dauerhafte Unterwerfung unter die Staatsgewalt gekennzeichnet ist. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der allgemeinen Wahl liegt daher nicht vor, wenn ausländische Personen keine Wahlberechtigung für den Bundestag haben. Dies gilt auch für die Landtagswahlen wegen des Homogenitätsgebotes in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG. Für kommunale Wahlen sind zum Teil abweichende Auffassungen dahin vertreten worden, dass der Volksbegriff hierfür abweichend bestimmt werden könne. Das BVerfGBVerfGE 83, 37 ff. ist dem entgegengetreten, hat aber die Möglichkeit einer Verfassungsänderung offen gehalten. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde für Kommunalwahlen in Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG explizit ein Wahlrecht für Personen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ermöglicht, nicht jedoch für Ausländer aus anderen Staaten.

Einschränkungen des Wahlrechts sind nur zulässig, wenn sie sich aus dem Wesen des Wahlrechts ergeben. Sie sind in §§ 12, 13 BWahlG geregelt. Dabei sind insbesondere die Einschränkungen bei sog. „Auslandsdeutschen“ relevant. Hierbei handelt es sich um Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG, die am Wahltag außerhalb der BR Deutschland ihre Wohnung oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Diese sind § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG nur wahlberechtigt, sofern sie

entweder nach Vollendung ihres vierzehnten Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen in der BR Deutschland eine Wohnung innegehabt haben und dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurück liegt oder

aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der BR Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind (z.B. als Grenzpendler ihren Arbeitsplatz in Deutschland haben).

Ein Ausschluss vom Wahlrecht ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 13 BWahlG durch richterliche Entscheidung zulässig. Eine Erweiterung der Ausschlussgründe kann nach der Rechtsprechung des BVerfG allenfalls dann vorgenommen werden, wenn bei einer bestimmten Personengruppe typisierend davon auszugehen ist, dass bei ihr die Möglichkeit am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichenden Umfang besteht.BVerfG Beschluss vom 29.1.2019 – 2 BvC 62/14 -, juris. Aufgrund der hohen Bedeutung des Wahlrechts als grundrechtsgleiches Recht sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen an einer gesetzlichen Typisierung (Pauschalierung) von Wahlrechtsausschlüssen sehr hoch.

Beispiel

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Die Einführung eines Wahlrechtsausschlusses für Betreute in allen Angelegenheiten und wegen Schuldunfähigkeit untergebrachter Straftäter würde sowohl gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als auch gegen das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verstoßen. Für beide Personengruppen wären durch die Typisierung eintretende Härten und Ungerechtigkeiten unvermeidbar und würden eine beträchtliche Zahl von Personen ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung betreffen.BVerfG Beschluss vom 29.1.2019 – 2 BvC 62/14 –, juris.

 

b) Unmittelbarkeit der Wahl

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Aus dem Grundsatz der Unmittelbarkeit folgt, dass die Bestimmung der Abgeordneten durch die Wähler selbst und direkt erfolgt. Der Wähler muss vor dem Wahlakt klar erkennen, wer sich um ein Mandat bewirbt und wie sich ihre Stimmabgabe darauf auswirktBVerfGE 95, 335, 350.; er hat also das letzte Wort. Durch den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl soll mithin ein unverfälschter Einfluss der wählenden Personen auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments sichergestellt werden.   

Definition

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Definition: Unmittelbar

Unmittelbar ist eine Wahl, wenn zwischen der Entscheidung des Wählers und der Wahl des Bewerbers kein weiterer Willensakt fällt.

Beispiel

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Die Entscheidung durch ein sog. Wahlmännergremium wie bei den Präsidentschaftswahlen in den USA ist in Deutschland ausgeschlossen.

Hingegen verstößt die nach § 6 BWahlG vorgesehene Listenwahl nicht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit, weil die Entscheidung über die Liste der Wahl vorausgeht (§ 27 BWahlG), die festgelegte Reihenfolge unabänderlich ist (Erfordernis starrer Listen) und die Listen vor der Wahl öffentlich bekannt werden und somit für den Wähler transparent sind (§ 28 Abs. 3 BWahlG).

