Wir haben uns bereits in einem anderen Beitrag bei „Recht interessant“ mit der Widerspruchslösung des BGH befasst (https://www.juracademy.de/recht-interessant/article/widerspruchsloesung-bgh). Nach der Widerspruchslösung muss bei einer zunehmenden Zahl von Beweisverwertungsverboten der Verwertung des Beweismittels rechtzeitig widersprochen werden. Der Widerspruch muss bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt erfolgen, also bis spätestens nach dem Ende der Beweisaufnahme. Erfolgt der Widerspruch nicht oder verspätet, so ist eine Rüge des Verfahrensverstoßes in der 2. Instanz präkludiert. Muss dieser Widerspruch aber auch schon im Ermittlungsverfahren erfolgen, damit das Beweisverwertungsverbot in dieses hinein „vorwirkt“?
Hinweis
Unterscheiden Sie die „Vorwirkung“ von der „Fernwirkung“ und der „Fortwirkung“. Bei der Fernwirkung geht es darum, ob Beweismittel, die infolge eines rechtwidrig erlangten und nicht verwertbaren Beweismittels gefunden wurden, ebenfalls nicht verwertbar sind. Grundsätzlich gilt die aus dem angelsächsischen Raum kommende „fruit of the poisonuos tree – doctrin“ im Deutschen Recht nicht, die Beweise sind also verwertbar. Bei der Fortwirkung geht es darum, ob eine rechtswidrige Beweisgewinnung z.B. aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung fortwirkt. Wurde ein Beschuldigter nicht belehrt, so ist dessen Aussage nicht verwertbar. Gesteht er nun in der Hauptverhandlung erneut, dann wirkt der Verstoß fort. Auch diese Aussage ist nicht verwertbar. Diese Fortwirkung kann nur durch eine qualifizierte Belehrung unterbrochen werden. Davon zu unterscheiden ist die Vorwirkung. Hier geht es darum, ob eine fehlerhafte Beweisgewinnung schon im Ermittlungsverfahren „vorwirkt“ mit der Folge, dass z.B. ein Haftbefehl nicht auf diesen Beweis gestützt werden darf.
Der Entscheidung des BGH (JuS 2019, 1030) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Gegen B wurde seitens der Generalbundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Auf Antrag wurde vom Ermittlungsrichter beim BGH ein Haftbefehl erlassen, der auch vollzogen wurde. Der dringende Tatverdacht wurde maßgeblich auf eine Aussage des B gestützt, die dieser zunächst als Zeuge gemacht hatte. Nachdem zu erkennen war, dass B an den Verbrechen beteiligt gewesen sein könnte, erfolgte während der Vernehmung eine Belehrung gem. § 55 II StPO. Eine Beschuldigtenbelehrung gem. § 136 I 2, § 163a IV 2 StPO erfolgte hingegen nicht. Der Verteidiger beantragte Haftprüfung und widersprach der Verwertung der Aussage. Der Ermittlungsrichter beim BGH hob den Haftbefehl mit Beschluss auf. Gegen diesen Beschluss legte die Generalbundesanwaltschaft Beschwerde ein.
Der BGH musste sich mit 2 Fragen befassen:
- Ab wann wird ein Zeuge zum Beschuldigten mit der Folge, dass eine entsprechende Belehrung erfolgen muss?
- Muss der Verwertung des Beweismittels auch schon im Ermittlungsverfahren widersprochen werden?
Der BGH hat zunächst zur 1. Frage ausgeführt, dass die Vernehmung des B jedenfalls in wesentlichen Teilen verwertbar sei.
„Für die Pflicht zur Belehrung über das Aussageverweigerungs- und Verteidigerkonsultationsrecht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, die die zentrale der in § 136 Abs. 1 Satz 2 bis 6, § 163a Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Pflichten für die polizeiliche Vernehmung eines Beschuldigten darstellt, gilt:
Der der Vorschrift des § 136 StPO zugrundeliegende Beschuldigtenbegriff vereinigt subjektive und objektive Elemente. Die Beschuldigteneigenschaft setzt - subjektiv - den Verfolgungswillen der Strafverfolgungsbehörde voraus, der sich - objektiv - in einem Willensakt manifestiert (s. auch § 397 Abs. 1 AO). Wird gegen eine Person ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, liegt darin ein solcher Willensakt. Andernfalls beurteilt sich dessen Vorliegen danach, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des davon Betroffenen darstellt. Dabei ist zwischen verschiedenen Ermittlungshandlungen zu differenzieren. Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen, die nur gegenüber dem Beschuldigten zulässig sind, sind Handlungen, die ohne weiteres auf den Verfolgungswillen der Strafverfolgungsbehörde schließen lassen. Aber auch Eingriffsmaßnahmen, die an einen Tatverdacht anknüpfen, begründen grundsätzlich die Beschuldigteneigenschaft des von der Maßnahme betroffenen Verdächtigen, weil sie regelmäßig darauf abzielen, gegen diesen wegen einer Straftat strafrechtlich vorzugehen; so liegt die Beschuldigtenstellung des Verdächtigen auf der Hand, wenn eine Durchsuchung nach § 102 StPO dazu dient, für seine Überführung geeignete Beweismittel zu gewinnen.
