Inhaltsverzeichnis
IV. Pflichtteilsergänzungsanspruch, § 2325
1. Zweck
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Mit dem Pflichtteilsergänzungsanspruch soll verhindert werden, dass der Erblasser den Nachlass durch Schenkungen unter Lebenden schmälert, um Pflichtteilsansprüche der Pflichtteilsberechtigten zu vereiteln oder herabzusetzen. Anders als bei § 2287 kommt es bei § 2325 nicht auf eine Beeinträchtigungsabsicht des Erblassers an. Die Vorschrift des § 2325 bestimmt, dass der Wert der Schenkung dem Nachlass hinzugerechnet wird und der Pflichtteil von dem auf diese Weise erhöhten Pflichtteil berechnet wird.
Beispiel
Der Erblasser E hat seinen Sohn S testamentarisch enterbt und seine Geliebte G zur Alleinerbin eingesetzt. Kurz vor seinem Tod hat der Erblasser seiner Geliebten 20 000 € geschenkt. Der von dem Erblasser hinterlassene Nachlass hat einen Wert von 100 000 €. Der Pflichtteilsanspruch des Sohnes S beträgt nach § 2303 Abs. 1 50 000 € (100 000 € : 2). Da für die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs der Wert der Schenkung dem Nachlass fiktiv hinzugerechnet wird, beläuft sich der fiktive Nachlass auf 120 000 €, so dass S zudem einen Pflichtteilsergänzungsanspruch in Höhe von 10 000 € hat (120 000 € : 2 = 60 000 €).
2. Ergänzungspflichtige Schenkungen
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Zu berücksichtigen sind alle Schenkungen i.S.v. §§ 516 Abs. 1 ff. Der Schenker und der Beschenkte müssen sich über die Unentgeltlichkeit der Leistung einig sein. Bei einem groben Missverhältnis zwischen der Leistung und der Gegenleistung spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass eine Einigkeit der Vertragsparteien über die Unentgeltlichkeit im Hinblick auf die Wertdifferenz vorliegt (gemischte Schenkung). Nach § 2330 unterliegen dem Pflichtteilsergänzungsanspruch keine Pflicht- und Anstandsschenkungen. Eine Schenkung, die als Gegenleistung für einen Pflichtteilsverzicht einem Pflichtteilsberechtigten von dem Erblasser gewährt wird, stellt nach dem BGH
BGH Urt. v. 3.12.2008 (Az. IV ZR 58/07) = ZEV 2009, 77. keine ergänzungspflichtige Schenkung dar. An der Unentgeltlichkeit der Schenkung fehlt es auch, wenn der Beschenkte im Gegenzug die Pflege des Erblassers übernimmt.OLG Koblenz Urt. v. 17.10.2001 (Az. 9 U 166/01) = ZEV 2002, 460. Dabei kann nach dem BGHBGH Urt. v. 14.2.2007 (Az. IV ZR 258/05) = ZEV 2007, 326. die Vereinbarung der Gegenleistung auch noch nachträglich nach dem Bewirken der Schenkung getroffen werden.597
Expertentipp
Lesen Sie zu den unbenannten Zuwendungen noch einmal oben bei Rn. 135 nach.
Obwohl die Lebensversicherungssumme nach § 331 Abs. 1 nicht in den Nachlass fällt, werden die Pflichtteilsberechtigten nach dem BGH
BGH Urt. v. 4.2.1976 (Az. IV ZR 156/73) = FamRZ 1976, 616. über § 2325 geschützt. In dieser Entscheidung wurden als ergänzungspflichtig nicht die an den Begünstigten ausgezahlte Versicherungssumme angesehen, sondern nur die von dem Erblasser eingezahlten Prämien. Diese Rechtsprechung hat der BGHBGH Urt. v. 28.4.2010 (Az. IV ZR 73/08) = BGHZ 185, 252. aufgegeben und entschieden, dass es allein auf den Wert ankommt, den der Erblasser aus den Rechten seiner Lebensversicherung in der letzten – juristischen – Sekunde seines Lebens nach objektiven Kriterien für sein Vermögen hätte umsetzen können. In aller Regel kommt es dabei auf den Rückkaufswert an. Gründet der Erblasser eine Stiftung, wird dies wie eine ergänzungspflichtige Schenkung behandelt.RG Urt. v. 30.4.1903 (Az. IV 29/03) = RGZ 54, 399; BGH Urt. v. 10.12.2003 (Az. IV ZR 249/02) = BGHZ 157, 178. Unbenannte Zuwendungen unter Ehegatten, die der Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft dienen, werden im Erbrecht nach dem BGHBGH Urt. v. 27.11.1991 (Az. IV ZR 164/90) = BGHZ 116, 167. wie Schenkungen behandelt und unterliegen daher auch dem Pflichtteilsergänzungsanspruch. Das alleinige Tragen von Finanzierungskosten durch einen Ehegatten kann nach dem BGHBGH Urt. v 14.3.2018 (Az. IV ZR 170/16) = NJW 2018, 1475. eine unbenannte Zuwendung sein und damit zu Pflichtteilsergänzungsansprüchen führen. Dabei sei zwischen Zins- und Tilgungsleistungen zu differenzieren. Eine ergänzungspflichtige Schenkung könne danach angenommen werden, wenn der ohne wirtschaftlichen Gegenwert erfolgte Vermögensabfluss beim verstorbenen Ehegatten zur einer materiell-rechtlichen, dauerhaften und nicht nur vorübergehenden oder formalen Vermögensmehrung bei dem überlebenden Ehegatten geführt hat.3. Zehnjahresfrist
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Nach der bisherigen Fassung des § 2325 Abs. 3 führten Schenkungen des Erblassers an einen Dritten dann zu Pflichtteilsergänzungsansprüchen, wenn zur Zeit des Erbfalls noch keine zehn Jahre verstrichen waren.
