Nimmt ein Dritter an einem freiverantwortlichen Suizid teil, indem er z.B. die tödlichen Medikamente besorgt und/ oder nach Eintritt der Bewusstlosigkeit es unterlässt, den Notarzt zu rufen, stellt sich die Frage, ob diese eine straflose Teilnahme oder aber evtl. eine Tötung in mittelbarer Täterschaft, bei der das Werkzeug das Opfer selber ist, bzw. eine Tötung durch Unterlassen ist.
Das wesentliche Kriterium, welches in Klausuren an unterschiedlichen Stellen geprüft werden muss, ist die „eigenverantwortliche Selbstgefährdung“.
Bei der mittelbaren Täterschaft schließt sie eine Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens oder Wollens aus, das Verhalten des Opfers kann dem Täter also nicht über § 25 I 2. Alt StGB zugerechnet werden.
Bei der Tötung durch Unterlassen kann sie entweder die objektive Zurechnung ausschließen oder aber (insbesondere, wenn man bei Vorsatzdelikten die objektive Zurechnung nicht als solche prüft, so der BGH) die Garantenstellung bzw. die sich daraus ergebende Garantenpflicht.
Mit dieser Abgrenzung musste sich der BGH nun in seiner neuen Entscheidung auseinandersetzen. Der Entscheidung (Urt. v. 03.07.2019 / 5 StR 393/18 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
D litt seit ihrem 16.Lebensjahr an einem sehr schmerzhaften Reiz-Darm-Syndrom, welches durch rezidivierende Harnwegsinfektionen und wiederkehrende Analfisteln begleitet wurde. Sämtliche Therapieversuche waren erfolglos geblieben, eine Besserung nicht in Sicht. Die Lebensqualität der D war dadurch so stark eingeschränkt, dass sie über Jahre hinweg den Wunsch äußerte, sterben zu wollen. Sie hatte aus diesem Grund auch bereits mehrfach Suizidversuche unternommen. Am 08. Februar 2013 wandte sie sich deswegen an den behandelnden Hausarzt A, dem die Kranken- und Leidensgeschichte der D bekannt war, mit der Bitte, sie bei ihrer Selbsttötung zu unterstützen. A, der überzeugt war, D in einer solchen Situation nicht im Stich lassen zu können, stellte 2 Rezepte über das Medikament „Luminal“ aus, von denen er mindestens eines selber einlöste und D alsdann das Medikament übergab. D übergab A ihren Hausschlüssel mit der Bitte, sie nach Einnahme der Medikamente zu betreuen. Am 16. Februar 2013 nahm D gegen 14.00 Uhr bei klarem Verstand und in vollem Bewusstsein dessen, was sie tat die Medikamente selber ein. Danach informierte sie A per Kurznachricht, der sich wenig später in ihre Wohnung begab. Er fand sie komatös mit normalen Vitalwerten auf dem Bett liegend vor. Bis zum Tod der D um 04.30 Uhr am 19.Februar 2013 besuchte A sie mehrfach, verabreichte ihr intravenös sowohl krampflösende Medikamente als auch Medikamente, die ein Erbrechen verhinderten. Beide Medikamente waren aber nicht kausal für den Todeseintritt. Ob D durch notärztliche Sofortmaßnahmen hätte gerettet werden können nach Eintritt der Bewusstlosigkeit, konnte nicht festgestellt werden.
Der BGH hat nun zunächst geprüft, ob sich A wegen eines vollendeten Tötungsdelikts durch aktives Tun (§§ 212, 216 StGB) strafbar gemacht haben könnte, indem er die Medikamente besorgte, die D dann selber einnahm. Dies hat er mit folgender Begründung verneint:
„Für die Abgrenzung einer straflosen Beihilfe zur Selbsttötung von der täterschaftlichen Tötung eines anderen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblich, wer in Vollzug des Gesamtplans die Herrschaft über das zum Tode führende Geschehen ausübt .... Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe ….“
Expertentipp
In einer Klausur wäre das bei der objektiven Zurechnung zu diskutieren gewesen. Es hätte – ausführlicher als der BGH das an dieser Stelle tut – danach gefragt werden müssen, ob nicht in der Einnahme der Medikamente eine „eigenverantwortliche Selbstgefährdung“ des Opfers liegen könnte. Dabei wird die „Selbstgefährdung“ danach bestimmt, wer das zum Tod führende Geschehen beherrscht. Diese Beherrschung lag hier, so der BGH, bei D, die die Medikamente selber einnahm. Wonach sich die „Eigenverantwortlichkeit“ bestimmt, führt der BGH dann nachfolgend bei der mittelbaren Täterschaft aus.
