Inhaltsverzeichnis
3. Maßgeblicher Zeitpunkt
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a) Sachmangel
aa) Gefahrübergang
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Der Verkäufer ist nicht „in alle Ewigkeit“ für eine Mangelfreiheit der verkauften Sache verantwortlich. Aus den Gefahrtragungsregeln der §§ 446, 447 (s. ausführlich dazu Rn. 108 ff.) folgt vielmehr, dass die Gefahr einer zufälligen
„Zufällig“ = von keinem Vertragspartner zu vertreten. Verschlechterung bereits zu einem Zeitpunkt auf den Käufer übergeht, in dem dieser noch nicht unbedingt Eigentum an der Sache erlangt hat.Hinweis
Auch beim Gefahrübergang durch Übergabe nach § 446 S. 1 muss noch keine vollständige Erfüllung durch Übereignung eintreten. Schließlich kann sich der Verkäufer beim Verkauf beweglicher Sachen das Eigentum bis zur Zahlung des vollständigen Kaufpreises vorbehalten haben. Ein solches Auseinanderfallen von Besitz- und Eigentum kann sich auch beim Verkauf von Grundstücken ergeben, nämlich wenn das Grundstück vor Eintragung des Eigentumswechsels im Grundbuch (vgl. § 873) bereits an den Erwerber übergeben wird.
Wenn aber jede nach dem in §§ 446, 447 definierten Zeitpunkt liegende zufällige Verschlechterung zum Nachteil des Käufers („auf seine Gefahr“, „auf seine Rechnung“) gehen soll, kann sie keine Ansprüche oder Einwendungen gegen den Verkäufer mehr begründen.
MüKo-Westermann § 446 Rn. 1.Bei Sachmängeln ist der Gefahrübergang also der maßgebliche Zeitpunkt für die Entstehung der Gewährleistungsrechte aus § 437 und das Erlöschen der primären Gewährleistungspflicht gem. § 433 Abs. 1 S. 2.
H.M., z.B. Palandt-Grüneberg § 280 Rn. 17; Palandt-Weidenkaff § 434 Rn. 8a und § 435 Rn. 7; MüKo-Westermann § 437 Rn. 6 m.w.N.; Medicus/Lorenz Schuldrecht II § 5 Rn. 8. Der Verkäufer schuldet lediglich noch Leistungen in Bezug auf zu diesem Zeitpunkt vorhandene Mängel.Dies bestätigt die (klarstellende) Formulierung in § 434 Abs. 1 S. 1, wonach die Sache „frei von Sachmängeln ist, wenn sie bei Gefahrübergang den ... Anforderungen ... dieser Vorschrift entspricht.“ Der Moment des Gefahrübergangs ist bei Sachmängeln also der maßgebliche „Stichtermin“. Wegen eines nach Gefahrübergang auftretenden Sachmangels kann es keine Ansprüche aus § 437 und natürlich auch keine Primärleistungspflicht gem. § 433 Abs. 1 S. 2 mehr geben. Der Verkäufer hat seine primäre Pflicht zur Verschaffung mangelfreien Eigentums in Bezug auf Sachmängel bereits dann erfüllt, wenn solche bei Gefahrübergang nicht bestanden. Ob Sachmängel danach – etwa nach Übergabe (§ 446 S. 1), aber vor Eigentumsverschaffung – eintreten, ändert an der Erfüllung der Gewährleistungspflicht insoweit nichts mehr.
Beispiel
V verkauft dem K einen PKW unter Eigentumsvorbehalt. Nach Übergabe wird der PKW infolge eines Unfalls schwer beschädigt. Den Unfallschaden muss V nicht beseitigen, da er erst nach Übergabe und damit nach Gefahrübergang eingetreten ist. In Bezug auf die gem. § 433 Abs. 1 S. 1 geschuldete Sachmängelfreiheit hatte V bei Gefahrübergang seine Pflicht erfüllt. Wenn K durch Zahlung der letzten Rate auch noch das Eigentum am PKW erwirbt (§§ 929, 158 Abs. 1), tritt vollständige Erfüllung ein.
