Strafrecht Allgemeiner Teil 2 - Unterlassungsdelikt - Abgrenzung positives Tun – Unterlassen

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Strafrecht Allgemeiner Teil 2

Unterlassungsdelikt - Abgrenzung positives Tun – Unterlassen

II. Abgrenzung positives Tun – Unterlassen

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In der Klausur können Ihnen Sachverhalte begegnen, bei denen nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, ob der Erfolg durch ein Unterlassen oder durch ein Handeln herbeigeführt wurde. Da ein Unterlassen nur dann strafbar ist, wenn die Voraussetzungen des § 13 verwirklicht sind, der Täter also insbesondere als Garant verpflichtet ist, den Erfolg abzuwenden, ist die Abgrenzung zwischen positivem Tun und Unterlassen bedeutsam.

Beispiel

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A wirft dem in den Brunnen gefallenen B ein Seil zu. Noch bevor B dieses Seil ergreifen kann, zieht A es wieder zurück, woraufhin B ertrinkt.

Knüpft man an das Werfen des Seils als aktives Tun an, so ist eine Strafbarkeit des A gem. § 212 zu bejahen. Knüpft man hingegen an die unterlassene, erfolgreiche Rettung des B an, so wäre A nur dann zu bestrafen, wenn er eine Garantenstellung innegehabt hätte, was z.B. der Fall ist, wenn A der Vater des B war. Fehlt diese Garantenstellung, so kann A sich nur nach § 323c (Straferwartung max. 1 Jahr) strafbar gemacht haben.

Die Abgrenzung ist sowohl im Fahrlässigkeits- als auch im Vorsatzbereich relevant. Insbesondere im Fahrlässigkeitsbereich ist sie besonders schwierig, da das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt stets ein Unterlassen beinhaltet.

Beispiel

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Radfahrer R versäumt es, abends das Licht einzuschalten und fährt unbeleuchtet los. Aufgrund der fehlenden Beleuchtung erkennt er den Fußgänger A nicht rechtzeitig und fährt ihn an. A zieht sich dabei schwere Prellungen zu.

Hier liegt in dem Nicht-Einschalten des Lichtes ein Unterlassen, in dem Fahren ohne Licht hingegen ein aktives Tun. Sofern man auf das Unterlassen abstellen wollte, wäre eine Garantenstellung des R erforderlich.

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In Literatur und Rechtsprechung werden verschiedene Lösungsansätze zur Abgrenzung des aktiven Tuns vom Unterlassen vertreten.

Der teilweise im Schrifttum vertretene naturalistische Ansatz überprüft, ob der Täter eine Aktivität im Sinne einer positiven Energie in Richtung auf das verletzte Rechtsgut entfaltet hat und ob diese Aktivität in einer ununterbrochenen Kette reale Außenweltsveränderungen herbeigeführt hat, die ohne Hinzudenken hypothetischer, weiterer Faktoren mit dem Erfolg verknüpft sind.SK-Rudolphi Vor § 13 Rn. 6; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT 2 § 45 Rn. 30. Hat der Täter diese Aktivität entfaltet, so ist von aktivem Tun auszugehen. Liegt kein Energieeinsatz in Richtung auf das verletzte Rechtsgut vor, so ist von Unterlassen auszugehen. Bei mehrdeutigen Verhaltensweisen wird ein Handeln angenommen, wenn der Vorwurf der Unterlassungstat nicht zur Strafbarkeit führt bzw. geringer wiegt.Vgl. zu den verschiedenen Lösungsansätzen auch Joecks/Jäger StGB § 13 Rn. 14 ff.

