Staatsorganisationsrecht

Das Demokratieprinzip

I. Die Kernelemente des Demokratieprinzips

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Das Demokratieprinzip ist grundsätzlich inhaltlich klar, bedarf aber aufgrund seiner begrifflichen Abstraktheit einer Präzisierung durch konkrete Ausprägungen. Nur wenn diese demokratieprägenden Kernelemente vorhanden sind, kann von einer echten Demokratie gesprochen werden. Deren Unterscheidung von einer Scheindemokratie, die nur auf dem Papier oder in der Außendarstellung des Staates besteht, ist wichtig, da sich heutzutage selbst unfreie und totalitäre Regime oftmals als „Demokratie“ bezeichnen.

1. Demokratische Legitimation der Staatsorgane und Amtsträger

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Gem. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht in der BR Deutschland alle Staatsgewalt vom Volke aus. Das hierdurch zum Ausdruck kommende Prinzip der Volkssouveränität bedeutet, dass sich die Ausübung von Staatsgewalt auf den Willen des Volkes zurückführen lassen muss. Dies kann in unmittelbarer Weise durch Wahlen und Abstimmungen oder mittelbar durch die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung geschehen. Bei letzterem ist allerdings erforderlich, dass das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Staatsorgane hat.BVerfGE 83, 60, 71 f. Sobald das Volk die Staatsgewalt nicht unmittelbar, sondern durch die Staatsorgane ausübt, bedarf ihr Handeln einer demokratischen Legitimation. Hierfür muss eine ununterbrochene Legitimationskette zwischen der Wahlentscheidung des Volkes und der Entscheidung eines jeden Hoheitsträgers bestehen. Alle Staatsorgane und Amtsträger (personelle Legitimationskette) und jede hoheitliche Entscheidung (sachliche Legitimationskette) müssen mit dem im Wahlakt deutlich werdenden Willen des Volkes (Legitimationsspender) verbunden sein.

Beispiel

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Der Bundespräsident erlangt seine demokratische Legitimation über die Wahl durch die Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG). Die Bundesversammlung setzt sich zusammen aus Mitgliedern des vom Volk gewählten Bundestages und solchen, die von den (durch die Landtagswahlen demokratisch legitimierten) Landesparlamenten gewählt werden (Art. 54 Abs. 3 GG).

Der Bundeskanzler ist demokratisch legitimiert, da er durch den vom Volk gewählten Bundestag gewählt wird (Art. 63 Abs. 1 GG).

Ein Bundesminister wird vom demokratisch legitimierten Bundeskanzler vorgeschlagen und vom demokratisch legitimierten Bundespräsidenten ernannt (Art. 64 Abs. 1 GG).

Landesministerin L ist Mitglied des Bundesrates. Sie ist durch die Landtagswahl im betreffenden Bundesland demokratisch legitimiert: Die vom Landesvolk gewählten Abgeordneten des Landtages wählen nach der Landesverfassung den Ministerpräsidenten, der wiederum die Landesminister ernennt. Die aus dem Ministerpräsidenten und den Landesministern bestehende Landesregierung hat Landesministerin L zum Bundesratsmitglied nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG bestellt.

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden zur einen Hälfte durch den aufgrund der Bundestagswahl demokratisch legitimierten Bundestag und zur anderen Hälfte durch den durch die Landtagswahlen demokratisch legitimierten Bundesrat gewählt (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG).

Beispiel

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Bundesminister B erlässt einen neuen Organisationsplan für das von ihm geleitete Ministerium. Seine Entscheidung ist demokratisch legitimiert, da er selbst persönlich demokratisch legitimiert ist (s.o.) und für die Leitung seines Geschäftsbereichs (Ressorts) selbständig verantwortlich ist (Art. 65 S. 2 GG, „Ressortprinzip“),

Es würde nicht mehr der sachlichen Legitimation entsprechen, wenn nicht vom Volk legitimierten Organen oder Amtsträgern (Mit)Entscheidungskompetenzen zugebilligt würden; etwa wenn der Personalrat oder die Beschäftigten die Leitung einer Bundesbehörde bestellen könnten.

