Folgender Sachverhalt liegt der Entscheidung des BGH (Beschluss v. 02.03.2022, 5 StR 457/21 – nachlesbar auch in NStZ 2022, 435) zugrunde:
In einem BtM Ermittlungsverfahren stellten französische Behörden fest, dass die Verdächtigen Kryptohandys besaßen, die über eine EncroChat-Architektur besonders verschlüsselt waren. Nachdem die Verdächtigen erklärt hatten, dass diese Handys üblicherweise zum Drogenhandel verwendet werden, leitete die französischen Ermittlungsbehörden eine Vorermittlung wegen des Verdachts einer kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen ein. An den Ermittlungen wurden auch Europol und niederländische Behörden beteiligt. Man stellte fest, dass die Kryptohandys bei einschlägigen Händlern an ausgesuchte Personen unter Hinweis auf die besondere Sicherheitsarchitektur und einer garantierten Anonymität für 1.610 € verkauft wurden. Im Rahmen der Vorermittlung genehmigte ein zuständiger Richter eine umfangreiche Online-Durchsuchung von EncroChat-Rechnern und damit zusammenhängend eine Infiltration des EncroChat-Systems zum Auslesen von Daten, zunächst für die Dauer von einem Monat, dann nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für weitere vier Monate. Diese Maßnahme richtete sich gegen mehr als 32.000 EncroChat-Nutzer, von denen 380 Telefone ganz oder teilweise auf französischem Boden aktiv waren. Von diesen aktiven 380 Telefonen wurden 242 Telefone (63,7 %) für kriminelle Zwecke oder Straftaten verwendet. Die daraus gewonnen Erkenntnisse bzgl. schwerster Straftaten wie z.B. Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in erheblichen Mengen, wurden später über Europol an das BKA weitergeleitet. Daraufhin wurde bei der GenStA Frankfurt wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingeleitet. Wenig später erging eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) zur Erlangung von Informationen oder Beweismitteln, die sich im Besitz der französischen Vollstreckungsbehörden sowie der französischen Polizei- und Justizbehörden befanden. Nachfolgende genehmigte die zuständige französische Richterin die Übermittlung ggfs. über Europol, was nachfolgend auch geschah. Es wurden auf EncroChat-Rechnern bereits erfasste und auch „live“ entstehende Daten übermittelt, die sich auf Geräte bezogen, die zu einer Auslösung von Mobilfunkantennen auf deutschem Boden geführt hatten. Diese Daten wurden dann an die regional zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet, die nachfolgend Anklage vor allem wegen schwerer Verstöße gegen das BtMG erhoben.
Der BGH hat festgestellt, dass die auf diese Weise erlangten Daten von EncroChat-Nutzern verwertbar sind.
Hinweis
Bereits zuvor hatte der 6. Senat dies ebenfalls bestätigt, sich aber noch nicht dezidiert mit dieser Frage befasst. Auch verschiedene Oberlandesgerichte sind zu demselben Ergebnis gelangt (zur Übersicht Gebhard/Michalke NJW 2022, 655 mit entsprechenden Nachweisen)
Grundsätzlich dient als verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Verwertung der Beweise § 261 StPO.
Das Besondere an der Datenerfassung ist vorliegend, dass die Daten im europäischen Ausland auf eine Art erfasst wurden, die nach dem deutschen Verfahrensrecht wohl nicht möglich gewesen wäre. Zwar sieht auch die StPO eine Online-Durchsuchung in § 100b StPO vor. Diese setzt aber einen hinreichenden Anfangsverdacht zum Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme (ex ante Bewertung) im Hinblick auf die in Abs. 2 genannten, besonders schwer wiegenden Katalogtaten voraus. Darüber hinaus darf sich diese Maßnahme grundsätzlich nur gegen den Beschuldigten und unter nur unter den engen Voraussetzungen des § 100b III StPO auch gegen Unbeteiligte richten.
Problematisch ist, dass die französischen Behörden aufgrund der Erkenntnisse aus einem anderen Ermittlungsverfahren annahmen, die Handys würden überwiegend für kriminelle Zwecke verwendet, was sich dann (nur) zu 63,7 % bestätigte. Man wusste jedoch nicht, zur Begehung welcher Straftaten diese Handys von welchen Personen verwendet wurden. Nach den Maßstäben des § 100b StPO wäre diese „Massen“ – Online-Durchsuchung auf „gut Glück“ also nicht zulässig gewesen.