Der BGH prüft nun weiter, ob dem A die Tathandlung der D nicht evtl. über § 25 I 2. Alt StGB zugerechnet werden könnte. Dies setzt allerdings eine Überlegenheit des Hintermannes voraus. Diese Überlegenheit liegt nicht vor, wenn sich das Opfer eigenverantwortlich selbst gefährdet. Der BGH führt dazu folgendes aus:
„Eine Benutzung des Suizidenten als „Werkzeug“ gegen sich selbst kann unter anderem gegeben sein, wenn dieser seinen Selbsttötungsentschluss aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizits nicht freiverantwortlich gebildet hat .... Befindet sich der Suizident – vom „Suizidhelfer“ erkannt – in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage, kann sich das Verschaffen der Möglichkeit des Suizids als in mittelbarer Täterschaft begangenes Tötungsdelikt darstellen ... Freiverantwortlich ist demgegenüber ein Selbsttötungsentschluss, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des Entschlusses gegeben sind ... Zum Ausschluss der Freiverantwortlichkeit müssen konkrete Umstände festgestellt werden ... Als solche kommen insbesondere Minderjährigkeit des Opfers oder krankheits- sowie intoxikationsbedingte Defizite in Frage ... Der Selbsttötungsentschluss kann auch dann mangelbehaftet sein, wenn er auf Zwang, Drohung oder Täuschung durch den Täter beruht ... Dasselbe gilt, wenn er einer bloßen depressiven Augenblicksstimmung entspringt, mithin nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen ist ....“
Da D einsichts- und urteilsfähig war und auch keine Willensmängel vorlagen, kann eine „Eigenverantwortlichkeit“ der Selbstgefährdung angenommen werden. Damit scheidet eine mittelbare Täterschaft aus.
Der BGH ist mit seinen Ausführungen der „Einwilligungslösung“ gefolgt, wonach sich die „Eigenverantwortlichkeit“ nach den beiden „subjektiven“ Kriterien der rechtfertigenden Einwilligung bemisst. Danach muss das Opfer (1) einsichts- und urteilsfähig sein und (2) der Wille muss frei von Täuschung, Drohung oder Zwang gebildet worden sein. In der Literatur wird teilweise die „Schuldlösung“ vertreten. Auch mit dieser Auffassung setzt sich der BGH vorliegend auseinander:
„Auch unter Zugrundelegung der innerhalb des Schrifttums für einen freiverantwortlichen Suizidentschluss formulierten Kriterien ist von einem solchen auszugehen... Frau D. befand sich nicht in einem Zustand, der entsprechend §§ 19, 20, 35 StGB zu einem Verantwortlichkeitsausschluss führen würde.“
Schließlich prüft der BGH, ob sich A nicht gem. §§ 212, 216, 22, 23 13 StGB strafbar gemacht haben könnte, indem er es unterließ, ärztliche Notfallmaßnahmen zur Rettung zu ergreifen, nachdem bei D die Bewusstlosigkeit eingetreten war.
In der sog. „Peterle“ Entscheidung aus dem Jahr 1984 (Urt. v. 4. Juli 1984 – 3 StR 96/84) hatte der BGH seinerzeit ausgeführt, dass ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Bewusstlosigkeit die Tatherrschaft auf den zufällig anwesenden Garanten „übergehe“, so dass ab diesem Moment keine „eigenverantwortliche Selbstgefährdung“ mehr angenommen werden könne. Diesen Tatherrschaftswechsel nimmt er nun nicht mehr an.
Expertentipp
Denken Sie daran, dass der BGH bei Vorsatzdelikten die objektive Zurechnung nicht prüft. Die Abgrenzung, um die es hier geht, nimmt er bei der Garantenstellung vor. Sie könnten sie in einer Klausur auch erneut bei der objektiven Zurechnung vornehmen, indem Sie danach fragen ob nicht nach wie vor eine „eigenverantwortliche Selbstgefährdung“ angenommen werden könnte.
Der BGH führt zunächst aus, dass sich die Garantenstellung vorliegend aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis ergebe, welches mit einem besonderen Vertrauen einhergehe und dadurch eine Schutzposition für Leib und Leben begründe. Dann stellt er allerdings fest:
„Die Garantenstellung des Arztes für das Leben seines Patienten endet, wenn er vereinbarungsgemäß nur noch dessen freiverantwortlichen Suizid begleitet.“
Der BGH begründet dies wie folgt:
aa) Die (Patienten-)Autonomie, die Entscheidungen über das Geschehenlassen des eigenen Sterbens umfasst, hat in der jüngeren Vergangenheit in Abwägung mit dem Auftrag zum Schutz des menschlichen Lebens … eine erhebliche Aufwertung erfahren.
(1) Nach dem Grundgesetz ist jeder Mensch grundsätzlich frei, über den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden (BVerfG, NJW 2017, 53, 56). Die Rechtsprechung leitet aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eine „Freiheit zur Krankheit“ ab, die es grundsätzlich einschließt, Heilbehandlungen auch dann abzulehnen, wenn sie medizinisch angezeigt sind ….
