Im September 2009 ersuchte ein Bundeswehr-Kommandeur U.S.-amerikanische Kampfflugzeuge, einen Tanklastwagen im afghanischen Kundus zu bombardieren. Viele Menschen, die meisten wohl Zivilisten, kamen dabei ums Leben. Berichte schätzen zwischen 14 und 142 Tote. Der Fall erregte viel Aufsehen. Der Afghane Abdul Hanan verlor zwei Söhne bei dem Luftangriff und kritisierte, dass es keine ausreichende juristische Aufarbeitung des Angriffs in Deutschland gegeben habe. Dies sah der EGMR nun anders.
Nach dem Angriff nahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen auf, stellte sie jedoch einen Monat später schon wieder gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Die Bundesanwaltschaft sah weder Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) noch nach dem Strafgesetzbuch (StGB) als verwirklicht an und stütze dies v.a. auf die subjektive Einschätzung der Handelnden in dieser Ausnahmesituation: „Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sind die Beschuldigten schon nicht davon ausgegangen, dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs Zivilisten auf der Sandbank des Kundus-Flusses aufhielten“, so die Bundesanwaltschaft damals in einer Pressemitteilung. Daher sei der Angriff keine verbotene Methode der Kriegsführung nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB gewesen und die Tötung von Menschen auch nach dem parallel anwendbaren StGB gerechtfertigt, wenn der Angriff seinerseits völkerrechtlich zulässig war. Zu diesem Ergebnis kam die Bundesanwaltschaft und betonte auch hier den umfassenden Einschätzungsspielraum, der den Soldaten zugestanden habe. Sogar wenn man mit zivilen Opfern einer Militäraktion rechnen müsse, so der GBA, sei ein Bombenabwurf nur dann völkerrechtlich unzulässig, wenn der zu erwartende zivile Schaden außer Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg stünde. Oberst Klein soll davon ausgegangen sein, dass die beiden Tanklaster als rollende Bomben gegen sein Lager eingesetzt werden könnten. Ein afghanischer Informant meldete dem deutschen Lager auch auf Rückfragen offenbar, dass es sich bei den Personen an den Tanklastern um eine größere Zahl von stark bewaffneten Aufständischen handelte – tatsächlich hatten sich (zumindest auch) zahlreiche Zivilisten versammelt, die von den Tanklastwagen Benzin abzapften, darunter Kinder und Jugendliche.
Die Angehörigen einiger Todesopfer der Attacke klagten in der Folge gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz und Schmerzensgeld und zogen letztlich bis vor den Bundesgerichtshof, wo ihnen Amtshaftungsansprüche versagt wurden (Urt. v. 06.10.2016, Az. III ZR 140/15). Letztlich hatte das BVerfG im Dezember 2020 eine Verfassungsbeschwerde hiergegen nicht zur Entscheidung angenommen ((Beschl. v. 18.11.2020, Az. 2 BvR 477/17). Die zivilrechtliche Versagung von Amtshaftungsansprüchen von Opfern eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr verstoße nicht gegen das Grundgesetz: „Dass die vom Bundesgerichtshof zugrunde gelegte Auffassung, Amtshaftungsansprüche gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG seien auf Einsätze der Bundeswehr im Ausland nicht anwendbar, auf einer grundsätzlichen unzutreffenden Vorstellung von der Bedeutung und Tragweite der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG beruht, begegnet zwar Zweifeln, kann jedoch offen bleiben.“ Auch das BVerfG ging davon aus, dass der Oberst nicht rechtswidrig gehandelt habe.
So kam nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ins Spiel. Wegen der besonderen Bedeutung des Falls wurde er an die Große Kammer verwiesen. Nun entschieden 17 Richter über den Fall. Im Fall ging es um das prozessuale Element von Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Kernfrage: hat die deutsche Justiz genug dafür getan, die Umstände und die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beteiligten ausreichend aufzuklären?
Die Große Kammer des EGMR entschied (Urt. v. 16.02.2021, Beschwerde 4871/16), Deutschland hätte genug dafür getan, den Vorfall aufzuklären und somit nicht gegen Menschenrechte verstoßen. Die Richterinnen und Richter stellten keinen Verstoß gegen Art. 2 der EMRK fest. Auch mit der Bewertung des GBA setzte sich der EGMR in seinem Urteil auseinander und beanstandeten dessen Ermittlungen nicht. Auch, dass die präzise Opferzahl des Angriffs nicht ermittelt werden konnte, hielten die Richterinnen und Richter für hinnehmbar - für die strafrechtliche Bewertung sei es ohnehin vor allem auf die subjektive Beurteilung der Beteiligten angekommen.
Zudem hätten ausreichende gerichtliche Instanzen im deutschen Recht zur Verfügung gestanden, um die Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, gerichtlich überprüfen zu lassen. Und so geschah es in der Tat auch: 2011 wies das OLG Düsseldorf einen Antrag von Hanan als unzulässig ab und das Bundesverfassungsgericht billigte 2015 letztlich die Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Weiterhin würdigte der EGMR die Arbeit eines 2009 vom Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschuss zu dem Fall. Alles in allem hätten somit die Bemühungen Deutschlands den Anforderungen durch die EMRK genügt.
Es gab aber eine abweichende Meinung zum Urteil: Die Richter aus Großbritannien, Liechtenstein und Bulgarien stellten nicht die Entscheidung der Mehrheit zu den Aufklärungsbemühungen des deutschen Staates in Frage – sie hätten den Fall schon als unzulässig zurückgewiesen, da Afghanistan nicht von der EMRK erfasst sei. Für Vorfälle, die territorial außerhalb der EMRK-Staaten liegen, gilt nach der Rechtsprechung des EGMR der Grundsatz der „effektiven Kontrolle“, d.h. hat ein EMRK-Staat effektive Kontrolle über ein ausländisches Gebiet, so findet die EMRK auch dort Anwendung. Deutschland aber, so die einhellige Meinung, habe keine „effektive Kontrolle“ über das afghanische Kundus-Gebiet gehabt. Die Mehrheit der Richterinnen und Richter nahm aber besonderen Umständen an, die einen ausreichenden Zusammenhang zur EMRK-Jurisdiktion herstellen sollten. So sei Deutschland durch internationales Recht zur Untersuchung des Luftangriffs verpflichtet gewesen, zudem seien die afghanischen Behörden juristisch von einer Ermittlung ausgeschlossen gewesen (da es eine entsprechende Vereinbarung mit den internationalen Truppen in ihrem Land gibt) und schließlich seien die deutschen Strafverfolgungsbehörden auch unter nationalem Recht zu Ermittlungen berufen gewesen. Die drei abweichenden Richter weisen diese Annahme von „special features“ zurück und argumentieren, die Ausnahmen hebelten die Beschränkung der Anwendungsreichweite der Konvention im gleichen Zug unzulässigerweise wieder aus.