Sachverhalt:
Vor Beginn des Bundesligaspiels zwischen Hannover und Wolfsburg lieferten sich Anhänger der beiden Vereine gewalttätige Auseinandersetzungen. Nach polizeilichen Ermittlungen warfen dabei aus einer Gruppe von bis zu 50 Personen hannoversche Fans zuvor an einer Baustelle aufgenommene Steine in Richtung des Lokals „E.“, in dem sich zu diesem Zeitpunkt bis zu 150 W.-Fans aufhielten. Dabei gingen Fensterscheiben der Gaststätte zu Bruch. Außerdem zündeten die hannoverschen Ultra-Fans Knallkörper und entfachten bengalisches Feuer. Der Kläger, Mitglied einer der beteiligten Ultragruppierungen, wurde in der Nähe des Tatorts von der Polizei in Gewahrsam genommen und bis 18 Uhr des Tages in Gewahrsam gehalten, obwohl er nach seinen Angaben nicht an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sei, sondern nur in der Menge gestanden habe, aus der heraus es zur Tatbegehung kam. Ihm konnte keine konkrete Beteiligung an Straftaten nachgewiesen werden. Die Polizeibehörde zog den Kläger mit Bescheid vom 18.4.2011 zu den Kosten der Unterbringung im Polizeigewahrsam am 5.2.2011 in Höhe von 25 Euro heran. Dieser legt dagegen erfolglos Widerspruch ein. Hat die gegen den Kostenbescheid gerichtete Klage Aussicht auf Erfolg?
Lösung:
Zum Prüfungsaufbau beim gerichtlichen Vorgehen gegen einen polizeirechtlichen Kostenbescheid und die dabei vorzunehmende inzidente Prüfung der Standardmaßnahme in einer Examensklausur, vgl. das landesrechtlich einschlägige juriq-Skript zum Polizei- und Ordnungsrecht!
Das Gericht geht zunächst auf die einschlägige niedersächsische Ermächtigungsgrundlage ein und diskutiert deren Verfassungsmäßigkeit:
„Die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme des Kl. Gem. § 18 I Nr. 2 Buchst. a NSOG lagen vor. Nach dieser Vorschrift kann ua die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern. § 18 I Nr. 2 Buchst. a NSOG ist nicht verfassungswidrig. (…) Nach der (…) Rechtsprechung verletzt eine landesrechtliche Vorschrift, die die Anwendbarkeit des Mittels der polizeilichen Ingewahrsamnahme davon abhängig macht, dass die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung unmittelbar bevorsteht und diese Straftat nur durch die Ingewahrsamnahme verhindert werden kann, nicht den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. (…) § 18 I Nr. 2 Busht. A NSOG genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben, indem er die polizeiliche Ingewahrsamnahme zur Verhinderung einer „unmittelbar“ bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zulässt und die Maßnahme „unerlässlich“ sein muss. Weitere Begrenzungen ergeben sich daraus, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gem. § 4 NSOG zu beachten ist.“
Anschließend subsumiert das Gericht den konkreten Fall unter die Voraussetzungen des Tatbestands. Als Examenskandidat können Sie sich hieran ein Beispiel für eine umfassende und präzise Argumentation im Hinblick auf die anzustellende Gefahrprognose nehmen:
„Mit der Ingewahrsamnahme des Kl. wurde die unmittelbar bevorstehende Begehung einer Straftat verhindert. Der Begriff der „unmittelbar bevorstehenden Begehung“ einer Straftat ist vor dem Hintergrund des hohen Ranges der Freiheit der Person auszulegen. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen die Freiheit des Einzelnen unter Umständen zurücktreten muss, gehört der Schutz der Allgemeinheit und Einzelner vor mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten. Der Begriff „unmittelbar bevorstehend“ ist gleichzusetzen mit „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ oder „gegenwärtige Gefahr“ iSd § 2 Nr. 1 Buchst. b NSOG. (…)
Der Kl. gehörte einer Gruppe hannoverscher U. an, aus der heraus Täter am Vormittag des 5.2.2011 Landfriedensbruch, versuchte Körperverletzung und Sachbeschädigung begingen. (…) Aus der maßgeblichen ex ante-Sicht der am Vorfallstag handelnden Polizeibeamten war zu befürchten, dass die hannoverschen U.-Fans nach Abschluss des Angriffs auf das Altstadtlokal „E.“ im weiteren Tagesverlauf bis zur Beendigung des für 15:30 angesetzten Fußballbundesligaspiels zwischen H. und dem VfL W. erneut die gewalttätige Auseinandersetzung mit W.-Fußballfans suchen würden. Dafür spricht zunächst, dass der Angriff der U.-Fans aus H. nach polizeilichen Ermittlungen lediglich eine Minute dauerte und sich die Personengruppe danach trennte und auf unterschiedlichen Wegen den Tatort verließ. Es handelte sich um ein erstes Aufeinandertreffen, dem weitere Tathandlungen folgen sollten. (…) Wäre die Polizei nicht eingeschritten und hätte sie nicht mehrere Personen aus der Gruppe der hannoverschen U.