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Ist es noch gar nicht zum Gefahrübergang gekommen, befindet sich der Vertrag noch in der primären Leistungsphase und §§ 437 ff. sind noch gar nicht anwendbar.
bb) Besonderheiten beim Verbrauchsgüterkauf
(1) Keine Anwendung des § 447
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Soweit § 447 nach § 475 Abs. 2 beim Verbrauchsgüterkauf keine Anwendung findet, ist auch beim Versendungskauf auf den nach § 446 maßgeblichen Zeitpunkt abzustellen.
(2) Vermutung nach § 477
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§ 477 stellt in Form einer Umkehr der aus § 363 eigentlich den Käufer treffenden Beweislast die Vermutung auf, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, wenn sich innerhalb eines Jahres seit Gefahrübergang ein von den Anforderungen nach § 434 oder § 475b abweichender Zustand der Ware zeigt.
Entsprechend der neuen Terminologie im Verbrauchsgüterkauf wird auch nicht mehr nur von einer „beweglichen Sache“ sondern von „Ware“ gesprochen.
Die Vermutung findet bei allen Ansprüchen des Verbrauchers Anwendung und ist nicht auf Gewährleistungsrechte beschränkt.(BGH NJW 2009, 580 zum Bereicherungsrecht, beachte insoweit auch den Fall im Klausurenkurs: „Immer Ärger mit dem Autokauf“.)
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Durch die Neuregelung von § 477 wird Art. 11 Abs. 1 WKRL umgesetzt und die Dauer der Beweislastumkehr gemäß § 477 Abs. 1 Satz 1 von 6 Monaten auf ein Jahr verlängert. Dabei hat der Gesetzgeber von einer möglichen Verlängerung auf 2 Jahre (vgl. Art. 11 Abs. 2 WKRL) abgesehen.
Hinweis
Hier zeigt sich, dass der Gesetzgeber keine faktische Haltbarkeitsgarantie begründen wollte. Vielmehr wurde es vom deutschen Gesetzgeber als unangemessen angesehen, die Beweislast trotz einer über einjährigen Nutzung der Sache weiterhin dem Verkäufer aufzubürden.
Gemäß § 477 Abs. 1 Satz 2 bleibt es beim Verkauf lebender Tiere bei der 6-monatigen Vermutung. Beim besonders examensrelevanten Pferdekauf ändert sich im Hinblick auf den Zeitraum nichts.
Hinweis
Diese Regelung war auch nicht zwingend notwendig. Art. 3 Abs. 5 S. 1 b) WKRL bezieht den Verkauf lebender Tiere nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie ein. Der Gesetzgeber hätte daher sogar gänzlich von einer entsprechenden Vermutung absehen können.
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Wird eine Ware mit digitalen Elementen bereitgestellt, bei denen die dauerhafte Bereitstellung nach § 475c nicht geschuldet wird, ist auf die allgemeine Regelung nach § 477 Abs. 1 Satz 1 abzustellen. Grundsätzlich ist damit auf den Zeitpunkt der Bereitstellung der digitalen Elemente abzustellen, ist jedoch eine Aktualisierung erfolgt, so soll nach einer teilweise in der Literatur vertretenen Ansicht an den Zeitpunkt der letzten Aktualisierung angeknüpft werden.(Brönneke/Föhlisch/Tonner, Das neue Schuldrecht, § 4 Rn. 70.)
Wird beim Verkauf von Waren mit digitalen Elementen die dauerhafte Bereitstellung digitaler Elemente im Kaufvertrag vereinbart, gilt gemäß § 477 Abs. 2 die Vermutung für die gesamte Dauer der Bereitstellung, zumindest jedoch für einen Zeitraum von 2 Jahren seit Gefahrübergang.