Hinweis

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Das Volk, von dem nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG alle Staatsgewalt ausgeht, ist die Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen sowie der ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen. Denkbar wäre zwar auch, alle auf Dauer der deutschen Staatsgewalt Unterworfenen und damit insbesondere auch die in Deutschland dauerhaft lebenden Ausländer an der Staatsgewalt teilhaben zu lassen. Nach der Konzeption des Grundgesetzes setzt Teilhabe an staatlichen Entscheidungen jedoch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit voraus. Für die Verwirklichung der demokratischen Freiheitsidee kommt somit dem Staatsangehörigkeitsrecht wesentliche Bedeutung zu.

2. Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz

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Das Volk ist nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG Träger der Staatsgewalt und übt diese in einer mittelbaren Demokratie in erster Linie in Wahlen aus.

Da in einer freiheitlichen Demokratie einstimmige Wahlergebnisse nahezu ausgeschlossen, gilt das Mehrheitsprinzip. Es basiert auf der Erwägung, dass der Wahlvorschlag mit breiterer Zustimmung vom Volk höher legitimiert ist, als derjenige mit niedrigerer Zustimmung.

Das Mehrheitsprinzip gilt nicht nur bei der Wahl, sondern auch bei der nachgelagerten Beschlussfassung der kollegial organisierten Staatsorgane (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Senate des Bundesverfassungsgerichts).

Trotz des Mehrheitsprinzips ist ein Minderheitenschutz im Demokratieprinzip implementiert. Zur Ermöglichung einer effektiven Oppositionsarbeit reichen deshalb für die Ausübung bestimmter Kontrollrechte bereits Anträge einer näher definierten Minderheit des Bundestages.

Beispiel

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Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses reicht der Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages (Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG).

Berechtigt zur Erhebung einer abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht ist schon ein Viertel der Mitglieder des Bundestages (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG).

Der Minderheitenschutz erfordert zudem, dass überhaupt eine legale Oppositionsarbeit betrieben werden kann und die Minderheit die Möglichkeit hat, in bestimmten, nicht zu langen Abständen selbst die Mehrheit stellen. Zu diesem Zweck muss die Wahlperiode des Parlaments begrenzt sein (Herrschaft auf Zeit), damit in vorher bestimmten nicht zu langen Abständen das Volk erneut entscheiden kann (Erfordernis der demokratischen Rückkoppelung).

Die derzeitige Wahlperiode des Bundestages beträgt nach Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG vier Jahre. Über eine Verfassungsänderung mit den nach Art. 79 Abs. 2 GG erforderlichen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat ist grundsätzlich eine allgemeine Verlängerung künftiger Wahlperioden möglich. Allerdings dürfte eine zu lange Wahlperiode im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG auf Grenzen stoßen. Die Verlängerung künftiger Wahlperioden des Bundestages um ein weiteres Jahr auf insgesamt fünf Jahre wäre jedenfalls durch Grundgesetzänderung grundsätzlich zulässig, zumal dies der Wahlperiode fast aller Landtage entspricht.Michl JuS 2020, 643, 645 m.w.N.

Beispiel

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Während der laufenden Wahlperiode möchte der Bundestag diese aufgrund einer schweren Pandemie um ein Jahr verlängern und beschließt deshalb mit den erforderlichen Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG mit sofortiger Wirkung eine entsprechende Änderung des Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG, in dem dort die Zahl „vier“ durch „fünf“ ausgetauscht wird.

In der Verlängerung der laufenden Wahlperiode liegt eine Verletzung des Grundsatzes des Demokratieprinzips (Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Die Verlängerung der laufenden Wahlperiode greift in den Kernbereich des Demokratieprinzips ein, da der amtierende Bundestag vom Volk lediglich für vier Jahre gewählt worden ist und nur entsprechend lang demokratisch legitimiert ist. Art. 79 Abs. 3 GG steht damit einer Verlängerung der laufenden Wahlperiode entgegen.

