Der Deutsche Bundestag platzt aus allen Nähten – statt der vorgesehenen 598 hat er derzeit 709 Mitglieder. Grund dafür sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate sind dem Grundsatz der personalisierten Verhältniswahl geschuldet. Mit der Erststimme werden Direktkandidaten gewählt, die Zweitstimme über die Parteienlisten bestimmt den Proporz der Parteien. Erhält eine Partei bei der Wahl zum Bundestag mehr Direktmandate über die Erststimmen, als ihr Sitze im Bundestag gemäß der Anzahl der Zweitstimmen zustehen, zieht der direkt gewählte Kandidat zusätzlich ins Parlament ein. Das hat zur Folge, dass der Bundestag sich über die vorgesehene Anzahl von 598 Mandate hinaus erweitert. Die jeweilige Partei kann also mehr Abgeordnete ins Parlament schicken, als ihr nach dem Anteil an Zweitstimmen zustünde. Scheidet ein Abgeordneter aus, der durch ein Überhangmandat einen Sitz im Deutschen Bundestag erhalten hat, wird dieses durch den nächsten Kandidaten auf der Landesliste der jeweiligen Partei im jeweiligen Bundesland nachbesetzt.
Dieses Konzept kam praktisch nur den großen Parteien CDU/CSU und SPD zugute und wurde von den kleineren Parteien als ungerecht kritisiert. Mit Urteil vom 3. Juli 2008 (BVerfGE 121, 266) erklärte das BVerfG die Zuteilungsregelungen für verfassungswidrig und forderte eine neue Lösung. Diese trat am 3. Dezember 2011 in Kraft getreten, sie war im September 2011 im Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD, Grünen und Linken beschlossen worden. Die unterlegenen Parteien zogen hiergegen erneut nach Karlsruhe. Das BVerfG entschied am 27. Mai 2012 (BVerfGE 131, 316 – 376) auch das neu gestaltete Verfahren der Zuteilung der Abgeordnetensitze des Deutschen Bundestages verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien. Der 2. Senat erklärte die Vorschriften des § 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a BWG für nichtig und die Regelung über die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten (§ 6 Abs. 5 BWG) für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Somit fehlte es an einer wirksamen Regelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag, denn die zuvor geltenden Bestimmungen lebten – da ja ebenfalls verfassungswidrig - nicht wieder auf. Die Karlsruher Richter leiteten aus dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit zunehmend strengere Anforderungen an das Wahlrecht ab, und forderten eine Begrenzung insbesondere unausgeglichener Überhangmandate sowie inverser Effekte, bei denen die Stimmabgabe für eine Partei dieser im Gesamtergebnis schaden kann – wie sich bei Nachwahlen zeigte. Hierauf kam es 2013 zu einer Reform des Wahlrechts. Danach wurden die Überhangmandate komplett durch Ausgleichsmandate kompensiert. Somit stieg die Zahl der Parlamentarier weiter an.
Das Wahlrecht hat verschiedene Verfassungsvorgaben zu erfüllen: Der andauernde Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes ist so in die staatliche Willensbildung zu überführen, dass dabei der politische Wille der Wähler möglichst realistisch abgebildet wird und die politischen Kräfte integriert werden. Ziel ist es, eine personale Zusammensetzung zu erreichen, welche die Schaffung eines funktionierenden Parlaments und einer von diesem getragenen funktionierenden Regierung ermöglicht und dabei die Verantwortlichkeit der Volksvertreter (und der vom Parlament getragenen Regierung) gegenüber dem Souverän zu garantieren. Hierzu sind im Grundgesetz einige generelle Vorgaben, wie etwa die fünf geschriebene Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, gemacht. Das GG macht dem Gesetzgeber allerdings bei der Systementscheidung zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl keinerlei Vorschriften. Entschieden hat man sich für eine Mischung: die personalisierte Verhältniswahl, die aus Wahlen von Direktkandidaten in den Wahlkreisen sowie einer Wahl nach von den Parteien aufgestellten Landeslisten besteht.
Die regierende große Koalition hat nun entschieden, kleinere Änderungen vorzunehmen: Die Zahl der Wahlkreise wird gesenkt (aber erst frühestens 2025), die parteiinterne föderale Sitzverteilung wird geändert, und schon bei der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2021 werden bis zu drei Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen. Das geltende System der personalisierten Verhältniswahl wird - trotz Kritik - im Grundsatz beibehalten. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen wurde mit 362 Ja- und 281 Nein-Stimmen bei acht Enthaltungen angenommen. Die Kritiker lehnten den Entwurf ab, weil er aus ihrer Sicht völlig untauglich sei, um die angestrebte Verkleinerung des Parlaments zu erreichen.
Die parteiinterne Sitzverteilung wird so umstrukturiert, dass in einem Land erzielte Direktmandate auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern angerechnet werden. Überhangmandate werden somit parteiintern „verrechnet“. Damit kann ein weiteres Ansteigen der Parlamentarierzahl verhindert werden; allerdings kann es im Extremfall dazu kommen, dass einer Landesliste nur sehr wenige oder keine Sitze zugeteilt werden und die Zweitstimmen für diese Landesliste ohne Erfolg bleiben. Der vorgeschlagene Kompromiss: Den einzelnen Landeslisten wird die Hälfte der Listenmandate garantiert, die andere Hälfte steht zur Anrechnung von Direktmandaten in anderen Ländern zur Verfügung. Auch soll ein Ausgleich von Überhangmandaten erst nach dem dritten Überhangmandat erfolgen, d.h. bis zu drei Überhangmandate werden nicht ausgeglichen. Dies erfüllt die Vorgaben des Karlsruher Urteils und hält sich innerhalb des parlamentarischen Gestaltungsspielraums, wenngleich auch die Zahl von drei hinterfragt werden kann und teils als willkürlich bezeichnet wurde. Denn laut des BVerfG sind ausgleichslose Überhangmandate auch bei einem Wahlrecht, dass den Grundcharakter einer Verhältniswahl hat, zulässig – solange dadurch der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufgehoben wird. Die Grenze zogen die Richter bei 15.
Die weitest gehende Änderung, eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280, soll erst später (für die Wahl 2025) kommen. Eine bestimmte Anzahl von Wahlkreisen ist verfassungsrechtlich nicht vorgeschrieben, es muss aber sichergestellt bleiben, dass die mit einer Mehrheitswahl verbundenen Zwecke und Funktionen gegeben bleiben. Um dies zu regeln soll eine Reformkommission aus Wissenschaftlern, Abgeordneten und weiteren Mitgliedern eingesetzt werden, die spätestens bis zum 30. Juni 2023 ein Ergebnis vorlegen soll. Das potentielle Wachstum des Bundestages wird damit erstmal nur relativ schwach gebremst. Studien zeigen, dass auch der 2021 zu wählende Bundestag wieder nahezu 700 Abgeordnete haben könnte, möglicherweise sogar etwas mehr. Für zukünftige Entwicklungen bleibt noch ein gewisser Spielraum, da ja bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate zulässig wären und dazu die Zahl der Wahlkreise noch einmal leicht abgesenkt werden könnte.
Der Bundesrat stimmt dem Vorhaben am 06. November 2020 zu.