Beispiel
Übergab der Erblasser seinen Gewerbebetrieb dem Sohn in vorweggenommener Erbfolge, so konnte die hierdurch übergangene Tochter, wenn bei Eintritt des Erbfalls seit der Übergabe die Zehnjahresfrist noch nicht verstrichen war, als Ergänzung ihres Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich ihr Pflichtteil erhöht, wenn der Wert des Betriebs dem Nachlass hinzugerechnet wird. Starb der Erblasser einen Tag vor Ablauf der Frist, so trat die volle Ergänzungspflicht ein. Für den vorrangig zur Pflichtteilsergänzung verpflichteten Erben sowie für den subsidiär verpflichteten beschenkten Nichterben ging es daher bei dieser Frist um alles oder nichts.
599
Durch die Neuregelung in § 2325 Abs. 3 S. 1 ist stattdessen eine Abschmelzung pro rata temporis eingeführt worden. Die Schenkung wird nur noch innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall vollständig, im zweiten Jahr vor dem Erbfall nur noch zu neun Zehnteln, im dritten Jahr zu acht Zehnteln usw. berücksichtigt.
Langenfeld NJW 2009, 3122. Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Leistungserfolg vollständig vollzogen worden ist.BGH Urt. v. 17.9.1986 (Az. IVa ZR 13/85) = BGHZ 98, 226. Bei einer Grundstücksschenkung ist für den Fristbeginn nicht auf die Auflassung, sondern auf die Eintragung im Grundbuch abzustellen.BGH Urt. v. 2.12.1987 (Az. IVa ZR 149/86) = BGHZ 102, 289. Nach § 2325 Abs. 3 S. 2 bleibt die Schenkung unberücksichtigt, wenn seit dem Erbfall 10 Jahre verstrichen sind.600
Auch nach der Neuregelung bleiben indes weiterhin wichtige Ausschlussgründe bestehen. Nach § 2325 Abs. 3 S. 3 n.F. beginnt bei Zuwendungen unter Ehegatten die Frist nicht vor der Auflösung der Ehe zu laufen, wodurch auch keine Wertabschmelzung erfolgen kann. Gleiches gilt bei Partnern einer eingetragenen Lebensgemeinschaft nach § 10 Abs. 6 S. 2 LPartG i.V.m. § 2325 Abs. 3 S. 3 bei unter Geltung des Lebenspartnerschaftsgesetzes geschlossenen Lebenspartnerschaften. Behält sich der Erblasser bei der Schenkung eines Grundstückes den Nießbrauch uneingeschränkt vor, gibt er den Genuss des verschenkten Gegenstandes nicht auf, so dass eine Leistung i.S. von § 2325 Abs. 3 Hs. 1 nicht vorliegt
BGH Urt. v. 27.4.1994 (Az. IV ZR 132/93) = BGHZ 125, 395; BGH Urt. v. 29.6.2016 (Az. IV ZR 474/15) = BGHZ 211, 38... Aus diesem Grund wird die AnsichtBGH Urt. v. 27.4.1994 (Az. IV ZR 132/93) = BGHZ 125, 395; BGH Urt. v. 29.6.2016 (Az. IV ZR 474/15) = BGHZ 211, 38; OLG Düsseldorf Urt. v. 11.4.2008 (Az. IV ZR 7 U 70/07) = ZEV 2008, 525. vertreten, dass wegen des fehlenden Schenkungsvollzuges die Frist des § 2325 Abs. 3 nicht zu laufen beginne. Gleiches gilt, wenn sich der Erblasser an dem gesamten Grundstück ein Wohnrecht vorbehält. Besteht dagegen das Wohnrecht nur an einigen Räumlichkeiten, so soll im Einzelfall die Frist des § 2325 Abs. 3 mit der Eigentumsübertragung beginnen.BGH Urt. v. 29.6.2016 (Az. IV ZR 474/15) = BGHZ 211, 38.Der BGH