-Fans festgenommen, wäre die Begehung weiterer Straftaten in allernächster Zeit zu befürchten gewesen. (…) Von dem Kl. war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Tatbeitrag bei der Begehung weiterer Straftaten durch die hannoverschen U.-Fans zu erwarten. (…Es) konnte ihm zwar keine konkrete Beteiligung am strafbaren Geschehen nachgewiesen werden. Es war jedoch zu befürchten, dass sich der Kl. nach seiner Flucht vom Tatort anderen Orts erneut mit Mitgliedern der hannoverschen U.-Fans zur Verabredung und Verwirklichung weiterer Straftaten einfinden würde.“
Schließlich geht das OVG Lüneburg auf die Vereinbarung der Anwendung des niedersächsischen Polizei- und Ordnungsrechts mit den Wertungen der EMRK ein. Das BVerfG fordert in ständiger Rechtsprechung eine Berücksichtigung der EMRK bei der Anwendung und Auslegung des deutschen Rechts.
„Nach Art. 5 I 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Freiheit. Es darf nach Satz 2 der Vorschrift nur in den nachfolgenden Fällen der Buchst. a bis f und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden.
Die Freiheitsentziehung des Kl. ist nach Art. 5 I 2b EMRK gerechtfertigt. Hingegen bietet der Eingriffsgrund des Art. 5 I 2c EMRK entgegen der Ansicht des VG im vorliegenden Fall keine ausreichende Grundlage für die Freiheitsentziehung.
Nach Art. 5 I 2c Var. 2 EMRK kann die Freiheitsentziehung einer Person gerechtfertigt sein, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern. Weitere Voraussetzung ist nach dem Wortlaut der Bestimmung, dass eine Freiheitsentziehung, mit der eine Person an der Begehung einer Straftat gehindert werden soll, „zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde“ vorgenommen wird. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Freiheitsentziehung nach Buchst. c deswegen nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zulässig (EGMR, Urt. v. 1.12.2011 –8080/08 und 8577/08, NVwZ 2012, 1089; Urt. v. 7.3.2013 – 15598/08, NVwZ 2014, 43 Rn. 71). Art. 5 I 2 Buchst. c Variante 2 EMRK erfasst danach nicht den polizeilichen Präventivgewahrsam, bei dem der Betr. nicht unter Verdacht steht, bereits eine Straftat begangen zu haben. Der EGMR hat in seinem Urteil vom 7.3.2013 trotz der umfassenden, in der Entscheidung zusammengefasst wiedergegebenen Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland vom 13.1.2012 zu der konventionsrechtlichen Zulässigkeit des polizeilichen Präventivgewahrsams nach Art. 5 I 2c Var. 2 EMRK zur Verhinderung einer konkret bevorstehenden Straftat an seiner gegenteiligen Auffassung festgehalten. Diese Auslegung durch den EGMR ist vom erkennenden Gericht zu berücksichtigen. Tragfähige Gründe, die es rechtfertigen könnten, die Rechtsprechung des EGMR zu diesem rechtlichen Gesichtspunkt nicht zu beachten, vermag der Senat nicht zu erkennen.“
(…)
Der Gewahrsam des Kl. war nach Art. 5 I 2b EMRK gerechtfertigt. Nach dieser Vorschrift darf die Freiheit unter anderem „zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“ entzogen werden. Nicht ausreichend ist eine Freiheitsentziehung, mit der eine Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze zu erfüllen. Es muss vielmehr gesetzlich zulässig sein, dem Betr. die Freiheit zu entziehen, um ihn dazu zu zwingen, eine ihm obliegende spezifische und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der er bis dahin nicht nachgekommen ist (EGMR, Urt. v. 7.3.2013 – 15598/08, NVwZ 2014, 43 Rn. 69, 90). Eine solche Verpflichtung kann darin bestehen, die Begehung einer nach Ort, Zeitpunkt und Opfer hinreichend konkretisierten Straftat zu unterlassen und statt dessen den Frieden zu wahren, dh die Straftat nicht zu begehen. Hinzukommen muss, dass der Betr. vor seiner Ingewahrsamnahme die Gelegenheit der Pflichterfüllung versäumt hat. Nach der Rechtsprechung des EGMR bedarf es dazu, um den Einzelnen vor einer willkürlichen Freiheitsentziehung zu schützen, des Hinweises auf die konkret zu unterlassende Handlung und der Weigerung des Betr., diese zu unterlassen (EGMR, Urt. v. 7.3.2013 – 15598/08, NVwZ 2014, 43 Rn. 94; Dörr in Grote/Marauhn, EMRK/GG, 2006, Kap. 13, Rn. 168). Die Freiheitsentziehung darf keinen Strafcharakter haben und muss verhältnismäßig sein. Diesen Anforderungen genügt die Ingewahrsamnahme des Kl.