Hinweis
Diese unzulässige Beweiserhebung könnte in Ansehung des schweren Grundrechtseingriffs in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zu einem Beweiserhebungsverbot führen. Voraussetzung ist aber, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung der Verwertung widerspricht. Unterbleibt der Widerspruch, so entsteht kein Verwertungsverbot. Wir haben uns mit dieser Frage bereits in einem Beitrag bei „Recht Interessant“ im JURACADEMY Club befasst (https://www.juracademy.de/recht-interessant/article/widerspruchsloesung-bgh)
I. Beweisverwertungsverbot aufgrund rechtswidriger Beweiserhebung im Ausland und fehlender Entsprechung im deutschen Strafprozessrecht
Der BGH (a.a.O. Rn 26ff) stellt zunächst klar, dass bezüglich der Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung und der Beweisverwertung unterschiedliche Rechtssysteme heranzuziehen sind und dass der ersuchende Staat (= Deutschland) grundsätzlich die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nicht nach dem Recht des ersuchten Staates (= Frankreich) überprüft sondern diese zugrunde legt.
„Die Frage, ob im Wege der Rechtshilfe erlangte Beweise verwertbar sind, richtet sich ausschließlich nach dem nationalen Recht des um Rechtshilfe ersuchenden Staates, soweit – wie hier – der um Rechtshilfe ersuchte Staat die unbeschränkte Verwendung der von ihm erhobenen und übermittelten Beweisergebnisse gestattet … Demgegenüber ist die Rechtmäßigkeit von … nach dem Recht des ersuchten Staates zu bewerten … Eine Überprüfung hoheitlicher Entscheidungen des ersuchten Staates am Maßstab von dessen Rechtsordnung durch die Gerichte des ersuchenden Staates findet dabei grundsätzlich nicht statt … Im Rechtshilfeverkehr ist es vielmehr geboten, Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den innerstaatlichen – hier deutschen – Auffassungen übereinstimmen …
Der Rechtshilfeverkehr im Rahmen der EU ist vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen geprägt… Die Schaffung eines Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten…
Nach Auffassung des BGH spielt es auch grundsätzlich keine Rolle, ob es im deutschen Verfahrensrecht eine dem französischen Verfahrensrecht entsprechende Regelung gibt. Dazu führt er folgendes aus (a.a.O. Rn. 72ff)
„Im Rechtshilfekontext ist es gerade nicht ausgeschlossen, von anderen Mitgliedstaaten ausdrücklich zu Zwecken der Strafverfolgung übermittelte Daten aus Maßnahmen zu verwenden, die keine Entsprechung in der StPO haben… Bei der Erlangung von Beweismitteln, die ein anderer Staat nach seiner nationalen Rechtsordnung in eigener Zuständigkeit erhoben hat, kann die Anwendung deutscher Verfahrensregeln grundsätzlich nicht erwartet werden … Die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann daher nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen… Die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann daher nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen … Die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards wird in solchen Fällen durch Prüfung der Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem nationalen und europäischen ordre public und eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beweisverwertung unter Annahme besonderer Verwendungsvorbehalte gewährleistet.“
Hinweis
Zu der sich aus diesem Grundsatz theoretisch ergebenden Möglichkeit des „Befugnis-Shoppings“, also der willkürlichen Umgehung strengerer inländischer Anordnungsvoraussetzungen, nimmt der BGH keine Stellung, da er dafür vorliegend keine Anhaltspunkte sieht.
Ein Beweisverwertungsverbot aufgrund einer möglichen Verletzung französischer prozessualer Vorschriften kommt also nicht in Betracht. Ein solches kann sich aber aus anderen Gründen ergeben. Dazu der BGH (a.a.O. Rn 32ff):
„Dieses kann sich bezüglich durch Rechtshilfe erlangter Beweismittel entweder aus rechtshilfespezifischen Gründen wie der Verletzung völkerrechtlicher Grundsätze …, des ordre public … oder rechtshilferechtlicher Bestimmungen … ergeben … oder – wie bei im Inland erlangten Beweismitteln auch – unmittelbar aus der Verfassung … oder sonstigem Prozessrecht …folgen.
II. Beweisverwertungsverbot aus völkerrechtlichen Grundsätzen aus ordre public oder wegen Verletzung rechtshilferechtlicher Bestimmungen
Der BGH erkennt keine Verletzung völkerrechtlicher Grundsätze. Auch sieht er keine grundlegenden Rechtsstaatsdefizite oder einen Verstoß gegen menschen- oder europarechtliche Grundwerte (= ordre public).