Eine allgemeine Verlängerung künftiger Wahlperioden ist hingegen grundsätzlich möglich. Zwar gibt es das aus dem Demokratieprinzip abzuleitende Gebot der periodischen und nicht zu lang andauernden demokratischen Rückkoppelung zum Volk. Dies ist jedoch jedenfalls bei einer fünfjährigen Wahlperiode noch eingehalten. Insoweit liegt also keine Verletzung des Art. 79 Abs. 3 GG vor.

Die Minderheit muss in einer Demokratie die rechtliche Möglichkeit haben, eine legale Oppositionsarbeit zu betreiben und – mit den gleichen Chancen wie die amtierende Mehrheit – künftig selbst die Mehrheit zu stellen. Daher muss für das Volk auch unabhängig von Wahlen die jederzeitige Möglichkeit bestehen, sich ungehindert zu informieren, Meinungen zu bilden und diese allein, über die Presse oder über Versammlungen zu äußern. Aus diesem Grunde haben die Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 8 und 9 GG) für eine freiheitliche Demokratie eine „schlechthin konstituierende Bedeutung“BVerfGE 35, 202, 221. und sind „Wesensmerkmale der Demokratie“BVerfGE 80, 124, 134..

3. Willensbildung von unten nach oben

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Aufgrund des Grundsatzes der Volksherrschaft muss in der Demokratie der Willensbildungsprozess vom Volk zu den Staatsorgane ausgehen damit von „unten nach oben“. Hiermit wäre es nicht vereinbar, wenn die Staatsorgane durch amtliche Handlungen darin in parteiergreifender Weise eingreifen würden. Sie haben sich vielmehr in amtlicher Eigenschaft neutral zu verhalten, anderenfalls würde der freie Wille des Volkes verfälscht. Die Verletzung der amtlichen Neutralitätspflicht hat nicht nur eine Verletzung des Demokratieprinzips zur Folge, sondern es sind auch die Grundsätze der freien und gleichen Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) sowie das Prinzip der Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) beeinträchtigt.BVerfGE 44, 125, 147.

Beispiel

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Die Bundesregierung veröffentlicht vier Wochen vor der Bundestagswahl auf ihrer mit Bundesmitteln finanzierten amtlichen Homepage einen „Informationsflyer“, in dem ihre „erfolgreichen Aktivitäten in der laufenden Regierungszeit“ aufgelistet werden. Auf dem Informationsflyer findet sich neben dem Bundesadler der Aufdruck „Information der Bundesregierung…“.

In einem solchen Fall ist das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) verletzt, da der Willensbildungsprozess nicht von unten nach oben erfolgt, sondern in parteiergreifender amtlicher Form verfälscht und damit umgekehrt wird. Durch die Darstellung einer amtlichen Erfolgsbilanz bezieht die Bundesregierung als Staatsorgan im politischen Meinungsbildungsprozess parteiergreifend Stellung für ihre Arbeit und mittelbar für die sie tragenden Koalitionsfraktionen. Der Informationsflyer hat zudem selbst einen amtlichen Charakter (Finanzierung, Herausgeber, amtliche Homepage, Aufdruck des Staatsorgans und des Staatssymbols). Zusätzlich ist der Grundsatz der freien Wahl des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verletzt. Dieser schützt die freie Wahl vor amtlichen Beeinflussungen. Im vorliegenden Fall hat die festgestellte amtliche Wahlbeeinflussung im unmittelbaren Vorfeld der Bundestagswahl stattgefunden. Die hierfür relevante engere Wahlkampfzeit beginnt spätestens sechs Wochen vor der Wahl. Es liegt daher eine Verletzung der Freiheit der Wahl vor. Schließlich ist auch eine Verletzung der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG gegeben, da die die Bundesregierung nicht tragenden Bewerber der anderen Parteien nicht die Gelegenheit haben, mit amtlichen Mitteln eine solche Wahlwerbung vorzunehmen.

Die amtliche Neutralitätspflicht ist nicht auf die Zeit des Wahlkampfes beschränkt, da der politische Wettbewerb zwischen den Parteien in einer Demokratie jederzeit von statten geht. Aus dem Recht auf chancengleiche Teilnahme an diesem Wettbewerb erwächst das Verbot für die Staatsorgane, in amtlicher Eigenschaft einseitige Parteinahmen und Werbung für oder gegen einzelne Parteien abzugeben.

