Bevor wir uns die aktuelle Entscheidung näher ansehen, wollen wir uns einmal mit der Entwicklung der letzten Jahre befassen:
Nachdem der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Betreuungsrecht vom 29. Juli 2009 in den §§ 1901a ff BGB die Patientenverfügung geregelt und damit das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt hatte, hat der BGH im Jahr 2010 klargestellt, dass die §§ 1901a ff BGB strafrechtlich eine rechtfertigende Einwilligung in einen medizinischen Behandlungsabbruch darstellen. Dabei hat er die bis dahin künstliche Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe bei medizinischen Behandlungen aufgegeben. Wir haben diese Entscheidung im JURACADEMY Club besprochen unter https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/bgh-aendert-seine-rechtsprechung-zur-sterbehilfe
Im Jahr 2019 ist der BGH dann von seiner Rechtsprechung zur Tötung auf Verlangen durch das Unterlassen von Rettungsbemühungen gem. §§ 216, 13 StGB abgewichen. Sofern ein nach der „Einwilligungslösung“ zu bestimmender, eigenverantwortlicher Suizid vorliegt, gibt es keine Verpflichtung des anwesenden Garanten – z.B. des behandelnden Hausarztes – das Leben nach Eintritt der Bewusstlosigkeit gegen den Willen des Sterbewilligen zu retten. Ein „Überspringen der Tatherrschaft“ soll es mithin in diesen Fällen nicht mehr geben. Näheres dazu finden Sie im JURACADEMY Club unter https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/unterlassen-rettungsbemuehungen-freiverantwortlichen-suizid-strafbar.
Einen solchen Tatherrschaftswechsel hatte der BGH allerdings noch in der „GBL Entscheidung“ im Jahr 2015 angenommen. Allerdings unterschied sich der Sachverhalt dahingehend, dass das dortige Opfer zwar die Gefahr der Überdosierung einer Droge kannte, anders als der Suizident diese Gefahr aber nicht im Tod realisiert sehen wollte. Diese Entscheidung haben wir im JURACADEMY Club ebenfalls besprochen: https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/ueberwachergarant-eigenverantwortliche-selbstgefaehrdung
Im Jahr 2020 hat das BVerfG den § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt. Dieser stellte die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung und damit eine eigentlich straflose Beihilfehandlung unter Strafe. Das BVerfG hat ausgeführt, dass Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG das Recht schützt, sein Leben jederzeit eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und damit einhergehend auch die Freiheit, zur Umsetzung dieses Willens auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Auch diese Entscheidung haben wir unter https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/recht-sterbehilfe im JURACADEMY Club besprochen.
Kommen wir damit zur aktuellen Entscheidung des BGH (Beschluss v. 28. Juni 2022, 6 StR 68/21) und dem zugrundeliegenden Sachverhalt:
O leidet schon seit Jahren unter erheblichen körperlichen Einschränkungen, u.a. auch Diabetes und ist seit 2019 bettlägerig. Aufgrund der zunehmenden, schweren Schmerzen denkt er seit Monaten über einen Suizid nach. Seine Ehefrau E, eine ehemalige Krankenschwester, versorgt ihn und verabreicht ihm auch das Insulin, was A selbst aufgrund seiner zittrigen Hände nicht kann. Als der Zustand schließlich unerträglich wird, beschließt er am 07. August 2019, dass er nun sterben wolle. Gegen 23.00 Uhr bittet er E, ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben. Diese nimmt er zusammen mit einem Glas Wasser alsdann ein. Zudem bittet er E, ihm sämtliche Insulinspritzen zu verabreichen, damit er auch sicher den Tod findet. Dieser Bitte kommt E nach und verabreicht ihm insgesamt 6 Spritzen. Nach Setzen der Spritze ist A noch für einige Minuten bei Bewusstsein, bevor er einschläft. Gegen 3.30 Uhr stellt E den Tod fest. O verstirbt an der Überdosis Insulin, wäre aber auch an den Tabletten verstorben.
Der BGH hat nun zunächst geprüft, ob sich E durch das Setzen der Spritzen gem. § 216 StGB strafbar gemacht haben könnte.
Das Setzen der Spritzen stellt zunächst eine Handlung dar, die kausal zum Tode führte. Dass A wenig später auch an den Tabletten gestorben wäre, ist unerheblich, da alternative Kausalverläufe außer Betracht bleiben. Es kommt nur auf den Eintritt des Erfolges in seiner konkreten Gestalt an.
Problematisch ist nun jedoch, ob das Setzen der Spritze eine täterschaftliche Handlung oder nur eine teilnehmende und damit straflose Handlung ist. Sofern eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung angenommen werden kann, ist die Unterstützungshandlung der E nur eine straflose Teilnahme.
Hinweis
Da der BGH nicht mit der objektiven Zurechnung arbeitet, diskutiert es die Frage nach der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bei der Qualität der Handlung.
Der BGH legt zunächst die Grundsätze dar, anhand derer die Abgrenzung zu erfolgen hat:
„Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom anderen bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor“
Die Abgrenzung einer strafbaren Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid muss nach Auffassung des BGH nun anhand einer „normativen Betrachtung“ vorgenommen werden.