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Der früher bestehende Streit zwischen dem BGH und der Literatur(BGH Urteil vom 14.9.2005 (VIII ZR 363/04) = NJW 2005, 3490 unter Ziff. B II 1b bb (1); vom 21.12.2005 (Az: VIII ZR 49/05) = ZGS 2006, 152 und vom 2.6.2004 (Az: VIII ZR 329/03) = BGHZ 159, 215 ff. = NJW 2004, 2299; Palandt-Weidenkaff § 477 Rn. 8.) hat sich schon vor der Neuregelung durch das „Faberurteil“ erledigt.(EuGH 4.6.2015 - C-497/13 = NJW 2015, 2237.) Schon im Rahmen der alten Rechtslage war klar, dass ein ursächlicher (latenter) Grundmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vermutet wird, wenn die Mangelhaftigkeit der Sache im Zeitraum von 6 Monaten offenbar wird.
Der ursprünglich bestehende Streit wurzelte in der etwas undeutlichen Formulierung des § 477, welcher vom „sich Zeigen“ des Mangels sprach.
In § 477 n.F. wurde die Formulierung insoweit bereinigt und an das aktuelle Verständnis der Norm angepasst. Die Norm spricht nun davon, dass die Vermutung bereits dann greift, wenn sich innerhalb eines Jahres „ein von den Anforderungen nach § 434 oder § 475b abweichender Zustand der Ware“ zeigt.
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Dieser Streit war bei Defekten von Bedeutung, die als solche unstreitig erst nach Gefahrübergang aufgetreten sind und nur die Ursache hierfür unklar ist.
Beispiel
Ein neu erworbener Fernseher funktioniert bei Übergabe und anschließend 2 Monate lang fehlerfrei und fällt im dritten Monat auf einmal aus unbekannten Gründen aus.
Da das Gerät erst nach Gefahrübergang (§ 446 S. 1) kaputt gegangen ist, konnte nach bisheriger Rechtsprechung des BGH in dem Betriebsausfall als solchem kein Mangel i.S.d. § 434 Abs. Abs. 3 S. 1 Nr. 1 gesehen werden. § 477 konnte danach in zeitlicher Hinsicht nicht helfen, da er nur eine Vermutung begründet, die aufgrund des tatsächlichen Geschehens widerlegt ist. Nach der vom BGH früher vertretenen Auffassung musste der Käufer jetzt also beweisen, auf welchem konkreten Mangel der plötzliche Betriebsausfall des Fernsehers eigentlich beruht. Gelingt ihm das (in der Praxis wohl die Ausnahme!), steht dieser „Verursacher-Mangel“ jetzt also fest, erlaubt § 477 (erst) den Rückschluss, dass der „Verursacher-Mangel“ bereits bei Gefahrübergang vorgelegen hat. Anders ist nunmehr nach der neuen Rechtsprechung des BGH und des EuGH zu entscheiden. Danach wird (nun unstreitig!!) vermutet, dass das Fernsehgerät bereits bei Gefahrübergang einen Mangel hatte, der den späteren Funktionsausfall verursacht hat.
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Die Vermutung kann nach § 477 Hs. 2 ausgeschlossen sein, wenn sie mit der Art der Sache oder mit der Art des Mangels nicht vereinbar wäre.
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Beim Ausschluss nach Art der Sache ist Zurückhaltung geboten. Der Vorschrift lässt sich nicht entnehmen, dass sie auf bestimmte Warengruppen generell keine Anwendung finden soll. Insbesondere auch auf den Kauf von gebrauchten WarenBGH Urteil vom 2.6.2004 (Az: VIII ZR 329/03) = BGHZ 159, 215 ff. = NJW 2004, 2299. oder auf den Kauf von TierenBGH Urteil vom 29.3.2006 (VIII ZR 173/05) unter Tz. 22 ff. = NJW 2006, 2250, 2252 f. kann die Vorschrift grundsätzlich angewendet werden.