Nach herrschender Meinung ist die Abgrenzung nach normativen Kriterien zu entscheiden. Zwar wird auch von dieser Meinung zunächst überprüft, ob Aktivität oder Inaktivität des Täters in Bezug auf den konkreten Deliktserfolg vorliegt. Bei mehrdeutigen Verhaltensweisen wird jedoch auf den sozialen Sinngehalt des Verhaltens bzw. den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit abgestellt.Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 1159; BGHSt 6, 46; OLG Karlsruhe GA 1980, 429; vgl. auch Jäger Strafrecht AT Rn. 477 zum weiteren Meinungsstand.

Expertentipp

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In aller Regel gelangen die unterschiedlichen Ansätze zu ähnlichen Ergebnissen, so dass Sie sich in der Klausur auf die Darstellung der herrschenden Meinung beschränken können. Diskutiert wird die Problematik bei dem Prüfungspunkt „Unterlassen der gebotenen Handlung“.

Beispiel

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Im obigen RadleuchtenfallRGSt 63, 392. wurde zu Recht das Vorliegen eines aktiven fahrlässigen Begehungsdeliktes angenommen. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit lag in der Teilnahme am Straßenverkehr durch Fahren ohne Licht, also in einem aktiven Tun. Das Unterlassungsmoment, nämlich das Nichteinschalten der Beleuchtung stellte dabei die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, also das Fahrlässigkeitsmoment dar.   

Beispiel

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Auch beim ZiegenhaarfallRGSt 63, 211. wurde auf ein aktives Tun abgestellt. Hier hatte der Täter seinen Arbeiterinnen chinesische Ziegenhaare ausgehändigt, ohne sie vorher zu desinfizieren. Vier Arbeiterinnen infizierten sich mit Milzbrand und starben. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit wurde hier in der Weitergabe der nicht desinfizierten Ziegenhaare gesehen. Das Unterlassungsmoment der fehlenden Desinfektion wurde als Sorgfaltspflichtwidrigkeit angesehen.  

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Problematisch in der Klausur (seltener in der Praxis!) ist gelegentlich die Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen beim Abbruch von Rettungshandlungen. Dabei sind drei Fallgestaltungen zu differenzieren:

Beispiel

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A wirft dem ertrinkenden B das Seil zu. Noch bevor B das Seil ergreifen kann, zieht A es wieder zurück. Strafbarkeit des A?

Beispiel

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A wirft dem in den Brunnenschacht gefallenen B wiederum das Seil zu. B ergreift dieses Seil und beginnt hochzuklettern, als A das Seil loslässt. B fällt wieder in den Brunnen und ertrinkt. Strafbarkeit des A?

Beispiel

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C will gerade dem B das Seil herunterwerfen als A kommt und ihn unter Vorhalten einer Schusswaffe dazu zwingt, das Seil nicht zu werfen. Strafbarkeit des A?

Ein Unterlassen liegt nach überwiegender Auffassung vor, wenn der Täter die Rettungsbemühungen abbricht, bevor die Rettungshandlung das Opfer erreicht und sich ihm eine tatsächlich realisierbare Rettungsmöglichkeit eröffnet hat. Die Situation des Opfers ist in diesen Fällen objektiv dieselbe, als wenn der Täter gar nichts unternommen hätte.Jäger Strafrecht AT Rn. 481.

Ein aktives Tun wird hingegen überwiegend angenommen, wenn die Rettungsbemühungen das Opfer erreicht haben und der Täter eine bereits realisierbare Rettungsmöglichkeit aktiv vernichtet.[2]Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 1162; Jäger Strafrecht AT Rn. 481.

Ein aktives Tun liegt auch vor, wenn der Täter Rettungshandlungen eines Dritten durch Zwang oder Täuschung vereitelt.

Für die obigen Beispiele bedeutet dies, dass in der ersten Alternative eine Tötung durch Unterlassung anzunehmen ist, da die Rettungshandlung B noch nicht erreicht hatte, denn für B bestand, da er das Seil noch nicht ergriffen hatte, noch keine tatsächliche realisierbare Rettungsmöglichkeit.

