Das OLG Hamburg (Beschl. V. 08.06.2016 – 1 Ws 13 /06, NStZ 2016,530) musste sich mit einer von der Staatsanwaltschaft eingelegten, sofortigen Beschwerde gegen eine Entscheidung des Landgerichts befassen, mit welcher das Landgericht im Zwischenverfahren die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 204 StPO mangels hinreichendem Tatverdacht abgelehnt hatte. Die sofortige Beschwerde war zunächst gem. § 210 II StPO statthaft und im Übrigen gem. §§ 311 II, 306 I StPO zulässig.
Hinweis
Mit der Anklageerhebung gem. § 170 I StPO wird das Vor- oder auch Ermittlungsverfahren beendet und es beginnt das Zwischenverfahren. Das zuständige Gericht entscheidet hier darüber, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder aber die Eröffnung abzulehnen ist, § 199 StPO. Eine Ablehnung kommt zum einen in Betracht bei Verfahrenshindernissen und vor allem aber auch bei Verneinung des hinreichenden Tatverdachts.
Das OLG hat hinsichtlich eines der beiden Angeklagten die Anklage der StA zugelassen und die Hauptverhandlung vor der großen Strafkammer eröffnet. Der Entscheidung des OLG lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die zusammenwohnenden 85-jährige W und ihre Freundin, die 81-jähige M, beschlossen im Juni 2012, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Beide hatten auch im Alter noch ein aktives Leben geführt, waren gesellschaftlich interessiert und unternehmungslustig. Seit einigen Monaten jedoch verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand beider erheblich, so dass sie sich verstärkt Gedanken über die letzten Lebensjahre und den Tod machten. Sie besichtigten mehrere hochpreisige Seniorenheime, schlossen diese Möglichkeit aber für sich aus. Auch das Angebot eines Familienangehörigen, zu diesem zu ziehen, lehnten sie ab. Die Haushaltshilfe, die seit Jahren bei den beiden arbeitete, lehnte wiederum ab, für die beiden Damen zu sorgen.
Bereits 2 Jahre vor Ihrem Tod hatten sie sich mit Sterbehilfevereinen beschäftigt und im Sommer des Jahres 2012 traten sie einem in Deutschland ansässigen Verein bei. Nach entsprechenden Vorgesprächen fand im September 2012 eine Begutachtung durch den Angeklagten, Dr. S statt. Er attestierte beiden eine uneingeschränkte Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Auf Drängen der beiden alten Damen willigte Dr. S schließlich ein, beide beim Sterben zu begleiten. Als Todestag wurde der 10. November 2012 festgesetzt.
Beide Opfer verabschiedeten sich mit Briefen von Ihren Angehörigen und Freunden und alsdann tränenreich voneinander. Ferner verfassten sie schriftliche Erklärungen, in denen Sie deutlich machten, dass sie den Entschluss freiverantwortlich gefasst hätten und keine medizinischen Maßnahmen wünschten. Sie nahmen danach verschiedene Medikamente ein, die zunächst um 13.22. Uhr zu einem tiefen Schlaf führten. Die StA war davon ausgegangen, dass Dr. S diese Medikamente besorgt und mitgebacht hatte. Um 14.24 Uhr trat dann der Tod ein. Ob die beiden Damen hätten gerettet werden können, wenn Dr. S einen Notarzt nach dem Einschlafen alarmiert hätte, konnte gutachterlich nicht festgestellt werden.
Dr. S wartete sicherheitshalber noch eine halbe Stunde, ehe er die Feuerwehr und zudem seinen Anwalt anrief, mit dem er sich bereits zuvor beraten hatte.
Lösung
I. Strafbarkeit gem. § 216 StGB
Eine Strafbarkeit wegen einer täterschaftlich begangenen, 2 fachen Tötung auf Verlangen durch das Besorgen der Medikamente kommt nicht in Betracht. Diese scheitert an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung der beiden Opfer.
Expertentipp
Diese Selbstgefährdung wäre in einer Klausur im objektiven Tatbestand bei der objektiven Zurechnung – Zurechnungszusammenhang - zu prüfen.
Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung setzt voraus, dass zum einen das Opfer die zum Tode führende Bedingung beherrscht (= Selbstgefährdung) und darüber hinaus der Entschluss frei von Täuschung Drohung und Zwang getroffen wird, von innerer Festigkeit geprägt ist (kein Spontanentschluss) und das Opfer einsichts- und urteilsfähig ist (= eigenverantwortlich).
All diese Voraussetzungen waren vorliegend gegeben. Der Entschluss war über einen langen Zeitraum hinweg gefasst und durch das Abwägen von Alternativen bestärkt worden. Ausweislich des Gutachtens waren beide Opfer einsichts- und urteilsfähig. Auch Willensmängel sind nicht erkennbar.
Aus diesem Grund scheidet eine Strafbarkeit gem. § 216 StGB aus.
Hinweis
Aus demselben Grund kommt auch eine Strafbarkeit gem. §§ 212, 25 I 2. Alt StGB nicht in Betracht. Liegt eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vor, dann kann es keine Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens und / oder Wollens geben.
II. Strafbarkeit gem. §§ 216, 13, 22, 23 StGB
Dr. S könnte sich aber der 2 fachen, versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen gem. §§ 216, 13, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben, indem er nach dem Einschlafen der beiden Opfer keinen Notarzt alarmierte.
1. Vorprüfung
Ausweislich des Gutachtens steht nicht fest, ob das Herbeirufen des Notarztes den Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich hätte vermeiden können. Damit fehlt es aber an der Kausalität zwischen dem Unterlassen und dem Erfolgseintritt.
Die Strafbarkeit des Versuchs ergibt sich aus § 216 II StGB.
2. Tatentschluss
Dr. S müsste Tatentschluss gehabt haben, zunächst gerichtet auf den Tod der beiden Damen. Dies kann unproblematisch bejaht werden.
Expertentipp
In einer Klausur – jedenfalls im 1. StEx - würden Sie die Strafbarkeit bzgl. W und M separat prüfen und nicht wie hier zusammenfassen. Da bezüglich beider die rechtlichen und tatsächlichen Aspekte aber dieselben sind, würde es sich bei separater Prüfung anbieten, mit der Strafbarkeit des Arztes bzgl. eines Opfers zu beginnen und dann danach mit einem Satz festzustellen, dass er sich auch bzgl. des anderen Opfers in gleicher Weise strafbar gemacht habe.
Fraglich ist aber, ob er auch vorsätzlich im Hinblick auf die Kausalität zwischen dem Unterlassen des Herbeirufens des Notarztes und dem Tod hatte. Dafür müsste er mit der Möglichkeit gerechnet haben, den Tod der beiden Opfer nach Eintritt der Bewusstlosigkeit noch verhindern zu können. Dies ist durchaus fraglich in Anbetracht des hohen Alters und der schwachen Konstitution, die auch Dr. S bekannt war. Das OLG führt dazu allerdings folgendes aus:
„Der Angesch. wollte den Tod der Verstorbenen. Er hat am 14.11.2012 geschrieben, er sei zutiefst zufrieden und empfinde, den richtigen Augenblick für das richtige Handeln gefunden und einen wichtigen Schritt in der Geschichte der Gesellschaft getan zu haben. Er hielt auch eine Rettung der Verstorbenen für möglich, denn nach deren Einschlafen wartete er ca. eine Stunde auf deren Tod und auch nach dem von ihm festgestellten Tod sicherheitshalber noch mindestens eine weitere halbe Stunde mit der ihm jederzeit möglichen Benachrichtigung der Feuerwehr, um eine von ihm unerwünschte Rettung und nach Feststellung des Todes eine für möglich gehaltene Reanimation zu verhindern. Die Erfolglosigkeit dieser möglichen Hilfsmaßnahme war nicht sicher vorauszusehen …“
Damit war der Tatentschluss auf das Unterlassen sowie den dadurch kausal hervorgerufenen Todeseintritt gerichtet. Unproblematisch umfasste der Vorsatz auch das ernstliche und ausdrückliche Verlangen. Auch war Dr. S ausschließlich durch dieses Verlangen zur Tatbegehung motiviert worden.