Im Falle einer Nachbesetzung von Listenplätzen ausgeschiedener Kandidaten oder Mitglieder des Bundestages ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht verletzt, wenn das Ausscheiden auf „Handlungen der Gewählten selbst“ (z.B. Rücktritt) zurückzuführen ist. Bei der Wahl haben die Wähler auch über die Reihenfolge innerhalb der Liste entschieden, so dass auch die spätere Berufung von Listennachfolgern (§ 48 Abs. 1 BWahlG) unmittelbar auf den ursprünglichen Wahlakt zurückzuführen ist.

Hinweis

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Es ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass aufgrund des freien Mandates der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG weder ein Parteiaustritt bzw. -ausschluss noch ein Fraktionsaustritt bzw. -ausschluss zu einem Ausscheiden aus dem Bundestag führt. Dies gilt auch dann, wenn der Abgeordnete nicht als Wahlkreisbewerber direkt gewählt worden ist, sondern über die Liste seiner (ehemaligen) Partei in den Bundestag gewählt worden ist. Bei noch nicht im Bundestag gewählten Abgeordneten führt ein Ausscheiden aus der Partei allerdings dazu, dass der ausgeschiedene Listenkandidat bei einer etwaigen Listennachfolge (z.B. wegen Rücktritts eines Abgeordneten) unberücksichtigt bleibt, § 48 Abs. 1 S. 2 BWahlG.

c) Freiheit der Wahl

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Die Freiheit der Wahl soll sicherstellen, dass die eigenen Präferenzen des Wählers die Wahlentscheidung tragen und sich kein fremder Wille durch Zwang, Druck oder sonstiger unzulässiger Beeinflussung durchsetzt.

Definition

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Definition: Grundsatz der freien Wahl

Der Grundsatz der freien Wahl schützt die Ausübung des Wahlrechts vor Zwang und sonstiger unzulässiger Beeinflussung.

Legitim sind hingegen der Wahlkampf und die ihn bestimmende Wahlpropaganda und -werbung.

Die wählenden Personen werden auch vor objektiv unrichtigen oder parteiergreifenden Äußerungen von Hoheitsträgern geschützt, die im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer Wahl stehen. In solchen Fällen amtlicher Wahlbeeinflussung liegt zudem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der Chancengleichheit der Parteien und gegen das Demokratieprinzip vor.

Expertentipp

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Auch hier wird wieder der enge Zusammenhang zwischen den Wahlgrundsätzen und dem Demokratieprinzip (Rn. 21) deutlich.

Die Bundesregierung listet sechs Wochen vor der Bundestagswahl auf der Regierungshomepage (www.bundesregierung.de) die „Erfolge ihrer laufenden Regierungszeit“ auf. Hierdurch bezieht die Bundesregierung im politischen Meinungsbildungsprozess einseitig und parteigreifend Stellung für ihre Arbeit, damit auch für die Mitglieder der Bundesregierung und mittelbar für die sie tragenden Koalitionsfraktionen. Die Erfolgsauflistung hat zudem einen amtlichen Charakter (amtliche Homepage, Herausgeber, Finanzierung). Ein objektiv bestehendes sachliches Aufklärungsinteresse (z.B. bei einer amtlichen Warnung infolge höherer Gewalt) bestand nicht. Die amtliche Beeinflussung hat zudem im unmittelbaren Vorfeld der Bundestagswahl stattgefunden. Die hierfür relevante engere Wahlkampfzeit beginnt spätestens sechs Wochen vor der Wahl.Das BVerfG (E 44, 125, 152) sieht als maßgeblichen Zeitpunkt bereits die Festsetzung des Wahltages durch den Bundespräsidenten (§ 16 BWahlG) an. Sie verstößt hierdurch gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG), die Grundsätze der freien und gleichen Wahl (Art. 38 Abs. S. 1 GG) und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG). 

d) Geheimheit der Wahl

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Der Wahl als Instrument demokratischer Legitimation und pluralistischer Willensbildung muss eine geheime Wahl zugrunde liegen, um Auskunft darüber zu geben, was der Bürger wirklich denkt.

Definition

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Definition: Geheimheit

Die Geheimheit der Wahl sichert die freie Wahl und erfordert, dass der Wahlvorgang so ausgestaltet wird, dass die wählende Person ihre Wahlentscheidung trifft, ohne dass Dritte davon Kenntnis nehmen können.BVerfGE 99, 1, 13.