Definition

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Definition: Überschrift - Amtliche Äußerungen

Amtliche Äußerungen sind solche, die in amtlicher Eigenschaft, also unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität des Amtes oder der damit verbundenen Ressourcen erfolgen.BVerfGE 136, 323.

Beispiel

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Bei der Beurteilung, ob die parteiergreifende Stellungnahme in amtlicher oder privater Eigenschaft abgegeben worden ist, kann es zu Abgrenzungsfragen kommen. Es ist anerkannt, dass Amtsinhaber, die regelmäßig zugleich selbst Mitglied einer Partei sind, sich außerhalb ihrer amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf durchaus beteiligen dürfen. Vor diesem Hintergrund stellt sich im Einzelfall die Frage, inwieweit und über welche Kommunikationskanäle sich der Amtsträger öffentlich geäußert hat.

In einem Interview mit der Redaktion einer privaten Zeitschrift bezeichnet Bundesinnenminister S, der Mitglied der C-Partei ist, das Verhalten von Mitgliedern der A-Partei als „staatszersetzend“ und „einfach schäbig“. Das Interview, in dem es um allgemeine politische Fragen ging, war zeitweise auch auf der Homepage des Innenministeriums abrufbar.

Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der A-Partei im politischen Wettbewerb liegt vor, wenn Regierungsmitglieder sich am politischen Meinungskampf beteiligen und dabei auf durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten und Mittel zurückgreifen, über welche die politischen Wettbewerber nicht verfügen. Daher verstößt eine parteiergreifende Äußerung eines Bundesministers gegen die staatliche Neutralitätspflicht, wenn sie unter Einsatz der mit dem Ministeramt verbundenen Ressourcen oder unter erkennbarer Bezugnahme auf das Regierungsamt erfolgt, um ihr damit eine besondere Glaubwürdigkeit oder Gewichtung zu verleihen. Eine Äußerung erfolgt regelmäßig dann in regierungsamtlicher Funktion, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen oder auf der Internetseite seines Geschäftsbereichs erklärt oder wenn Staatssymbole und Hoheitszeichen eingesetzt werden.

Im vorliegenden Fall war das Interview selbst mit der privaten Zeitschrift als Teilnahme am politischen Meinungskampf nicht zu beanstanden. Es ging hierbei um allgemeine politische Themen ohne konkreten Bezug zum Bundesinnenministerium, weswegen S in seiner (privaten) Funktion als Parteipolitiker der C-Partei in zulässiger Weise auch parteiergreifend antworten durfte.

Demgegenüber verletzte die Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage des Ministeriums das Recht auf Chancengleichheit der Partei aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG und das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), da es sich bei dieser Homepage um eine staatliche Ressource der Regierung handelt, die Oppositionsparteien nicht zur Verfügung steht. Hierin lag daher eine Verletzung des Gebots strikter staatlicher Neutralität vor.

Da die Äußerung nicht im Vorfeld der Bundestagswahl erfolgt ist, sind die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) hingegen nicht beeinträchtigt.BVerfG Urteil vom 9.6.2020 – 2 BvE 1/19 -, juris.

4. Wahlen nach demokratischen Grundsätzen

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In einer Demokratie übt das Volk als Träger der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) diese in erster Linie durch Wahlen aus. Wahlen sind Personalentscheidungen, in denen die Vertreter des Volkes, also dessen Abgeordnete, bestimmt werden. Die gewählten Abgeordneten treffen sodann ihrerseits wichtige Personalentscheidungen und entscheiden in der Sache. Die Wahl ist deshalb das Fundament der Demokratie, auf das alles Weitere aufbaut. Leidet die Wahl an schwerwiegenden Mängeln, die sich auf das Wahlergebnis auswirken, fehlt auch den darauf aufbauenden Entscheidungen der „gewählten“ Vertreter die erforderliche demokratische Legitimation.