Umfangreiche Ausführungen macht er zu einem möglichen Verstoß gegen rechtshilferechtliche Bestimmungen, den er im Ergebnis aber ablehnt. Ein Verstoß könnte sich daraus ergeben, dass Deutschland als Zielstaat bei einer grenzübergreifenden Telekommunikationsüberwachung nicht rechtzeitig benachrichtigt wurde. Hier verneint er aber den individualschützenden Charakter der entsprechenden Vorschriften und kommt nach einer Gesamtabwägung zu der Überzeugung, dass der Fehler nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führt. (lesen Sie hierzu die Ausführungen des BGH unter den Rn. 38 ff)
III. Ausdrückliches Beweisverwertungsverbot aus dem Verfahrensrecht
Würde man die Verwertbarkeit der Daten nach § 100e VI Nr. 1 StPO bewerten, käme man zu einem gesetzlich ausdrücklich geregelten Beweisverwertungsverbot, da die Maßnahmen nach § 100b StPO nicht hätten angeordnet werden dürfen. Der BGH (a.a.O. Rn. 65) verneint aber unter Hinweis auf den Wortlaut der Norm die direkte Anwendbarkeit dieser Vorschrift:
„Die Vorschrift des § 100 e Abs. 6 StPO ist auf die vorliegende Konstellation nach ihrem Wortlaut nicht anwendbar, da die in Rede stehenden Daten nicht durch Maßnahmen nach den §§ 100 b, 100 c StPO, sondern durch eigenständige Maßnahmen nach französischem Prozessrecht gewonnen wurden.“
IV. Verfassungsrechtliches Beweisverwertungsverbot
Die sich aus dieser Norm ergebende Wertung zieht er aber nachfolgend bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung heran, wobei er dann aber auf einen anderen Zeitpunkt abstellt, nämlich (ex post) auf den Zeitpunkt der Verwertung der Daten im Verfahren gegen die Angeklagten, welche wegen schwerer Betäubungsmitteldelikte (§ 100b II Nr. 5b StPO) angeklagt wurden. Dazu führt der BGH (a.a.O. Rn. 67 ff) aus:
„Gerade wenn – wie vorliegend – besonders intensive Grundrechtseingriffe durch heimliche Ermittlungsmaßnahmen in Rede …, die durch die Verwertung derart erlangter Beweise im Strafverfahren im Sinne eines eigenständigen Eingriffs in das geschützte Grundrecht vertieft werden …, sind verfassungsrechtliche Schutzmechanismen für die Beweisverwertung indes unabdingbar …. Dem Kernbereichsschutz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommen dabei besondere Bedeutung zu.
Im vorliegenden Fall können aufgrund des Gewichts der Maßnahme zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – auch um jede denkbare Benachteiligung auszuschließen – die Grundgedanken der Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau (§ 100 e Abs. 6 StPO) fruchtbar gemacht werden.
Daraus folgt: Eine Beweisverwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensführung ist … stets unzulässig (vgl. auch § 100 d Abs. 2 S. 1 StPO). Darüber hinaus dürfen die im Wege europäischer Rechtshilfe erlangten Beweisergebnisse aus dem EncroChat-Komplex in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden (vgl. die Wertung des § 100 e Abs. 6 Nr. 1 StPO). Hierbei sind die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisierenden einschränkenden Voraussetzungen in § 100 b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO in den Blick zu nehmen. Danach muss die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein.
Für diese Prüfung ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen… Dem Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs … ist bereits dadurch Genüge getan, dass die Daten nunmehr im Strafverfahren zur Klärung des Verdachts einer Katalogtat verwendet werden sollen“
Ein selbstständiges Beweisverwertungsverbot könnte sich jedoch unmittelbar aus den Grundrechten ergeben, schließlich greift die Maßnahme in das sich aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG ergebende allgemeine Persönlichkeitsrecht ein.
Ein absolutes Beweisverwertungsverbot ist jedoch nur in den Fällen anzunehmen, in welchen die Maßnahme in den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung eingreift (BVerfG NStZ 2011,103) Das ist bei der Planung und Durchführung von Straftaten nicht der Fall (BGH a.a.O. Rn. 62)
V. Verstoß gegen die EMRK
Hierzu führt der BGH (a.a.O. Rn. 77) folgendes aus:
„Zu einem Beweisverwertungsverbot führende Verstöße gegen Art. 8 oder 10 EMRK sind bei einer auf der Grundlage eines hinreichenden Verdachts wegen schwerer Straftaten (die auch noch aktuell eine Gefahr für besonders wichtige Rechtsgüter darstellen) durch einen Richter angeordneten Überwachung im Ausmaß des vorliegenden Falls nicht festzustellen … Die Verwertung der in Frankreich erlangten Beweise verstößt auch nicht gegen sonstige Verfahrensgarantien der EMRK. Der Schutz der Beschuldigtenrechte, wie insbesondere des Rechts auf ein faires Verfahren … wird durch die nationale Prozessordnung und hierbei insbesondere durch die Prüfung der Einhaltung des ordre public und eines Beweisverwertungsverbots im konkreten Fall gewährleistet …“