Anders liegt es bei Vernehmungen. Bereits aus §§ 55, 60 Nr. 2 StPO ergibt sich, dass im Strafverfahren Fallgestaltungen möglich sind, in denen auch ein Verdächtiger als Zeuge vernommen werden darf, ohne dass er über die Beschuldigtenrechte belehrt werden muss. Der Vernehmende darf dabei auch die Verdachtslage weiter abklären. Da er mithin nicht gehindert ist, den Vernommenen mit dem Tatverdacht zu konfrontieren, sind hierauf zielende Vorhalte und Fragen nicht ohne weiteres ein hinreichender Beleg dafür, dass der Vernehmende dem Vernommenen als Beschuldigten gegenübertritt. Der Verfolgungswille kann sich jedoch aus dem …, der Gestaltung sowie den Begleitumständen der Befragung ergeben.
Folgt die Beschuldigteneigenschaft nicht aus einem Willensakt der Strafverfolgungsbehörde, kann - abhängig von der objektiven Stärke des Tatverdachts - unter dem Gesichtspunkt der Umgehung der Beschuldigtenrechte gleichwohl ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO vorliegen. Ob die Strafverfolgungsbehörde einen solchen Grad des Ver dachts auf eine strafbare Handlung für gegeben hält, dass sie einen Verdächtigen als Beschuldigten vernimmt, unterliegt ihrer pflichtgemäßen Beurteilung. Im Rahmen der gebotenen sorgfältigen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls kommt es dabei darauf an, inwieweit der Tatverdacht auf hinreichend gesicherten Erkenntnissen hinsichtlich Tat und Täter oder lediglich auf kriminalistischer Erfahrung beruht. Falls jedoch der Tatverdacht so stark ist, dass die Strafverfolgungsbehörde andernfalls willkürlich die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten würde, ist es verfahrensfehlerhaft, wenn sie dennoch nicht zur Beschuldigtenvernehmung übergeht…
Dieser Willkürmaßstab ist - wie in anderen Fallgestaltungen auch, in denen zu überprüfen ist, ob die Grenzen eines Beurteilungsspielraums gewahrt …. - objektiv zu bestimmen. Ein auch subjektiv auf Umgehung der Beschuldigtenrechte gerichtetes, bewusst missbräuchliches Verhalten des Vernehmenden ist nicht erforderlich. In diesem Sinne ist die Überschreitung der Grenzen des Beurteilungsspielraums als (objektiv) willkürlich zu beurteilen, wenn es sich als sachlich unvertretbar erweist, einen die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO auslösenden starken Tatverdacht zu verneinen.
Der insoweit maßgebliche Verdachtsgrad kann dahin präzisiert werden, dass er zwar nicht erst dann erreicht ist, wenn das überprüfende Gericht aus der Ex-ante-Sicht des Vernehmenden einen dringenden Verdacht nach § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO für gegeben hält, dass aber auch nicht schon jeder gegen den Vernommenen bestehende Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO die Pflicht zu seiner Belehrung gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO nach sich zieht.“
Zur 2. Frage hat der BGH dann ausgeführt, dass soweit ein Beweisverwertungsverbot in Betracht käme, es im Ermittlungsverfahren keines Widerspruchs bedürfe. Zur Begründung hat er folgendes ausgeführt:
„Darauf, ob der Verteidiger für den Beschuldigten wirksam einen Verwertungswiderspruch erklärt hat, kommt es insoweit nicht an. Im Ermittlungsverfahren sind Beweisverwertungsverbote nicht nur auf einen solchen Widerspruch hin, sondern von Amts wegen zu prüfen. Auf die Prüfung der Verwertbarkeit von Beweisen im Ermittlungsverfahren findet die vom Bundesgerichthof entwickelte sog. Widerspruchslösung … keine Anwendung. In diesem Verfahrensstadium sind Beweisverwertungsverbote - wie im Zwischenverfahren … - unabhängig von einer Beanstandung durch den Beschuldigten amtswegig zu beachten, auch wenn der zugrundeliegende Verfahrensmangel eine für ihn disponible Vorschrift betrifft …. Denn Verwertungsverbote werden bereits durch den jeweiligen Gesetzesverstoß, nicht erst durch eine derartige Beanstandung begründet … Das gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs … der Verwertung eines Beweises vor der Hauptverhandlung ohnehin nicht wirksam widersprochen werden kann.
Die abweichende Ansicht des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs, auch im Ermittlungsverfahren vom verteidigten Beschuldigten die Beanstandung der Beweisverwertung zu verlangen …, hätte im Übrigen die unangemessene Konsequenz, dass er gegebenenfalls "sehenden Auges" einen Haftbefehl erlassen müsste, den er - unter Umständen nach zwischenzeitlicher Invollzugsetzung - im Fall eines späteren Widerspruchs wieder aufheben müsste. Dies hätte selbst dann zu geschehen, wenn bei Haftbefehlserlass und -verkündung eine künftige Verurteilung infolge der voraussichtlichen Unverwertbarkeit völlig unwahrscheinlich wäre …“