Das Grundgesetz verlangt daher nicht nur für die Bundestagswahl in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, sondern auch für die Landtags- und Kommunalwahlen nach Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG die Einhaltung bestimmter Wahlrechtsgrundsätze. Selbst wenn diese dort nicht ausdrücklich normiert wären, so würden zumindest die Kernelemente der allgemeinen, freien, gleichen, geheimen und öffentlichen Wahl sich als unmittelbare Ausprägung des DemokratieprinzipsSannwald in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 79 Rn. 56 m.w.N. ergeben und wären damit einer Grundgesetzänderung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG entzogen. Die Wahlrechtsgrundsätze werden im Einzelnen bei der Erläuterung der Bundestagswahl in Rn. 86 ff. behandelt.  

Hinweis

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Das BVerfG sieht im aktiven und passiven Wahlrecht gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GG ein grundrechtsgleiches subjektives Recht auf Teilnahme an der demokratischen Legitimation der mit der Ausübung von Hoheitsgewalt betrauten Einrichtungen und Organe. Da das Gericht daraus einen „Anspruch auf Demokratie“ ableitet, macht es wesentliche Teile des Demokratieprinzips der Verfassungsbeschwerde zugänglich.BVerfG Urteil vom 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14 -, juris (Europäische Bankenunion). Danach darf das Wahlrecht insbesondere nicht dadurch entwertet werden, dass verfassungswidrige Übertragungen von Hoheitsrechten auf die EU stattfinden (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG) bzw. internationale Organisationen außerhalb ihrer Zuständigkeiten („ultra vires“) über Belange der BR Deutschland entscheiden.    

5. Wesentlichkeitstheorie und Parlamentsvorbehalt

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Es wäre mit dem Prinzip der Volksherrschaft nicht zu vereinbaren, wenn nicht die unmittelbar vom Volke gewählten Vertreter, sondern andere Organe die für das Gemeinwohl wesentlichen Entscheidungen treffen würden. Deshalb hat das BVerfG aus dem Demokratieprinzip die Wesentlichkeitstheorie entwickelt, wonach ausschließlich das unmittelbar vom Volk gewählte Parlament die wesentlichen Angelegenheiten des Gemeinwohls zu beschließen hat. Umgekehrt formuliert, darf es keine für das Gemeinwohl wichtige Frage geben, die nicht ausdrücklich von der Volksvertretung beschlossen worden ist (Parlamentsvorbehalt).BVerfGE 90, 286, 381 ff; 121, 135, 154 ff.

Das einzige Organ, welches nach dem Grundgesetz unmittelbar vom Volk gewählt wird, ist der Bundestag. Ihm kommt deshalb bei der Ausübung der Staatsgewalt eine herausgehobene Bedeutung zu. Sofern wesentliche Entscheidungen am Bundestag vorbei getroffen werden, wären diese wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip in der Ausprägung der Wesentlichkeitstheorie nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG verfassungswidrig.

Wesentlichkeit heißt dabei in erster Linie Grundrechtswesentlichkeit. Grundrechtswesentliche Entscheidungen dürfen nicht der Rechtsetzung durch die Exekutive überlassen werden. Eingriffe in Grundrechte bedürfen vielmehr einer Entscheidung des Parlamentes in Form einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage.Degenhart Staatsrecht I Rn. 329 ff. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage verschärft den demokratischen Aspekt des Parlamentsvorbehaltes um ein formelles rechtsstaatliches Erfordernis: Es reicht bei Eingriffen in Grundrechten nicht aus, dass das Parlament nur einen legitimierenden Beschluss fasst, sondern dieser muss auch in Gesetzesform umgesetzt werden. Dies verlangt der Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes, welcher aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet ist und für belastende Eingriffe in subjektive Rechte eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erfordert.

Expertentipp

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Machen Sie sich bitte den Zusammenhang des demokratischen Parlamentsvorbehaltes mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes bei grundrechtsinvasiven Maßnahmen klar.

Hinweis

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Für den Eingriff in Grundrechte bestehen häufig spezielle Gesetzesvorbehalte, die dem allgemeinen Prinzip vorgehen, vgl. z.B. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG.