Auf den Schutz des Geheimhaltungsgebotes kann der Wähler nicht verzichten. Die Kennzeichnung des Stimmzettels außerhalb der Wahlkabine führt deshalb zur Zurückweisung des Wählers. Es ist allerdings niemand gehindert, die Partei seiner Wahl zu nennen.

Hinweis

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Die Auszählung der Stimmen folgt wegen der nach dem Demokratieprinzip erforderlichen Öffentlichkeit der Wahl hingegen öffentlich, siehe Rn. 97.

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Bei der Briefwahl ist die freie und geheime Wahl nur bedingt gewährleistet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der Stimmabgabe Dritte beteiligt waren und Einfluss genommen haben. Andererseits dient die Briefwahl der Allgemeinheit der Wahl, da auch Wähler abstimmen können, denen der Gang zum Wahlraum am Wahltermin nicht möglich ist. Deshalb werden im Rahmen der Briefwahl gewisse Einschränkungen der geheimen Wahl hingenommen. Jedoch hat das BVerfGBVerfGE 134, 25 mit Anm. Bätge KommunalPraxis Wahlen 2013, 77. die mit der Briefwahl verbundene Gefährdung der geheimen und freien Stimmabgabe unter bestimmten Voraussetzungen hingenommen: Der Wähler muss die Briefwahl beantragen und hat bei ihrer Ausübung eidesstattlich zu versichern, dass er den Stimmzettel persönlich und unbeeinflusst ausgefüllt hat.

e) Gleichheit der Wahl

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Definition

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Definition: Gleichheit der Wahl

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verlangt, dass jedermann sein aktives und passives Wahlrecht in formal möglichst gleicher Art und Weise ausüben können soll.BVerfGE 1, 208, 247; 95, 335, 366; 122, 304, 314 f.

Hinweis

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Die Gleichheit der Wahl muss nicht nur beim Wahlvorgang selbst, sondern auch bei der Wahlvorbereitung, der Wahlwerbung und der Wahlkampfkostenerstattung gewährleistet sein.

Der Grundsatz der Gleichheit der aktiven Wahl fordert, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten – im Rahmen des vom Gesetzgeber nach Art. 38 Abs. 3 GG festzulegenden Wahlsystems – die gleiche rechtliche Erfolgschance hat.

In Bezug auf das passive Wahlrecht beinhaltet die Gleichheit der Wahl, dass jeder Partei und jedem Wahlbewerber grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und Wahlverfahren und damit die gleichen Chancen im Wettbewerb um die Wählerstimmen offenstehen müssen.BVerfG Beschluss vom 15.12.2020 – 2 BvC 46/19 -, juris, Rn. 57; BVerfGE 95, 408, 417.

Beispiel

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Die gesetzliche Einführung einer Verpflichtung zur geschlechterparitätischen Ausgestaltung der Landeslisten der Parteien für die Bundestagswahl greift in die Wahlrechtsgrundsätze der Gleichheit und Freiheit der Wahl ein. Bei der passiven Wahlgleichheit nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG handelt es um ein auf das Individuum bezogenes Recht. Selbst wenn hinsichtlich der einzelnen Geschlechtergruppen eine jeweils gleiche Anzahl an Plätzen zur Verfügung steht, ändert dies nichts an der Tatsache, dass für den einzelnen Bewerber die Möglichkeit, für bestimmte Plätze zu kandidieren, entfällt, wenn diese Plätze Gruppen vorbehalten sind, denen er nicht angehört.

Zur Wahlfreiheit gehört auch ein freies Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlberechtigten; dieses setzt seinerseits eine freie Nominierung unter Beteiligung der Mitglieder der Parteien und Wählergruppen voraus. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass sich ein gesetzliches Paritätsgebot als Eingriff in das Recht der freien Wahl darstellt, da die Möglichkeit der freien Kandidatur und des freien Vorschlagsrechts beeinträchtigt wird, wenn aufgrund einer gesetzlichen Quotierung den Wahlbewerbern je nach Geschlechtszugehörigkeit nur bestimmte Listenplätze zur Verfügung stehen.BVerfG Beschluss vom 15.12.2020 – 2 BvC 46/19 -, juris.

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Wahlgleichheit bedeutet zum einen, dass jede abgegebene Stimme als eine Stimme zählt – Grundsatz der Zählwertgleichheit.