Problematisch und streitig ist nun aber, ob für Dr. S auch eine Garantenstellung und eine daraus resultierende Pflicht zum Handeln begründet werden kann. Auch diese Voraussetzung muss vom Tatentschluss umfasst sein.
Eine Betreuergarantenstellung aufgrund eines ärztlichen Behandlungsvertrages scheidet aus, da es sich bei Dr. S nicht um den behandelnden Arzt der Opfer handelt.
Also kommt lediglich eine Garantenstellung aus Ingerenz in Betracht. Das pflichtwidrige Vorverhalten könnte in dem Bereitstellen der Medikamente gesehen werden, sofer Dr. A die Medikamente tatsächlich auch besorgt hatte, was noch nicht abschließend geklärt war. Diese könnte dann zum einen gegen das BtMG verstoßen und zum anderen gegen ärztliche Standesregeln. Beides wurde vom OLG bejaht.
Dann müsste sich aber aus dieser Garantenstellung auch eine Pflicht zum Handeln ergeben. Diese könnte wiederum aufgrund der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung entfallen sein.
Expertentipp
Da die Rechtsprechung bei Vorsatzdelikten nur sehr eingeschränkt mit der objektiven Zurechnung arbeitet, diskutiert sie das Problem der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bei der Garantenpflicht. In einer Klausur kann es aber unproblematisch auch bei der objektiven Zurechnung diskutiert werden, wie bereits zuvor bei der vorangegangenen Prüfung des § 216 durch aktives Tun.
Das OLG verweist auf die immer noch bestehende Rechtsprechung des BGH zu diesem Problem. Danach tritt nach Eintritt der Bewusstlosigkeit ein Tatherrschaftswechsel ein, der dazu führt, dass es sich nicht mehr um eine Selbstgefährdung sondern nunmehr um eine Fremdgefährdung handelt. Das OLG führt dazu folgendes aus:
„Die von dem Angesch. billigend in Kauf genommene Rettungspflicht bestand auch objektiv. Der BGH hat in der „Wittig“-Entscheidung (Urt. v. 4.7.1984 – 3 StR 96/84, BGHSt 32, 367 ff.) Folgendes festgestellt:
„Nach allgemeinen Grundsätzen macht sich wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen strafbar, wer einen Bewusstlosen in einer lebensbedrohlichen Lage antrifft und ihm die erforderliche und zumutbare Hilfe zur Lebensrettung nicht leistet, obwohl ihn Garantenpflichten für das Leben des Verunglückten treffen. An dieser Beurteilung ändert sich nichts dadurch, dass der eine Hilfeleistung erfordernde Zustand des handlungs- und willensunfähig gewordenen Opfers von diesem absichtlich herbeigeführt worden ist. … Wenn nämlich der Suizident die tatsächliche Möglichkeit der Beeinflussung des Geschehens („Tatherrschaft“) endgültig verloren hat, weil er infolge Bewusstlosigkeit nicht mehr von seinem Entschluss zurücktreten kann, hängt der Eintritt des Todes jetzt allein vom Verhalten des Garanten ab. … Dass der Garant durch sein Verhalten den früher geäußerten Wunsch des Sterbenden erfüllen will, ändert daran nichts.“ (BGHSt, aaO, S. 373 f.). Eine Garantenstellung scheidet auch nicht deswegen aus, weil der Getötete eine lebensrettende Behandlung nach seinem Suizidversuch untersagt hat“ (BGH, aaO, S. 377).““
Das OLG macht zwar deutlich, dass u.a. durch die Einführung der Vorschriften zu Patientenverfügung (§§ 1901a ff BGB) das Selbstbestimmungsrecht des Sterbenden stärker zu berücksichtigen sei. Es führt jedoch auch aus, dass es fraglich sei ob das auch gelte bei organisierter und kommerzieller Sterbehilfe.
