Inhaltsverzeichnis
- D. Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)
- I. Überblick
- II. Eröffnung des Schutzbereichs
- 1. Sachlicher Schutzbereich
- a) Begriff der Freiheit der Person
- b) Positive Bewegungsfreiheit
- aa) Fortbewegungsfreiheit
- bb) Hinbewegungsfreiheit
- c) Negative Bewegungsfreiheit
- 2. Persönlicher Schutzbereich
- III. Eingriff in den Schutzbereich
- 1. Freiheitsentziehung
- 2. Sonstige Freiheitsbeschränkungen
- IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
- 1. Schrankenvorbehalt
- 2. Verfahrensregeln für Einschränkungen
- 3. Verhältnismäßigkeit
D. Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)
I. Überblick
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Expertentipp
Lesen Sie unbedingt zunächst Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 GG aufmerksam durch, damit Sie gleich das Verhältnis beider Bestimmungen zueinander verstehen!
Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleistet zusammen mit Art. 104 GG die Freiheit der Person. Diese bildet die Grundlage der allgemeinen Rechtsstellung und der Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, so dass ihr unter den Grundrechten ein hoher Rang zukommt.
Vgl. BVerfGE 65, 317. Als Grundrecht steht die Freiheit der Person in der Tradition des „habeas corpus“, das das älteste Menschenrecht darstellt und in allen Menschenrechtskatalogen enthalten ist.Vgl. Ipsen Staatsrecht II Rn. 265. Es regelt das Festhalten von Personen und soll insbesondere vor willkürlicher Verhaftung schützen.Vgl. näher dazu Hufen Staatsrecht II § 21 Rn. 1 f. Auch wenn Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 GG aus redaktionellen Gründen an verschiedenen Stellen im Grundgesetz stehen, bilden sie gleichwohl eine Einheit, die sich graphisch wie folgt darstellen lässt:252
Danach enthält Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG das Freiheitsrecht, nämlich die Freiheit der Person. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthält einen Schrankenvorbehalt, der durch Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG qualifiziert wird. Art. 104 GG ist kein eigenständiges Grundrecht, sondern legt Verfahrensregeln bei Freiheitsbeschränkungen im weiteren Sinne fest.
Vgl. Sodan/Ziekow-Sodan Grundkurs Öffentliches Recht § 29 Rn. 1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG prüfen Sie wie folgt:
Prüfungsschema
Wie prüft man: Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)
I. | Eröffnung des Schutzbereichs |
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| 1. | Sachlicher Schutzbereich |
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| a) | Begriff der Freiheit der Person |
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| b) | Positive Bewegungsfreiheit |
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| aa) | Fortbewegungsfreiheit |
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| bb) | Hinbewegungsfreiheit |
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| Hinbewegungsfreiheit | Rn. 258 f. |
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| c) | Negative Bewegungsfreiheit |
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| Negative Bewegungsfreiheit | Rn. 260 ff. | |
| 2. | Persönlicher Schutzbereich |
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II. | Eingriff in den Schutzbereich |
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| 1. | Freiheitsentziehung |
| |||
| 2. | Sonstige Freiheitsbeschränkung |
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III. | Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs |
| ||||
| 1. | Schrankenvorbehalt |
| |||
| 2. | Verfahrensregeln für Einschränkungen |
| |||
| 3. | Verhältnismäßigkeit |
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II. Eröffnung des Schutzbereichs
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Ihre Grundrechtsprüfung beginnen Sie mit der Frage, ob der sachliche Schutzbereich und der persönliche Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eröffnet sind.
1. Sachlicher Schutzbereich
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Die Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs prüfen Sie in drei Schritten:
a) Begriff der Freiheit der Person
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Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die Freiheit der Person, d.h. die körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen.
Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 496. Zwar lässt der Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG vermuten, dass sogar die Freiheit von jeglichem staatlichem Zwang gewährleistet sein könnte; die Entstehungsgeschichte (Anlehnung an den habeas corpus-Gedanken, s.o. Rn. 251), Art. 104 GG und der Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sprechen aber für eine Beschränkung des Gewährleistungsinhalts auf die körperliche Bewegungsfreiheit.b) Positive Bewegungsfreiheit
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Unter die körperliche Bewegungsfreiheit fällt zunächst die sog. positive Bewegungsfreiheit.
aa) Fortbewegungsfreiheit
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Unter die positive Bewegungsfreiheit fällt unstreitig die Freiheit des Einzelnen, sich von einem Ort fortzubewegen und jeden beliebigen anderen Ort aufzusuchen (sog. Fortbewegungsfreiheit). Dort, wo man nicht bleiben will, muss man auch nicht bleiben.