Beispiel

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Um das Gewicht der Familien mit Kindern zu stärken, sollen sog. Familienwahlen eingeführt werden, bei denen die Erziehungsberechtigten Minderjähriger zusätzliche Stimmen für ihre Kinder bekommen. Eine solche Regelung würde gegen den Grundsatz der Zählwertgleichheit verstoßen.Degenhart Staatsrecht I Rn. 85. Auch eine Vertretung des Minderjährigen durch den wahlberechtigen Erziehungsberechtigten wäre unzulässig, da in diesem Fall der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt wäre.Schreiber BWG, § 12 Rn. 10, siehe auch VG Stuttgart KommunalPraxis Wahlen 2016, 38 mit Anm. Bätge ebenda.

Zum anderen bedeutet Wahlgleichheit, dass jede Stimme gleiches Gewicht für die Zusammensetzung des Parlaments, also gleiche rechtliche Erfolgschancen hatBVerfGE 82, 322, 337. – Grundsatz der Erfolgswertgleichheit. Diesen Erfordernissen hat der Gesetzgeber im Bundeswahlgesetz Rechnung zu tragen.

Expertentipp

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Näheres zur Mehrheits- und Verhältniswahl finden Sie unter Rn. 84.

Der Grundsatz der Wahlgleichheit wirkt sich in den Systemen der Mehrheits- und der Verhältniswahl unterschiedlich aus. Dem Zweck der Mehrheitswahl entspricht es, dass nur die für den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen. Die auf den Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen bleiben hingegen bei der Vergabe der Mandate unberücksichtigt. Die Wahlgleichheit fordert hier über den gleichen Zählwert aller Stimmen hinaus nur, dass bei der Wahl alle Wähler auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und von daher mit annähernd gleichem Stimmgewicht teilnehmen können.BVerfGE 95, 335, 353. Hingegen bedeutet Wahlgleichheit bei der Verhältniswahl, dass jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben muss.BVerfGE 16, 130, 139. Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis im Parlament vertreten sind. Zur Zählwertgleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu. 

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Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Abweichungsverbot. Allerdings bedürfen Differenzierungen des Gesetzgebers bei der Ordnung des Wahlrechts stets der Rechtfertigung des Schutzes anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang.BVerfGE 6, 84, 92. Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele, insbesondere die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (s. Fünf-Prozent-Sperrklausel, Rn. 95) und die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (zur Problematik der Grundmandate s. Rn. 96).

aa) Die Fünf-Prozent-Sperrklausel

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Expertentipp

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Zur Chancengleichheit der Parteien s. Rn. 32.

Nach der Fünf-Prozent-Sperrklausel des § 6 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 BWahlG bleiben Parteien bei der Sitzvergabe im Bundestag unberücksichtigt, die nicht mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten haben. Entsprechend ist der Erfolgswert der für sie abgegebenen Stimmen gleich Null – im Gegensatz zu den Stimmen, die für die erfolgreichen Parteien abgegeben wurden. Die Sperrklausel bedeutet also eine erhebliche Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit.

Gleichzeitig werden die Parteien durch die Sperrklausel ungleich behandelt: Scheitern sie an der Fünf-Prozent-Hürde, werden sie bei der Vergabe der Mandate nicht berücksichtigt. Listenverbindungen von zwei oder mehr Parteien, die für sich jeweils die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden, aber zusammen mehr als fünf Prozent der abgegebenen Wählerstimmen erzielen, sind unzulässig.Das BWahlG wurde in Reaktion auf BVerfGE 121, 266 ff. entsprechend geändert.

Hinweis

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Die Interessenvertretung und Regionalpartei des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW), die für das Landesparlament von Schleswig-Holstein kandidiert, ist als Partei nationaler Minderheiten (dänische Minderheit in Schleswig-Holstein) von der Fünf-Prozent-Sperrklausel gem. § 6 Abs. 3 S. 2 BWahlG befreit.