Hinweis
Seit dem 10.12.2015 ist in § 217 StGB die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt. Dieses Gesetz entspricht allerdings wie Umfragen gezeigt haben, nicht den Wertevorstellungen der Gesellschaft, die es mit großer Mehrheit abgelehnt hat. Hätte die Tat sich aber nach diesem Datum ereignet, wäre eine Strafbarkeit gem. § 217 StGB zu prüfen und wohl auch zu bejahen gewesen. Aufgrund des Rückwirkungsgebots (Art. 103 II GG, § 2 StGB) kann Dr. S aber nur aufgrund der Gesetze bestraft werden, die zum Zeitpunkt der Tat galten.
Eine andere Einstellung zu diesem Thema hatte im Jahr 2011 (NStZ 2011, 345) die StA München, die ein Ermittlungsverfahren gegen Angehörige einer Suizidentin eingestellt hatte unter Verweis auf das auch mittlerweile vom BGH anerkannte Selbstbestimmungsrecht. (Diese Entscheidung können Sie bei BGH und Co nachlesen: https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/rechtsprechungswandel-bei-toetung-auf-verlangen-durch-unterlassen)
Die Literatur hatte diesen Tatherrschaftswechsel aufgrund der Wertungswidersprüchlichkeit zur Straflosigkeit einer Teilnahme am Suizid immer abgelehnt und in Fällen der vorliegenden Art eine Strafbarkeit verneint.
Das OLG führt weiter aus, dass Dr. S auch bewusst gewesen sei, dass keine zur Straflosigkeit führende, eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorgelegen habe. Die Begründung überzeugt allerdings kaum:
„Zwar dürfte ihm als langjährig eng mit dem StHD e. V. zusammen Arbeitenden die Straflosigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung bekannt gewesen sein, dennoch ging er jedenfalls zumindest bedingt vorsätzlich davon aus, rettungspflichtig zu sein. In einer undatierten Version des „Weissbuch – Organisierte Suizid-Beihilfe in Deutschland“ des StHD e. V., in das Veröffentlichungen – u. a. auch des Angesch. Dr. S. – bis zum Jahr 2008 eingearbeitet waren, heißt es: „Wegen der unkalkulierbaren Risiken für die Teilnehmenden bei einer Beihilfe zum Suizid ist gegenwärtig nur ein verdecktes Handeln möglich. Diese Situation ist … unerträglich. … StHD sucht … dringend einen Suizid -Begleiter, der bereit ist, ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs einer Tötung durch Unterlassen einschließlich einer möglichen erst- und zweitinstanzlichen Verurteilung mit der Aussicht eines Verfahrens vor dem Bundesgerichtshof auf sich zu nehmen“. Hinzu kommt, dass der Angesch. -wie sich aus seinem Schreiben vom 14.11.2012 an seinen Verteidiger ergibt – schon im Vorfeld der Tat eng mit diesem, den er unmittelbar nach der Tat noch vor Absetzen des Notrufes verständigte, zusammen gearbeitet hat und von diesem wahrscheinlich rechtlich umfassend beraten war.“
Damit bejahte das OLG den Tatentschluss.
3. Unmittelbares Ansetzen
Dieses liegt unproblematisch in dem Verstreichenlassen der letzten vorgestellten Rettungsmöglichkeit
4. Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe
Hier könnte man an eine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens denken, da beide Opfer ausdrücklich geäußert hatten, dass sie keine Rettungsmaßnahmen wünschten. Das OLG hat dies aber in Anbetracht des Lebensschutzes als unbeachtlich angesehen.
Das OLG hat von daher einen hinreichenden Tatverdacht bzgl. §§ 216, 13 StGB bejaht.
Zudem wurde noch ein hinreichender Tatverdacht bzgl. § 29 I Nr. 6b) BtMG bejaht.