Beispiel

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Im Rahmen einer Pandemie stellt sich heraus, dass Urlaubsrückkehrer aus bestimmten Gebieten ein erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen. Daraufhin weist das Schulministerium des Landes L die Schulleitungen durch Runderlass an, alle Schüler, die sich in den Ferien in den Risikogebieten aufgehalten haben, für die Dauer von vierzehn Tagen vom Unterricht auszuschließen. Das Schulgesetz sieht einen Unterrichtsausschluss nur als disziplinarische Reaktion auf ein konkretes schwerwiegendes Fehlverhalten von Schülern vor. Im Übrigen sieht es nur allgemein eine Verantwortung der Schulleitung für den „geordneten Schulbetrieb“ vor.

Der Runderlass des Schulministeriums verstößt gegen den Parlamentsvorbehalt des Demokratieprinzips und zudem gegen den rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes, da der Unterrichtsausschluss in die Grundrechte der Ausbildungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), des elterlichen Erziehungsrechts und der damit verbundenen staatlichen Überwachungspflicht (Art. 6 Abs. 2 GG) eingreift, ohne dass der Gesetzgeber hierüber eine eigene Entscheidung getroffen hat. Die schulgesetzliche Ermächtigungsgrundlage an die Schulleitung, für einen geordneten Schulbetrieb zu sorgen, ist nicht hinreichend bestimmt, um als gesetzgeberische Regelung dieser wesentlichen Frage gedeutet zu werden. Dies folgt bereits daraus, dass das Gesetz den Unterrichtsausschluss bereits an anderer Stelle und damit abschließend geregelt hat.

Welche Entscheidungen im Übrigen als wesentlich gelten, lässt sich nicht pauschal sagen und hängt vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des Regelungsgegenstandes ab. Anhaltspunkte für die Bedeutung sind den Wertungen des Grundgesetzes zu entnehmen.

Beispiel

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Wenn die Bundesregierung einen bewaffneten Auslandseinsatz ohne vorherige Entscheidung des Bundestages und ohne Gefahr im Verzug beschließt, so wäre diese Anordnung wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip in der Ausprägung der Wesentlichkeitstheorie verfassungswidrig. Bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung ausnahmsweise berechtigt, den Einsatz vorläufig allein zu beschließen. Sie muss jedoch zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Entscheidung des Bundestages über die Fortsetzung herbeiführen.BVerfGE 140, 160.

Hingegen bedarf es für die Einführung der von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung an den Schulen keiner besonderen, über die allgemeinen Lernzielbestimmungen des Landesschulgesetzes hinausgehenden gesetzlichen Grundlage, da hierdurch Grundrechte von Eltern, Schülern oder Dritten nicht verletzt werden.BVerfGE 98, 218, 251.

Soweit allerdings das Grundgesetz wesentliche Entscheidungen ausdrücklich einem anderen Staatsorgan zuweist, greift insoweit der Parlamentsvorbehalt nicht. In diesen Fällen gilt die speziellere Kompetenzordnung des Grundgesetzes.

Beispiel

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Die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG nach einer gescheiterten Vertrauensfrage des Bundeskanzlers trifft nicht der Bundestag, sondern der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers;

nicht der Bundestag, sondern der Bundeskanzler bestimmt nach Art. 65 S. 1 GG die Richtlinien der Politik der Bundesregierung.

Das Prinzip des Parlamentsvorbehaltes findet sich auch in Art. 80 GG wieder: Danach können die Bundesregierung oder einzelne Minister durch Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen jedoch Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden, s. Rn. 267 ff.

Darüber hinaus wirkt sich der Parlamentsvorbehalt auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union und andere internationale Einrichtungen aus. So schließt nach der Rechtsprechung des BVerfG „das durch Art. 38 GG gewährleistete Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluss zu gewinnen, (…) aus, dieses Recht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird.“BVerfGE 89, 155, 182 – „Maastricht“. Siehe hierzu auch BVerfGE 123, 267 ff. – „Lissabon“ – und BVerfGE 129, 124 ff. – „Euro-Rettungsschirm“.

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