Die durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkte Ungleichgewichtung der Wählerstimmen wird mit der Wahrung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments durch die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten gerechtfertigt. Die auch in anderen Staaten mit Verhältniswahlsystem übliche Sperrklausel soll in Reaktion auf die Verhältnisse in der Weimarer Republik eine politische Zersplitterung des Parlamentes verhindern, die seine Handlungsfähigkeit gefährden könnte. Denn ohne derartige Hürden bestünde die Gefahr, dass es auch kleinen Gruppen mit zerstreuter Wählerschaft gelänge, ins Parlament einzuziehen. Regierungsbildung und Regierungsstabilität würden dadurch erschwert. Der Erhalt der Funktionsfähigkeit eines entscheidungskompetenten Parlamentes stellt damit einen Wert von Verfassungsrang dar, der insbesondere dem Schutz des Demokratieprinzips und des parlamentarischen Regierungssystems (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG) dient. Wegen der Funktion der Wahlen, zur Integration aller Kräfte und Strömungen im Volk beizutragen, sieht das BVerfG bei einer Sperrklausel von fünf Prozent jedoch die Obergrenze.BVerfGE 95, 408, 418 f.

Expertentipp

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Ob eine Sperrklausel und der damit einhergehende schwerwiegende Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Vertretungsorgans gerechtfertigt sind, hängt von der konkreten Aufgabenstellung und den spezifischen Arbeitsbedingungen ab. Sie müssen in Ihrer Argumentation deshalb unbedingt auf die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in dem jeweiligen Vertretungsorgan (Bundestag, Europäisches Parlament, Landtag bzw. kommunale Vertretungen) eingehen. Siehe hierzu auch Übungsfall Nr. 3 (Rn. 100).

Beispiel

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Das BVerfG hat für die Europawahl entschieden, dass dort eine Fünf-Prozent-Sperrklausel gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien verstößt.BVerfGE 129, 300.

Nach Ansicht des Gerichts ist die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlamentes durch das Vorhandensein kleiner politischer Gruppierungen nicht in einem für die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel erforderlichen Maße beeinträchtigt:

Aufgrund der erheblichen Integrationskraft der Fraktionen im Europäischen Parlament, die eine große Bandbreite der verschiedenen politischen Strömungen in den Mitgliedstaaten auffangen, ist davon auszugehen, dass auch weitere Kleinparteien, die beim Fortfall der Sperrklauseln im Europäischen Parlament vertreten wären, sich den bestehenden Fraktionen anschließen und mit ihnen die erforderlichen Abstimmungsmehrheiten organisiert werden können.

Eine mit der Wahl zum Bundestag vergleichbare Interessenlage besteht auf europäischer Ebene nicht. Das Europäische Parlament wählt keine Regierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Europäischen Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde. Zudem ist die EU-Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängig ist.

Hinweis

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Prüfungsmaßstab für die Gewährleistung der Wahlrechtsgleichheit bei der Europawahl ist nicht Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, sondern Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. dem Demokratieprinzip.

bb) Die Grundmandatsklausel

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Durch die Grundmandatsklausel wird gemäß § 6 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 BWahlG die Fünf-Prozent-Sperrklausel gelockert: Sie bestimmt, dass die Parteien auch bei Unterschreiten der Fünf-Prozent-Hürde an der Sitzverteilung nach Landeslisten teilnehmen, wenn ihre Kandidaten mit den Erststimmen der Wähler in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen haben.

Beispiel

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Bei der Bundestagswahl 1994 erlaubte die Grundmandatsklausel der PDS den Wiedereinzug in den Bundestag. Sie erzielte zwar nur einen Zweitstimmenanteil von 4,4 Prozent, errang aber vier Direktmandate.

Die Regelung bedeutet eine Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit zu Lasten der Parteien, die keine Direktmandate in der erforderlichen Anzahl erringen. Sie hat bei einem Wahlergebnis von jeweils unter fünf Prozent zur Folge, dass Zweitstimmen, die für eine Partei mit drei Direktmandaten gegeben wurden, einen höheren Erfolgswert haben als Zweitstimmen für eine Partei, die nicht drei Direktmandate gewonnen hat. Damit schränkt die Grundmandatsklausel den Grundsatz der Gleichheit der Wahl gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ein. Zudem betrifft sie den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gem. Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.