Hinweis
Der Beschluss des OLG weist an mehreren Stellen eine nicht plausible Argumentation auf. Es drängt sich von daher der Eindruck auf, dass dieser Sachverhalt deswegen zur Anklage gebracht werden sollte, damit im Wege der Revision der BGH erneut über das Problem der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung – vor allem vor dem Hintergrund der Wertungen der §§ 1901a BGB - entscheiden kann.
Mittlerweile hat das LG Hamburg mit Datum vom 08.11.2017 den Arzt vom Vorwurf der versuchten Tötung auf Verlangen gem. §§ 216, 22, 23, 13 StGB frei gesprochen (http://www.landesrecht-hamburg.de/jportal/portal/page/bsharprod.psml?showdoccase=1&doc.id=KORE200252018&st=ent und NStZ 2018, 281). Es hat dies damit begründet, dass der Angeklagte "wegen des beachtlichen - entgegenstehenden - Willens der beiden Frauen und der Freiverantwortlichkeit ihrer Entscheidung für den Suizid nicht verpflichtet (war), nach dem Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit Rettungsmaßnahmen einzuleiten."
Im einzelnen führt das LG Hamburg dazu folgendes aus:
"Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall traf den Angeklagten nach Überzeugung der Kammer - auch nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit der Frauen - keine Rechtspflicht zur Abwendung ihres Todes, weil dem der erklärte Wille der freiverantwortlich handelnden, einsichtsfähigen Frauen entgegenstand (vgl. auch etwa OLG München v. 31.7.1987 - 1 Ws 23/87, NJW 1987, 2940 - „Hackethal“; LG Deggendorf v. 13. September 2013 - 1 Ks 4 Js 7438/11, BeckRS 2015, 20138; siehe auch MüKo.StGB-Schneider, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 66 m.w.N.; Fischer, StGB, 64. Auflage 2017, vor §§ 211-216 Rn. 42). Die Frauen hatten dem Angeklagten mehrfach und ausdrücklich erklärt, dass Rettungsbemühungen nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit zu unterlassen seien. Dies haben sie - wie dargestellt - auch mehrfach schriftlich niedergelegt. Sie haben zusätzlich den Neffen von Frau W. ermächtigt, Regress- und Schadensersatzansprüche einzuklagen, wenn trotz ihres entgegenstehenden Willens Rettungsbemühungen - erfolgreich - eingeleitet würden.
Ihr darin ausgedrücktes Selbstbestimmungsrecht war von dem Angeklagten zu achten. Zwar bleiben die strafrechtlichen Bestimmungen der §§ 212, 216 StGB von den Neuregelungen des BGB über Patientenverfügungen, insbesondere § 1901a Abs. 3 BGB, grundsätzlich unberührt. Diese haben jedoch fraglos als gesetzgeberische Entscheidung mittelbar eine Wirkung auch für das Strafrecht (vgl. auch BGH v. 25.6.2010 - 2 StR 454/09, NJW 2010, 2963, 2965). So kommt in den Vorschriften über Patientenverfügungen und deren Entstehungsgeschichte der hohe Rang des Selbstbestimmungsrechtes zum Ausdruck, den der Gesetzgeber ihm beimisst.
Es ist inzwischen auch das Recht anerkannt, medizinische Behandlungen und lebensverlängernde Maßnahmen - und zwar ohne Rücksicht auf ihre Erforderlichkeit - abzulehnen (BGH, a.a.O.). Konsequenterweise ist Sterbehilfe nicht nur durch Unterlassen, sondern auch durch das aktive Begrenzen und Beenden einer medizinischen Maßnahme gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht, § 1901 a BGB (BGH, a.a.O).