Im zweiten Fall liegt eine Tötung durch aktives Tun vor, da sich durch das Ergreifen des Seiles und des beginnenden Hochziehens die Rettungsmöglichkeit für den B bereits realisiert hatte und in greifbare Nähe gerückt war.

Im dritten Fall hat A sich wegen aktiver Tötung gem. § 212 strafbar gemacht, da auch hier der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nicht in dem Unterlassen der eigenen Rettungsbemühungen, sondern in dem aktiven Abhalten des C liegt. C hingegen könnte sich der Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben. Allerdings ist er gem. § 35 entschuldigt, da er sich in einem Nötigungsnotstand befand.

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Expertentipp

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Wiederholen Sie in diesem Zusammenhang das Thema „Teilnahme an der Selbsttötung“, ausführlich dargestellt in den Skripten „Strafrecht AT I“ und „BT I“.

In der Praxis weitaus häufiger sind die Fälle anzutreffen, in denen ein Arzt lebenserhaltende medizinische Maßnahmen einstellt und dadurch die „Rettung“ des Patienten unterlässt. Nimmt der Arzt von vornherein diese Maßnahmen nicht vor, liegt darin unproblematisch ein Unterlassen. Ein solches wurde bislang vom BGH auch dann angenommen, wenn der Arzt bereits eingeleitete Maßnahmen rückgängig macht, da auch dann der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in dem Unterlassen der Lebensverlängerung und nicht in dem Abschalten des Geräts gesehen wurde.BGHSt 40, 257. Nach neuer BGH-Rechtsprechung ist die Unterscheidung zwischen aktiven Tun und Unterlassen allerdings nicht mehr relevant, sofern es sich um einen medizinischen Behandlungsabbruch handelt. In diesen Fällen kann der Täter unter den Voraussetzungen der §§ 1827 ff. BGB sowohl bei aktivem Abschalten der Geräte als auch bei inaktivem Nichteinschalten der Geräte straflos sein.  

Beispiel

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Tochter T, deren Mutter seit Jahren im Wachkoma liegt, wurde inzwischen zur Betreuerin der Mutter bestellt. Aufgrund des seinerzeitig ausdrücklich geäußerten Willens der Mutter möchte T die über eine Magensonde stattfindende, künstliche Ernährung der Mutter einstellen und ihr so ein natürliches Sterben ermöglichen. Da die Heimleitung sich weigert, diese Maßnahme umzusetzen, bzw., sofern T sie selbst vornimmt, zu dulden, rät Anwalt A, der T seit langem rechtlich betreut, den Schlauch der Magensonde über dem Bauchnabel abzuschneiden. Er ist der Auffassung, dass in Anbetracht des Willens der Mutter das ärztliche Personal des Krankenhauses keine neue Sode legen und die Mutter alsdann sterben wird. Er erklärt der T, dass dies straflose Sterbehilfe sei. T geht dementsprechend vor. Die Mutter, der jedoch wider Erwarten eine neue Sonde gelegt wird, verstirbt 2 Wochen später an einer anderen Ursache.

T wurde vom Landgericht vom Vorwurf des versuchten Totschlags freigesprochen, weil zu ihren Gunsten ein unvermeidbarer Verbotsirrtum gem. § 17 angenommen wurde. A hingegen wurde wegen mittäterschaftlichen, versuchten Totschlags verurteilt. Der BGHBGH Urteil vom 25.6.2010, 2 StR 454/09, abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de. hat dieses Urteil aufgehoben und A freigesprochen. Nach seiner Auffassung trifft die Bewertung des Landgerichts nicht zu, wonach A sich durch seine Mitwirkung an der aktiven Verhinderung der Wiederaufnahme der Ernährung wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht habe. Die von T – in Übereinstimmung auch mit der inzwischen in den §§ 1827 BGB (früher 1901a ff BGB)  geregelten Patientenverfügung – geprüfte Einwilligung der Mutter rechtfertigte nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente. Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen. 

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