Selbst bei lebenswichtigen ärztlichen Maßnahmen schützt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten eine Entschließung, die aus medizinischen Gründen unvertretbar erscheint… Das Grundgesetz garantiert dem Individuum das Recht, in Bezug auf die eigene Person aus medizinischer Sicht Unvernünftiges zu tun und sachlich Gebotenes zu unterlassen … Jeder einwilligungsfähige Kranke hat es danach in der Hand, eine lebensrettende Behandlung zu untersagen und so über das eigene Leben zu verfügen. …
(2) Darüber hinausgehend gebietet es die Würde des Menschen, sein in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist …. Mit der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung in § 1901a BGB durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I 2286) hat der Gesetzgeber die Verbindlichkeit des Willens des Patienten für Behandlungsentscheidungen über den Zeitpunkt des Eintritts seiner Einwilligungsunfähigkeit hinaus klarstellend anerkannt, wobei es auf Art und Stadium der Erkrankung nicht ankommt (§ 1901a Abs. 3 BGB). Dabei ging auch er davon aus, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen „das Recht zur Selbstgefährdung bis hin zur Selbstaufgabe und damit auch auf Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen unabhängig von der ärztlichen Indikation der Behandlung“ einschließt (BT-Drucks. 16/8442, S. 8). Der Bundesgerichtshof hat demgemäß einen Behandlungsabbruch – losgelöst von der Begehungsform – als gerechtfertigt angesehen, wenn er in Ansehung von § 1901a BGB dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09, BGHSt 55, 191, 199, 203 f.).
(3) Weitergehend leitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Art. 8 EMRK das Recht einer Person her zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden soll (EGMR, NJW 2011, 3773, 3774; 2013, 2953, 2955 f.). Auch wenn im Bereich der Konventionsstaaten derzeit kein Konsens hinsichtlich der Frage der Strafbarkeit eines assistierten Suizids besteht und deshalb den nationalen Gerichten in diesem Zusammenhang ein erheblicher Ermessensspielraum eingeräumt ist (EGMR, aaO), kommt der Auslegung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch den EGMR im Rahmen der verfassungs- und konventionskonformen Anwendung der §§ 216, 13 StGB eine Orientierungs- und Leitfunktion zu (vgl. zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf die Rechtsanwendung durch die nationalen Gerichte BVerfGE 111, 307, 320; 128, 326, 368 ff.; BVerfG, NJW 2019, 41, 43).
(4) Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des EGMR hat das Bundesverwaltungsgericht dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen entnommen, „zu entscheiden wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln.“ Hiermit sei die ausnahmslose Beschränkung des Zugangs zu die schmerzlose und sichere Selbsttötung ermöglichenden Betäubungsmitteln im Falle einer durch seine Krankheit begründeten extremen Notlage des Suizidwilligen unvereinbar (BVerwGE 158, 142, 152; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2019 – 3 C 6/17).
(5) Die herrschende Auffassung im Schrifttum entnimmt dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Suizidenten einen unterschiedlich weitgehenden „Anspruch, in Ruhe sterben zu können“ (vgl. Maunz/Dürig/Di Fabio, 84. EL, Art. 2 Abs. 1 Rn. 205; Müller-Terpitz in Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., § 147 Rn. 101; Roxin, NStZ 2016, 185, 186; Saliger, medstra 2015, 132, 135; Gärditz, ZfL 2017, 38, 41 f.). Deshalb könne ein Arzt oder ein Dritter, der den ernstlichen Wunsch nach Behandlungseinstellung achtet, nicht wegen eines Tötungsdelikts belangt werden (vgl. Maunz/Dürig/Di Fabio, aaO)“
Schließlich macht der BGH noch deutlich, dass sich die Beurteilung auch dann nicht ändere, wenn man in dem Besorgen der Medikamente ein pflichtwidriges Vorverhalten sähe, welches grds. eine Garantenstellung aus Ingerenz begründen könne, da D „…im Anschluss hieran die Tabletten freiverantwortlich selbst eingenommen (hat), so dass das Risiko für die Verwirklichung der durch das Vorverhalten des Angeklagten gegebenenfalls erhöhten Gefahr allein in ihrem Verantwortungsbereich lag.“
Eine Strafbarkeit gem. §§ 212, 216, 22, 23, 13 StGB scheidet damit aus.
Bleibt zum Schluss noch die Frage zu klären, ob A sich gem. § 323c I StGB strafbar gemacht haben könnte. Der BGH bejaht zwar das Vorliegen eines Unglücksfalles, verneint aber für A die Zumutbarkeit der Hilfeleistung.