Das BVerfG rechtfertigt diese Ungleichbehandlung dadurch, dass der Erwerb eines Direktmandats Rückschlüsse auf die Integrationskraft politischer Parteien und deren Verankerung in der Bevölkerung erlaubt. Wenn es einer insgesamt unterhalb der Fünf-Prozent-Grenze liegenden Partei gelingt, mit ihren Kandidaten mehrere Wahlkreismandate zu erringen, soll der Gesetzgeber dies als Indiz dafür werten dürfen, dass diese Partei besondere Anliegen aus der Bevölkerung aufgegriffen hat, die allgemein eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen. Er darf sie in diesem Sinne als politisch bedeutsam ansehen und deswegen an der Verteilung der Listenmandate teilnehmen lassen.BVerfGE 95, 408, 420 f.

f) Öffentlichkeit der Wahl

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Als ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsatz hat das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG hergeleitet. Er gebietet, „dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen“.BVerfGE 123, 39 (1. Leitsatz).

Die Öffentlichkeit der Wahl ist danach Grundvoraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung. Sie umfasst das Wahlvorschlagsverfahren, die Wahlhandlung (in Bezug auf die Stimmabgabe durchbrochen durch das Wahlgeheimnis) und die Ermittlung des Wahlergebnisses.BVerfGE 123, 39, 68.  

Beispiel

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Nicht mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl vereinbar sind nicht öffentliche Auszählungen durch die Wahlvorstände, etwa wenn der Wahlraum verschlossen ist.BVerwGE 142, 124 mit Anm. Bätge KommP Wahlen 2012, 117.

Im Hinblick auf die Verwendung von Wahlcomputern muss für den Wähler hinreichend erkennbar und nachvollziehbar sein, was mit seiner Stimme geschieht.BVerfGE 123, 39.

3. Wahlprüfung durch das Bundesverfassungsgericht

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Ziel der Wahlprüfung ist die Sicherstellung des rechtmäßigen Zustandekommens des Bundestages.Siehe hierzu ausführlich Hillgruber/Goos Rn. 747 ff. Sie umfasst die Kontrolle der Gültigkeit der Wahl im Hinblick auf aufgetretene Wahlfehler. Wahlfehler sind Verstöße gegen wahlrechtliche Vorschriften oder sonstige gesetzliche Vorgaben, die im Zusammenhang mit der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl anzuwenden sind. Von wesentlicher Bedeutung ist insbesondere die Einhaltung der Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.

Die Rechtsgrundlagen für die Wahlprüfung bei der Bundestagswahl ergeben sich aus vier Quellen: dem Grundgesetz (Art. 41 GG), dem Bundeswahlgesetz (§ 49), dem Wahlprüfungsgesetz (WahlprüfungsG) sowie dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz, (§ 48 BVerfGG).

Das Wahlprüfungsverfahren ist zweistufig aufgebaut. Auf der ersten Stufe ist sie Sache des Bundestages (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG, §§ 1-17 WahlprüfungsG).

Durch die Möglichkeit der Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Beschluss des Bundestages kann eine verbindliche Entscheidung des Bundestages in eigener Sache vermieden werden. Die gerichtliche Wahlprüfung wäre für einen solchen Fall die zweite Stufe des Verfahrens nach Art. 41 Abs. 2 GG i.V.m. § 18 WahlprüfungsG und §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG.

Die Wahlprüfung wird nur auf Einspruch eingeleitet, welcher zu begründen ist. Durch den Einspruch und die Begründung wird der Streitgegenstand des Einspruchsverfahrens bestimmt. Aufgrund der wahlprüfungsrechtlichen Substantiierungspflicht ist ein konkreter und hinreichender Sachvortrag erforderlich, aus dem sich schlüssig entnehmen lässt, worin der Einspruchsführer einen Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften (Wahlfehler) sieht.BVerfGE 40, 11, 30 ff. Den Einspruch kann jeder Wahlberechtigte, jede Gruppe von Wahlberechtigten und in amtlicher Eigenschaft jeder Landeswahlleiter, der Bundeswahlleiter und der Präsident des Bundestages einlegen (§ 1 Abs. 2 WahlprüfungsG). Die Entscheidung des Bundestages über den Einspruch wird durch den Wahlprüfungsausschuss vorbereitet. Der Bundestag kann dann über die Gültigkeit der Wahl, die Verletzung von Rechten bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl und den Verlust der Mitgliedschaft eines Abgeordneten entscheiden.