Dabei ist wichtig, ob das Opfer, auch wenn ein anderer die Ursachenreihe setzt, noch die volle Freiheit hat, sich den Auswirkungen zu entziehen. Dies hatte er seinerzeit im sog. „Gisela-Fall“ (Urteil vom 14. August 1963 – 2 StR 181/63) bei einem einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord verneint, bei welchem der Täter auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit des Opfers noch das Gaspedal herunterdrückte und so weitere Auspuffangabe ins Innere des Fahrzeug leitete.
Vorliegend kommt der BGH zu der Auffassung, dass obwohl E dem A die Spritzen gesetzt hat, nicht sie, sondern A das zum Tode führende Geschehen beherrscht hat.
„Danach beherrschte nicht die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen, sondern ihr Ehemann. Dem steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihm das todesursächliche Insulin durch aktives Tun verabreichte. Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich … (das Opfer) in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls „als Zombie zurückkehren“. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein … (das Opfer) bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulin-spritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass … (das Opfer) sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht.
Dies gilt umso mehr, als … (das Opfer) das zu seinem Tod führende Geschehen auch noch beherrschte, nachdem die Angeklagte ihm das Insulin injiziert und ihren aktiven Beitrag damit abgeschlossen hatte. Er blieb anschließend noch eine gewisse Zeit lang bei Bewusstsein und sah eigenverantwortlich davon ab, Gegenmaßnahmen einzuleiten, etwa die Angeklagte aufzufordern, den Rettungsdienst zu alarmieren. Er ließ sich im Gegenteil von ihr versichern, dass sie ihm „alle vorrätigen Spritzen“ gesetzt hatte."
Hinweis
Der Unterschied zum „Gisela-Fall“ sieht der BGH also zum einen darin, dass die Einnahme der Tabletten durch O selbst und das Verabreichen der Spritzen durch A als einheitliches Geschehen betrachtet werden müssen und zudem und vor allem darin, dass im vorliegenden Fall O das Geschehen nach Verabreichen des Insulins und damit nach Abschluss der Tathandlung der A noch beherrschte, da er noch bei Bewusstsein war und Gegenmaßnahmen hätte veranlassen können. Damit musste er die Rechtsfrage nicht nach § 132 GVG den anderen Senaten und ggfs. dem Großen Senat vorlegen.
Mit dieser Argumentation verneint der BGH bereits eine Strafbarkeit gem. § 216 StGB.
Zudem führt er aus, dass § 216 StGB in Ansehung der Rechtsprechung des BVerfG zu § 217 StGB verfassungskonform ausgelegt werden müsse. Dazu führt er folgendes aus:
„Nach den dazu vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das gemäß § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung … entwickelten Grundsätzen gewährleistet Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden und bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen … Ist die Wahrnehmung des Grundrechts von der Einbeziehung dritter Personen abhängig, schützt es auch davor, dass es durch ein Verbot gegenüber Dritten beschränkt wird, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten … In dieses Recht können auch strafrechtliche Normen eingreifen, die sich nicht an den Suizidenten, sondern an die dritten Personen richten….
Der Senat neigt zu der Auffassung, dass die vom Bundesverfassungs-gericht in Bezug auf § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze auf § 216 Abs. 1 StGB übertragbar sind, weil diese Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreift…..Er hält es für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, wonach jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt..“
Der BGH prüft anschließend eine Strafbarkeit gem. §§ 216, 13 StGB. In Übereinstimmung mit seiner Entscheidung aus dem Jahr 2019 (s.o.) lehnt er aber eine Garantenpflicht der A ab. Zwar erwachse aus § 1353 I 2 BGB eine Stellung als Garantin für Leib und Leben des O. Der ohne Wissens- und Verwantwortungsdefizit gefasste Wille des O entbindet A aber aus ihrer Pflicht zu handeln. Der BGH führt dazu folgendes aus:
„ das grundgesetzlich geschützte Selbstbestimmungsrecht gewährt auch die Freiheit, Heilbehandlungen selbst dann abzulehnen, wenn sie lebenswichtig sind, und so über das eigene Leben zu verfügen. Ein in diese Richtung geäußerter Wille ist auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit zu respektieren (vgl. § 1901a BGB), solange er ohne Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizit freiverantwortlich gebildet und umgesetzt wurde und sich später keine Hinweise auf eine Änderung des Sterbewillens ergeben… Deshalb kann eine strafbewehrte Pflicht, den Ehepartner zu retten, wenn dieser infolge einer freiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung eingeschlafen ist, fortan keinen Bestand haben.“
Da er eine Strafbarkeit gem. § 216 StGB vor allem wegen der nach Verabreichen der Spritzen verbliebenen Entscheidungsmöglichkeit und -freiheit des O verneint hat, prüft der BGH nun noch kurz, ob evtl. eine Strafbarkeit gem. §§ 216, 22, 23 StGB in Betracht kommen könnte. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn A beim Setzen der Spritzen die Vorstellung (=Tatentschluss) gehabt hätte, A werde direkt danach in die Bewusstlosigkeit fallen und hätte somit keine Möglichkeit mehr, Entscheidungen über Rettungsmaßnahmen zu treffen. Dann hätte sich ihr Tatentschluss auf die täterschaftliche Tötung eines anderen bezogen. Da es dafür keine Anhaltspunkte gab, verneint der BGH auch eine solche Strafbarkeit.
Eine Strafbarkeit gem. § 323c StGB scheitert an der Zumutbarkeit der Hilfeleistung bei freiverantwortlichem Suizid.