Relevant wird diese Fallgruppe bei verderblichen Waren. Sind die Erdbeeren nach 8 Wochen verschimmelt, so kann nicht vermutet werden, dass diese schon bei Gefahrübergang mangelhaft waren.
Expertentipp
Im Zweifel entscheiden Sie sich hier für eine Anwendbarkeit. Die früher vertretene Auffassung, § 477 finde bei gebrauchten Sachen keine Anwendung, hat sich zu Recht nicht durchgesetzt.
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Schwieriger ist ein Ausschluss der Vermutung wegen der Art des Mangels zu bewerten. Die Vermutung, dass ein Mangel bereits bei Gefahrübergang vorgelegen hat, ist nach h.M. dann ausgeschlossen, wenn es sich um äußerliche Beschädigungen der Kaufsache handelt, die auch dem fachlich nicht versierten Käufer hätten auffallen müssen.(Medicus/Lorenz Schuldrecht II § 12 Rn. 28.) Denn in einem solchen Fall ist zu erwarten, dass der Käufer den Mangel bei der Übergabe beanstandet. Hat er die Sache ohne Beanstandung entgegengenommen, so spricht dies folglich gegen die Vermutung, der Mangel sei schon bei Gefahrübergang vorhanden gewesen.BGH Urteil vom 14.9.2005 (VIII ZR 363/04) = NJW 2005, 3490; Palandt-Weidenkaff § 477 Rn. 9 ff.
Zurückhaltung ist auch bei Erkrankungen von Tieren geboten. Eine Erkrankung kann typischerweise auch erst nach Gefahrübergang eintreten. Hier ist ein besonderes Augenmerk auf die Inkubationszeiten zu legen.
Beispiel
Autokäufer K reklamiert beim Autohändler V eine Delle und Kratzer im Kotflügel seines schicken Neuwagens. Der Händler weist die Reklamation empört zurück.
b) Rechtsmangel
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Da Rechtsmängel keine „Verschlechterung“ der Sache i.S.d. §§ 446, 447 darstellen, treffen diese Gefahrtragungsregeln insoweit keine Aussage über die zeitliche Dauer der Gewährleistungspflicht des Verkäufers. Hier bleibt es als „Stichtermin“ bei dem Moment, in dem der Verkäufer dem Käufer Besitz und Eigentum verschafft hat und damit seine Pflicht gem. § 433 Abs. 1 S. 1 erfüllt.
Palandt-Weidenkaff § 437 Rn. 49. Dies gilt übrigens auch für den Eigentumsvorbehalt, wo auf den Moment des Bedingungseintritts abzustellen ist, in dem das Anwartschaftsrecht des Käufers zum vollen Eigentum erstarkt.Palandt-Weidenkaff § 435 Rn. 7.Solange der Verkäufer dem Käufer Eigentum und Besitz noch gar nicht verschafft hat, liegt vollständige Nichtleistung vor. Der Nacherfüllungsanspruch aus §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 ist noch gar nicht anwendbar.
Beispiel
Hersteller V verkauft dem Großhändler K unter Eigentumsvorbehalt 1000 elektronische Lesegeräte. Nach Übergabe, aber vor Bedingungseintritt wird der Wettbewerberin W ein Patent erteilt, das ihr das ausschließliche Nutzungsrecht an einer Technik erteilt, die in den verkauften Lesegeräten zum Einsatz kommt. K benötigt daher eine Lizenz von W für den weiteren Vertrieb der Geräte. Hier ist V zur Beschaffung einer Patentlizenz verpflichtet, da das Eigentum noch nicht auf den K übergegangen war. Diese Pflicht ergibt sich vor dem Eigentumserwerb durch Zahlung der letzten Rate aus § 433 Abs. 1 S. 2, danach aus §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1.