Beispiel
C sitzt in einer Vorlesung. Da sie das Thema der Vorlesung nicht interessiert, entschließt sie sich, die Vorlesung vorzeitig zu verlassen. – Jeder Mensch hält sich zu jeder Sekunde an einem bestimmten Ort auf. Normalerweise kann er diesen Ort aus eigenem Entschluss verlassen. So ist es auch bei C. Sie kann sich in Ausübung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG von ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort, dem Hörsaal, fortbewegen, mag dies dem Dozenten auch missfallen.
bb) Hinbewegungsfreiheit
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Umstritten ist, ob die positive Bewegungsfreiheit auch die Freiheit umfasst, sich zu einem bestimmten Ort hinzubewegen (sog. Hinbewegungsfreiheit), d.h. einen bestimmten Ort aufzusuchen.
Beispiel
Die Polizei hat den Pariser Platz in Berlin abgesperrt, weil ausländische Staatsgäste in drei Stunden das Brandenburger Tor besuchen werden. K ist als Tourist in Berlin. Der Pariser Platz ist für ihn daher ein Muss. Die Polizei kennt jedoch keine Gnade und erteilt K einen Platzverweis.
259
Nach einer Ansicht garantiert das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG das Recht, jeden Ort aufzusuchen.
Vgl. z.B. Sachs-Murswiek Art. 2 Rn. 229. Dies umfasst die Freiheit, einen bestimmten Ort aufzusuchen. In unserem Beispiel oben (Rn. 258) kann sich K nach dieser Ansicht daher auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG berufen. – Nach anderer Ansicht, zu der auch das Bundesverfassungsgericht gehört, wird das Recht, einen bestimmten Ort aufzusuchen, demgegenüber nicht vom Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG umfasst.Vgl. BVerfGE 94, 166. Das Recht, einen bestimmten Ort aufzusuchen, soll durch das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG geschützt sein.Vgl. Ipsen Staatsrecht II Rn. 265. Nach dieser Ansicht kann sich K nicht auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, wohl aber auf die Freizügigkeit berufen.c) Negative Bewegungsfreiheit
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Umstritten ist außerdem, ob die körperliche Bewegungsfreiheit auch eine sog. negative Bewegungsfreiheit gewährleistet, d.h. die Freiheit, einen bestimmten Ort zu meiden bzw. nicht zu verlassen.
Beispiel
M schert sich im Allgemeinen nicht um Verkehrsregeln. Dies ist ihm teuer zu stehen gekommen. Inzwischen hat er etliche Punkte in Flensburg und musste mehrfach Bußgelder bezahlen. Deshalb verpflichtet ihn die zuständige Straßenverkehrsbehörde – gestützt auf § 48 StVO –, an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen. Die Ladung zum Verkehrsunterricht enthält den Hinweis, dass M bei Nichterscheinen eine Ordnungswidrigkeit begeht, die mit Bußgeld geahndet werden kann.
261
Nach einer in der Literatur teilweise vertretenen Ansicht gewährleistet das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auch die sog. negative Bewegungsfreiheit. Das Gebot, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufzuhalten, enthalte ein Bündel von Verboten, andere Orte aufzusuchen.
Vgl. bei Sodan/Ziekow-Sodan Grundkurs Öffentliches Recht § 29 Rn. 3 m.N. Auf der Grundlage dieser Ansicht kann sich M in unserem Beispiel oben (Rn. 260) auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG berufen, denn die Ladung zum Verkehrsunterricht, der zu festen Zeiten stattfindet, verbietet ihm, in dieser Zeit andere Orte aufzusuchen.262
Nach anderer Ansicht, zu der auch das Bundesverfassungsgericht gehört,
Vgl. BVerfGE 22, 21. ist demgegenüber eine Berufung auf das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ausgeschlossen. Ungeachtet möglicher Sanktionen bleibt die körperliche Bewegungsfreiheit als solche erhalten. In unserem Beispiel oben (Rn. 260) kann sich M nach dieser Ansicht demnach nicht auf die Freiheit der Person berufen. Etwas anderes würde nach dieser Ansicht nur gelten, wenn M mit staatlichem unmittelbarem Zwang zum Verkehrsunterricht gebracht würde.2. Persönlicher Schutzbereich
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In den persönlichen Schutzbereich des Jedermann-Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG fallen alle natürlichen Personen, und zwar unabhängig von ihrer Geschäftsfähigkeit. Auf juristische Personen und Personenvereinigungen ist das Grundrecht dagegen nicht anwendbar.
Vgl. Manssen Staatsrecht II Rn. 311.III. Eingriff in den Schutzbereich
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Expertentipp
Diese Unterscheidung ist wichtig für das allgemeine Verständnis des Art. 104 GG und für die spätere Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Eingriffen!
Ist der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eröffnet, prüfen Sie, ob ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.
In die Freiheit der Person wird durch Freiheitsbeschränkungen im weiteren Sinne eingegriffen. Dazu gehören die Freiheitsentziehung (Freiheitsbeschränkung im engeren Sinne) und sonstige Freiheitsbeschränkungen. Art. 104 GG nennt beide Arten von Eingriffen.