Hinzu kommt, dass es keinen Grund dafür gibt, im Falle einer freiverantwortlichen Selbsttötung das Selbstbestimmungsrecht dadurch auszuhebeln, dass der Garant verpflichtet wird, den gewollten Suizid nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit zu verhindern. Ein einheitliches Geschehen würde hierdurch wertungswidersprüchlich in einen straflosen und einen strafbaren Teil aufgespalten (ähnlich OLG München, a.a.O.; Schneider, a.a.O., Vorb. zu den §§ 211 ff Rn. 68; Wessels/Hettinger, 23. Auflage, § 1 Rn. 44). Wenn ein vorangegangene aktives Hilfeleisten als bloße Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung straflos bleibt, ist es bei einem - wie hier - fortbestehendem Sterbewillen widersprüchlich, das diesem Tun nachfolgende Untätigbleiben rechtlich anders zu bewerten und es als Unterlassungstäterschaft unter Strafe zu stellen (vgl. Wessels/Hettinger, a.a.O.). Einem Garanten kann insoweit kein - schon gar nicht ein strafrechtlicher - Vorwurf daraus gemacht werden, dass er den eigenverantwortlich gebildeten Willen des Suizidenten respektiert und beim Verlust der Handlungsherrschaft keine Rettungsmaßnahmen einleitet (vgl. auch StA München I, Verfügung vom 30. Juli 2010 - 125 Js 11736/09, NStZ 2011, 345, 346).
Auch dogmatisch erscheint die Begründung einer Tatherrschaft des anwesenden Garanten nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit problematisch, denn die Frage der Tatherrschaft stellt sich nur bis zum Zeitpunkt der Versuchsbeendigung, also bis zur Vornahme der todbringenden Handlung (Roxin, NStZ 1987, 345, 346; Schneider, a.a.O.; Vorb. § 211 Rn. 73 m.w.N.). Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Bewusstseinsverlust unmittelbare Folge des freiwillig und eigenverantwortlich eingeleiteten Suizids und damit auch Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes des Suizidenten ist (Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, Springer-Verlag 2013, S. 40).
Gegen eine Rettungspflicht spricht vorliegend auch, dass der Angeklagte anderenfalls verpflichtet wäre, durch Rettungsmaßnahmen möglicherweise einen Zustand herbeizuführen, für den die Patientenverfügungen der Frauen errichtet worden waren. Die Patientenverfügungen sollten hiernach u.a. in Situationen gelten, in denen „[...] aufgrund einer Gehirnschädigung [ihre] Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen sind [...].“ Dies sollte ausdrücklich auch für indirekte Hirnschädigungen, z.B. nach Wiederbelebung, gelten. In diesem Fall hätte der in der Patientenverfügung niedergelegte Wille ggfs. nicht nur zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen berechtigt, sondern wäre verbindlich gewesen."
Auch eine Strafbarkeit gem. § 323c wegen unterlassener Hilfeleistung hat die Kammer abgelehnt. Hierzu führt das LG überzeugend aus:
"In Fällen des freiverantwortlichen Suizids ist es nach Auffassung der Kammer jedenfalls in Konstellationen, in denen der Adressat des § 323c StGB über die Suizidabsichten informiert ist und keine Anhaltspunkte für eine Willensänderung des Suizidenten erkennbar sind, schon höchst zweifelhaft, ob ein Unglücksfall i.S.d. § 323c StGB vorliegt (vgl. auch SK-StGB-Stein, 9. Auflage 2016, § 323c Rn. 16 m.w.N.; LK-StGB-Jähncke, 11. Auflage, § 323 c Rn. 50 ff). Dies kann indes dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist in Fällen des freiverantwortlichen Suizides, in denen - wie hier - dem anwesenden Dritten der freiverantwortliche Suizidwille bekannt ist und es keine Anhaltspunkte für eine Willensänderung des Suizidenten gibt, eine Hilfeleistung nicht erforderlich und auch nicht zumutbar i.S.d. § 323c StGB (OLG München, Beschluss vom 31.7.1987, a.a.O.; Gavela, a.a.O., S. 45 f.; Wessels/Hettinger, a.a.O. § 1 Rn. 61)."
Es ist davon auszugehen, dass die StA gegen dieses Urteil Revision eingelegt hat. Sobald das Urteil der BGH vorliegt, werden wir Sie unterrichten.
Hinweis
Der BGH hat mittlerweile seine Rechtsprechung aufgegeben. Diese Entscheidung haben wir unter https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/unterlassen-rettungsbemuehungen-freiverantwortlichen-suizid-strafbar dargestellt.