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H. Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193
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§ 193 ist ein besonderer Rechtfertigungsgrund, der neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen Anwendung findet. Gerechtfertigt sind allerdings nur Beleidigungen und üble Nachreden gem. den §§ 185, 186. Im Falle einer Verleumdung, bei welcher der Täter die Unwahrheit der verbreiteten Tatsache kennt, oder der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener ist eine Rechtfertigung gem. § 193 nicht möglich.
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Bei § 193 geht es im Wesentlichen um eine Güter- und Interessenabwägung im Falle einer Interessenkollision. Die Handlung des Täters muss bei Abwägung der widerstreitenden Interessen und unter dem Blickwinkel der tangierten Grundrechte das angemessene Mittel zur Erreichung eines berechtigten Zwecks sein.BVerfGE 24, 278.
Expertentipp
Die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit sollten Ihnen von § 34 bekannt sein. Wenn nicht, wiederholen Sie die Rechtfertigungsgründe des StGB, dargestellt im Skript „Strafrecht AT I“.
Dabei werden Sie auch auf den Streit stoßen, ob ein subjektives Rechtfertigungselement erforderlich ist und wie es sich auswirkt, wenn der Täter zwar objektiv gerechtfertigt ist, subjektiv davon aber keine Kenntnis hat!
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Es kommt insoweit jedes öffentliche oder private, ideelle oder vermögensrechtliche Interesse in Frage, soweit es von der Rechtsordnung als schutzwürdig anerkannt ist.Lackner/Kühl § 193 Rn. 5.
Eine Rechtfertigung über § 193 ist nicht bei einer Formalbeleidigung gem. § 192 oder bei reiner Schmähkritik möglich. Unter Schmähkritik versteht man Äußerungen, bei denen nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.BVerG NJW 2008, 2424; JA 2019, 796 Auch hier ist der Kontext zu beachten: erfolgt die Äußerung im Rahmen öffentlicher Meinungsbildung, so hat der Betroffene in der Regel mehr hinzunehmen als bei rein privaten Äußerungen.
Beispiel
In einer Auseinandersetzung über das Bestehen einer Geldforderung meldet sich Rechtsanwalt R für seinen Mandanten und weist die Ansprüche zurück. Dem gegnerischen Anwalt erklärt er, er habe sich eines Verbrechens der Erpressung strafbar gemacht und werde von der StA hören. Das BVerfGBVerG NJW 2008, 2424 hat ausgeführt, dass ein Anwalt bei der Interessenwahrnehmung auch „starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte“ benutzen dürfe und eine Rechtfertigung über § 193 bejaht.
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Berechtigt ist das Interesse, wenn es unmittelbares oder mittelbares eigenes Interesse des Täters ist. Es ist ausreichend, dass ihm diese Belange so nahe gehen, dass er sich nach vernünftigem Ermessen zu ihrem Verfechter aufwerfen darf.RGSt 63, 231.
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Interessen der Allgemeinheit, wie z.B. das Interesse an einer Strafverfolgung, berühren jeden Bürger. § 193 greift dann zugunsten des Täters, wenn es Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat gibt, ohne dass der Anzeigende hiervon voll überzeugt sein muss. Die Aufklärung des Vorliegens der Straftat ist sodann Aufgabe der zuständigen Behörden.OLG Köln NJW 1997, 1247.
Beispiel
A befindet sich in einer Erbauseinandersetzung mit seiner Schwester. Um deren Erbunwürdigkeit beweisen zu können, erstattet er bei der Polizei Strafanzeige mit der Behauptung, S habe wegen finanzieller Schwierigkeiten die Erblasserin getötet. Dabei hat A aber weder nähere Kenntnisse über die finanzielle Situation der Schwester noch hat er Anhaltspunkte, die seine Behauptung stützen können.
Hier hat das BVerfGBVerfG NJW 2006, 2318 § 193 verneint, da A die Behauptung „ins Blaue hinein“ aufgestellt hat, um in der Erbauseinandersetzung obsiegen zu können.
Des Weiteren muss die Tathandlung gem. §§ 185 oder 186 erforderlich und angemessen sein.Joecks/Jäger § 193 Rn. 8 ff.
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Erforderlich ist die Ehrverletzung, wenn sie geeignet ist, die Interessen wahrzunehmen und das mildeste Mittel darstellt. Bei Tatsachenbehauptungen besteht für den Täter grundsätzlich eine Informationspflicht, dies gilt insbesondere für die Presse. Wird diese Pflicht verletzt, fehlt es an der Erforderlichkeit. Angemessen ist sie, wenn bei Abwägung der konkreten Umstände, das Interesse an der beleidigenden Äußerung das Interesse des verletzten Ehrträgers überwiegt.Fischer § 193 Rn. 9.
Beispiel
Im politischen Meinungskampf sind übertreibende sowie drastische Formulierungen in der Regel gem. § 193 gerechtfertigt.BVerfG NJW 1992, 2815. Bei jeglicher Form der „Schmähkritik“, die nicht durch die Sache gerechtfertigt ist, sondern ausschließlich die Person selbst diffamieren soll, ist die Angemessenheit jedoch zu verneinen.
Expertentipp
In der Klausur wird es an dieser Stelle darauf ankommen, dass Sie eine gut argumentierte und damit nachvollziehbare Interessenabwägung zwischen der Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit etc. und dem durch die §§ 185, 186 geschützten Persönlichkeitsrecht des Ehrträgers vornehmen. Im Ergebnis ist vieles vertretbar.