III. Eingriff in den Schutzbereich
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Ist der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eröffnet, prüfen Sie in zwei Schritten, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit vorliegt:
1. Vorliegen eines Eingriffs
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Eingriffe in das Recht auf Leben bestehen zunächst in jedem Entzug oder jeder Gefährdung des Lebens.
Beispiel
Ein Eingriff in das Leben stellt ohne Zweifel die staatlich veranlasste Tötung eines Menschen dar, z.B. durch die Vollstreckung der Todesstrafe, durch den finalen polizeilichen Todesschuss oder den finalen Rettungsabschuss gemäß § 14 Abs. 3 LuftSiG;
Vgl. dazu BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz. bei der Sterbehilfe, die das Sterben erleichtert, ohne das Leben zu verkürzen, oder auch das Leben entsprechend dem Willen des Patienten verkürzt, soll dies jedoch nicht zwingend der Fall sein.Vgl. dazu Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 473.233
Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit bestehen ferner in jeder Antastung der körperlichen Unversehrtheit. Solche Eingriffe liegen nicht nur dann vor, wenn Schmerzen zugefügt oder empfunden werden, sondern auch, wenn die Gesundheit geschädigt oder gefährdet wird.
Beispiel
Menschenversuche; Zwangskastration; Zwangssterilisation; Impfzwang;
Vgl. BVerwGE 9, 78. körperliche Strafen und Züchtigungen; Blutentnahme; Verabreichung von Brechmitteln;Vgl. BVerfG (K) NStZ 2000, 96. Erteilung oder Versagung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung;Vgl. Hufen Staatsrecht II § 13 Rn. 11. Unterbringung eines Strafgefangenen mit anderen rauchenden Mitgefangenen.Vgl. BVerfGK 20, 249.234
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass als Eingriffe in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowohl klassische Eingriffe als auch faktische bzw. mittelbare Eingriffe in Betracht kommen.
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Umstritten ist, ob ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit vorliegt, wenn diese nur unwesentlich beeinträchtigt wird.
Beispiel
Der Bundesminister für Verteidigung ordnet an, dass alle männlichen Soldaten ihr Kopfhaar nur noch nach bestimmten Regeln tragen dürfen.
Beispiel
Die Polizei hat endlich den brutalen Räuber G gefasst. Äußerlich ist er kaum wiederzuerkennen, nachdem er sich auf seiner mehrmonatigen Flucht lange Haare und einen Vollbart wachsen gelassen hatte. Zwecks Identifizierung kürzt die Polizei ihm unter Anwendung von Gewalt die Kopf- und Barthaare.
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In unserem Beispiel 1 (oben Rn. 235) ist umstritten, ob überhaupt ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vorliegt. Nach einer Ansicht ist dies wegen der Geringfügigkeit des Eingriffs nicht der Fall. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt nach dieser Ansicht nicht gegen jede als unangenehm empfundene Einwirkung auf den Körper.
Vgl. BVerwGE 46, 1. In einem solchen Fall ist nach dieser Ansicht nur das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG einschlägig.Vgl. BVerwGE 125, 85. Nach anderer Ansicht liegt dagegen ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor.Vgl. Sachs-Murswiek Art. 2 Rn. 154. Die Geringfügigkeit des Eingriffs kann aber bei der Verhältnismäßigkeit der Anordnung berücksichtigt werden.Vgl. allgemein Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 474.Expertentipp
In der Fallbearbeitung ist auch hier wieder entscheidend, dass Sie das Problem erkennen, die verschiedenen Ansichten fallbezogen erörtern und sich mit eigenen Argumenten einer Ansicht anschließen.
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Nicht umstritten ist demgegenüber die Lösung in unserem Beispiel 2 (oben Rn. 235). Da die Kürzung des Kopf- und Barthaares hier zwangsweise durch die Polizei erfolgt, liegt ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor.
Vgl. BVerfGE 47, 239.2. Einwilligung
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Ein Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann zu verneinen sein, wenn der Betroffene zuvor in den Eingriff eingewilligt hat.
Vgl. Dreier-Schulze-Fielitz GG I Art. 2 II Rn. 55.Beispiel
Eine ärztliche Heilbehandlung greift nicht in die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen ein, wenn er zuvor in die Behandlung eingewilligt hat.
Vgl. Kingreen/Poscher Grundrechte Rn. 474.Beispiel
Ein im Maßregelvollzug untergebrachter Mensch darf nur dann gegen seinen natürlichen Willen medizinisch zwangsbehandelt werden, wenn er krankheitsbedingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig ist. Maßnahmen der medizinischen Zwangsbehandlung dürfen nur als ultima ratio und nur dann vorgenommen werden, wenn sie hinsichtlich des Behandlungsziels, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Zum Schutz der Grundrechte des Betroffenen sind besondere verfahrensmäßige Sicherungen geboten. Die wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der medizinischen Zwangsbehandlung bedürfen einer klaren und bestimmten gesetzlichen Regelung. Dies gilt auch für die Anforderungen an das Verfahren.
Vgl. BVerfGE 128, 282; 129, 269.Hinweis
Bei der Zwangsbehandlung eines Untergebrachten liegt ein Eingriff auch dann vor, wenn ein Betreuer des Untergebrachten in die Maßnahme eingewilligt hat. Die Einwilligung lässt den Eingriff, der darin liegt, dass die Maßnahme gegen den natürlichen Willen des Betroffenen erfolgt, unberührt.
Vgl. BVerfGE 10, 302.