Gegen die Wahlprüfungsentscheidung des Bundestages kann Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden (Art. 41 Abs. 2 GG, § 18 WahlprüfungsG i.V.m. §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG).

Beschwerdeberechtigt sind hierfür nach § 48 BVerfGG:    

Der Abgeordnete, dessen Mitgliedschaft bestritten ist.

jede einzelne wahlberechtigte Person oder eine Gruppe von wahlberechtigten Personen, deren Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist;

eine Fraktion oder eine Minderheit des Bundestages, die mindestens ein Zehntel der gesetzlichen Mitglieder umfasst.

Expertentipp

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Abgesehen vom ersten Fall handelt es sich um ein objektives Beanstandungsverfahren, der Antragsteller muss nicht geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein.

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Die Wahlprüfungsbeschwerde ist binnen einer Frist von zwei Monaten seit der Beschlussfassung des Bundestages beim BVerfG zu erheben und zu begründen (§ 48 Abs. 1 BVerfGG).

Bejaht das BVerfG in der Begründetheitsprüfung der Wahlprüfungsbeschwerde einen Rechtsverstoß, so stellt es diesen in den Entscheidungsgründen fest und zieht – bei Mandatsrelevanz des Wahlfehlers -, die sich daraus ergebenden Folgerungen für die Gültigkeit der Wahl und die Mandatszuteilung. Hält es Vorschriften des BWahlG oder hierzu ergangener Ausführungsvorschriften, insbesondere der Bundeswahlordnung, für verfassungswidrig, stellt es deren Nichtigkeit oder Teilnichtigkeit fest.

Die Feststellung der Ungültigkeit der Wahl ist dabei der absolute Ausnahmefall und setzt zunächst einen mandatsrelevanten Wahlfehler voraus. Ein solcher liegt dann vor, wenn durch die geltend gemachte Rechtsverletzung (Wahlfehler) die gesetzmäßige Zusammensetzung des Bundestages berührt sein kann (Mandatsrelevanz). Bei der Mandatsrelevanz des Wahlfehlers darf es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handeln; vielmehr muss nach der allgemeinen Lebenserfahrung eine konkrete und reale Möglichkeit bestehen, dass der Wahlfehler auf das Wahlergebnis und die Sitzverteilung von Einfluss gewesen ist.BVerfG Urteil vom 3.7.2008 – 2 BvC 1/07 -, DVBl. 2008, 1045, 1050.

Beispiel

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Im Wahlkreis ist derjenige gewählt, der die meisten Erststimmen erhalten hat (§ 5 S. 2 BWahlG). In einem Wahlkreis beträgt der Abstand zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten 300 Erststimmen. Im Rahmen der Wahlprüfung wird festgestellt, dass im gesamten Wahlkreis 300 ungültige Stimmen auf fehlerhaften Stimmzetteln abgegeben worden sind. Zwar liegt ein Wahlfehler vor, da die Wahl mit den (richtigen) amtlichen Stimmzetteln statt zu finden hat (§ 34 Abs. 1 BWahlG). Die Mandatsrelevanz des Wahlfehlers ist aber zu verneinen, da nach der allgemeinen Lebenserfahrung und des knappen Stimmenergebnisses im Wahlkreis die Annahme unrealistisch ist, dass alle von der Ungültigkeit der Stimmen betroffenen Wähler ihre Stimmen dem Zweitplatzierten gegeben hätten.

Auch im Falle eines mandatsrelevanten Wahlfehlers ist das Erfordernis des Bestandsschutzes einer gewählten Volksvertretung, das seine rechtliche Grundlage im Demokratiegebot findet, mit den Auswirkungen des festgestellten Wahlfehlers abzuwägen. Die Ungültigkeitserklärung einer gesamten Wahl setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene.BVerfGE 103, 111, 134; vgl. auch BVerfG E 123, 39 ff. Vor seiner Entscheidung hat das BVerfG daher zu prüfen, ob für die Behebung eines mandatsrelevanten Wahlrechtsverstoßes nicht ein milderes Mittel zur Verfügung steht, wie zum Beispiel ein rechnerische Korrektur der Zusammensetzung des Bundestages oder die Wiederholung der Wahl in einem bestimmten Wahlbezirk des Wahlkreises.Engelbrecht Das Wahlprüfungsverfahren bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag, KommP Wahlen 2020, 71.

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