Die Freiheitsentziehung des Kl. diente der Erzwingung einer ihm obliegenden spezifischen und konkreten Verpflichtung. Die Polizei nahm den Kl. am Vorfallstag in den präventiven Gewahrsam, um ihn daran zu hindern, sich an gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Fans der Fußballvereine H. und VfL W. zu beteiligen und dadurch die Straftatbestände der Körperverletzung nach § 223 StGB und des Landfriedensbruches nach § 125 StGB zu verwirklichen. Der Kl. gehörte einer 50 Personen starken Gruppe von X.-Fans des Fußballclubs H. an, aus der heraus am Vormittag des 5.2.2011 in der Altstadt H. vor der Gaststätte „E.“ in strafbewehrter Weise die körperliche Integrität und das Eigentum dritter Personen attackiert wurde. Es war konkret zu befürchten, dass sich der Kl. nach diesem ersten Angriff in den nächsten Stunden bis zu dem Beginn des Bundesligaspiels und darüber hinaus bis zum Ende der Partie an weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Fans der Auswärtsmannschaft des VfL W. vor dem Stadion und im weiteren Umfeld der Arena beteiligen würde. (…)
Nach der Rechtsprechung des EGMR (EGMR, Urt. v. 7.3.2013 – 15598/08, NVwZ 2014, 43 Rn. 94) ist zwar erforderlich, dass der Betr. im Vorfeld einer Ingewahrsamnahme, die ihre Rechtfertigung in Art. 5 I 2b EMRK finden soll, einen Warnhinweis erhält, welche Konsequenzen ein Verstoß gegen seine Verpflichtung, den Frieden durch die Nichtbegehung einer spezifischen und konkreten Straftat zu wahren, nach sich ziehen kann. Im Gefahrenabwehrrecht stehen der Polizei für eine solche Warnung regelmäßig hinreichend geeignete Maßnahmen zur Verfügung, wie zum Beispiel allgemein bei Störern die Anordnung eines Platzverweises oder in besonderen Situationen die Wegweisung aus der Wohnung (bei häuslicher Gewalt), die Untersagung der Teilnahme bei Versammlungen oder die Durchführung von Gefährderansprachen, die Verhängung von Meldeauflagen oder die Anordnung von Aufenthaltsverboten im Zuge von (sportlichen) Großveranstaltungen, namentlich von Fußballspielen. Eines solchen Warnhinweises bedarf es ausnahmsweise nicht, wenn der Betr. eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er seiner Verpflichtung, den Frieden durch die Nichtbegehung einer spezifischen und konkreten Straftat zu wahren, nicht erfüllen wird (EGMR, Urt. v. 7.3.2013 – 15598/08, NVwZ 2014, 43 Rn. 94). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nach den vorstehenden Ausführungen vor.“
Bei der Prüfung einer polizeilichen Ingewahrsamnahme ist stets an die Wertungen der EMRK zu denken. Merken Sie sich die dargestellte Rechtsprechung des EGMR zu den Voraussetzungen des Art. 5 I 2c Var. 2 EMRK – ein rein präventive Ingewahrsamnahme reicht hier nicht aus.
Zu den aufgeworfenen Fragen wird es mit Sicherheit auch in Zukunft weitere rechtliche Auseinandersetzungen geben. Aus dem Themenbereich des Vorgehens gegen gewaltbereite Fußball-Fans und der Kostentrag