1. Freiheitsentziehung
265
Definition
Freiheitsentziehung
Freiheitsentziehung ist eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit, die auf einen eng umgrenzten Raum und nicht nur kurzfristig erfolgt.
Bei der Freiheitsentziehung handelt es sich um eine spezielle Freiheitsbeschränkung. Sie ist die gravierendste Form von Freiheitsbeschränkung. Sie beschränkt die körperliche Bewegungsfreiheit räumlich und zeitlich: In räumlicher Hinsicht bedeutet Freiheitsentziehung, dass die körperliche Bewegungsfreiheit auf einen eng umgrenzten Raum beschränkt wird. In zeitlicher Hinsicht bedeutet Freiheitsentziehung, dass die körperliche Bewegungsfreiheit nicht nur kurzfristig erfolgt.
Beispiel
Freiheitsentziehungen sind z.B. Freiheitsstrafe, Untersuchungshaft, Unterbringung in geschlossenen Anstalten, Arrest, nicht nur kurzfristige Fixierung von Patienten.
Vgl. BVerfG NJW 2018, 2619.
2. Sonstige Freiheitsbeschränkungen
266
Definition
Sonstige Freiheitsbeschränkungen
Sonstige Freiheitsbeschränkungen sind alle Maßnahmen, die keine Freiheitsentziehung darstellen.
Sonstige Freiheitsbeschränkungen sind Maßnahmen, die den Einzelnen durch physischen Zwang oder Drohung daran hindern, einen begrenzten Raum zu verlassen. In zeitlicher Hinsicht sind die sonstigen Freiheitsbeschränkungen auf die Dauer der Durchführung einer bestimmten Maßnahme begrenzt.
Beispiel
L und X waren in eine Massenschlägerei verwickelt. Da sich beide gegenüber der Polizei nicht ausweisen können, nimmt die Polizei die beiden mit auf die Wache. Danach dürfen L und X wieder nach Hause gehen. – Die zwangsweise Mitnahme des L und X auf die Wache beschränkt die beiden Personen nur während der Dauer der Feststellung und der Aufnahme ihrer Personalien in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit.
IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
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Bejahen Sie einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, prüfen Sie anschließend in drei Schritten die Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs:
1. Schrankenvorbehalt
268
Wie die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (s.o. Rn. 240) steht das Grundrecht auf Freiheit der Person unter dem Vorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, nach dem in die Freiheit der Person „aufgrund eines Gesetzes“ eingegriffen werden kann. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG überlagert jedoch den einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG und normiert eine qualifizierte Schranke für die Eingriffe in die Freiheit der Person. Erforderlich ist für alle Freiheitsbeschränkungen daher ein formelles Gesetz.
2. Verfahrensregeln für Einschränkungen
269
Expertentipp
Arbeiten Sie diese Passage des Skripts unbedingt parallel mit dem Gesetzestext durch!
Einschränkungen der Freiheit der Person sind nicht allein am Maßstab des formellen Gesetzes i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zu messen. Vielmehr müssen auch die Verfahrensregeln, die Art. 104 GG im Weiteren festlegt, eingehalten werden. Im Überblick gilt folgendes:
270
Expertentipp
Lesen Sie die zitierten Bestimmungen! Aus Platzgründen werden sie hier nicht im Einzelnen dargestellt. Wichtig ist, dass Sie die Bestimmungen kennen und vor allem mit ihrer Systematik vertraut sind. Detailwissen benötigen Sie nicht.
Bei Freiheitsentziehungen sind – neben Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG – die Verfahrensregeln des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG sowie Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG zu beachten.
S. hierzu BVerfGE 105, 239 – Abschiebehaft. Bei sonstigen Freiheitsbeschränkungen ist – neben Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG – dagegen nur die Verfahrensregel des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG zu berücksichtigen.Expertentipp
Achten Sie bei der Fallbearbeitung auf Anhaltspunkte im Sachverhalt, die darauf hindeuten, dass Verfahrensregeln des Art. 104 GG verletzt sein könnten. Denken Sie aber daran: Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG gelten nur für Freiheitsentziehungen!
3. Verhältnismäßigkeit
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Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen, dass die Freiheit der Person ein hohes Rechtsgut darstellt.
Vgl. BVerfGE 22, 180. Einschränkungen sind daher nur aus besonders gewichtigen Gründen zulässig.Vgl. BVerfGE 65, 317; zur mangelnden Erforderlichkeit eines mehrstündigen polizeilichen Festhaltens zwecks Identitätsfeststellung BVerfG (K) NVwZ 2011, 743; zur Sicherungsverwahrung BVerfGE 128, 326. Vor allem bei der Untersuchungshaft, die vielfach Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen war, ist zu bedenken, dass sich „das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird“.Vgl. BVerfGE 53, 152; 128, 326.