BGH Urt. v. 19.7.2011 (Az. IV ZR 140/10) = BGHZ 190, 281. hat allerdings im Rahmen einer Rückforderung einer Schenkung wegen Verarmung des Schenkers entschieden, dass der Beginn der in § 529 Abs. 1 Hs. 2 vorgesehene Zehnjahresfrist nicht dadurch gehindert werde, dass sich der Schenker an dem verschenkten Grundstück ein lebenslanges Nutzungsrecht vorbehalte.4. Wert der Schenkung
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Nach § 2325 Abs. 2 S. 1 kommt eine verbrauchbare Sache mit dem Wert in Ansatz, den sie zur Zeit der Schenkung hatte. Bei einem anderen Gegenstand ist nach § 2325 Abs. 2 S. 2 auf den Wert abzustellen, der im Zeitpunkt des Erbfalls bestand. Hatte der Gegenstand im Zeitpunkt der Schenkung einen geringeren Wert, so ist nach § 2325 Abs. 2 S. 2, auf diesen Wert für die Pflichtteilsergänzungsansprüche abzustellen (Niederstwertprinzip).
Ist Gegenstand der Schenkung ein Grundstück unter Nießbrauchsvorbehalt des Erblassers, so ist der Wertvergleich zunächst ohne Berücksichtigung der vorbehaltenen Rechte vorzunehmen.
BGH Urt. v. 29.4.1992 (Az. IV ZR 252/91) = NJW 1992, 2888. Ergibt ein inflationsbereinigter Wertvergleich, dass das Grundstück zur Zeit der Schenkung mehr wert war als beim Erbfall, so ist nach dem Niederstwertprinzip der Wert zur Zeit des Erbfalls zugrunde zu legen, ohne dass das vorbehaltene Recht berücksichtigt wird, da dieses durch den Tod des Erblassers erloschen ist. Hat dagegen eine echte Wertsteigerung seit der Schenkung stattgefunden und ist so der niedrigere Wert zur Zeit der Schenkung maßgeblich, ist hiervon noch der Wert des vorbehaltenen Rechts zur Zeit der Umschreibung im Grundbuch abzuziehen. Denn nur in der Höhe der Differenz hat der Erblasser das Grundstück durch die Schenkung aus seinem Vermögen wirtschaftlich ausgegliedert.BGH Urt. v. 8.3.2006 (Az. IV ZR 263/04) = ZEV 2006, 265.5. Gläubiger des Pflichtteilsergänzungsanspruchs
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Ein Pflichtteilsergänzungsanspruch bestand nach der früheren Rechtsprechung des BGH
BGH Urt. v. 25.6.1997 (Az. IV ZR 233/96) = NJW 1997, 2676; BGH Urt. v. 21.6.1972 (Az. IV ZR 69/71) = BGHZ 59, 210; a.A. Brox/Walker Rn. 562. nur dann, wenn im Zeitpunkt der Schenkung der Anspruchsteller bereits pflichtteilsberechtigt war.Beispiel
Der Ehefrau des Erblassers standen keine Pflichtteilsergänzungsansprüche hinsichtlich solcher Schenkungen zu, die der Erblasser vor der Eheschließung gemacht hat. Der BGH stützte dies darauf, dass nur in diesem Fall ein schützenswertes Vertrauen des Pflichtteilsberechtigten entstanden sei.
603
Diese Rechtsprechung hat der BGH
BGH Urt. v. 23.5.2011 (Az. IV ZR 250/11) = NJW 2012, 2730. aufgegeben. Für einen Pflichtteilsergänzungsanspruch kommt es nunmehr nur noch darauf an, dass die Pflichtteilsberechtigung dem Grunde nach im Zeitpunkt des Erbfalles besteht. Die Pflichtteilsberechtigung muss nicht mehr im Zeitpunkt der Schenkung bestehen. Die Änderung der bisherigen Rechtsprechung stützt der BGH darauf, dass es ansonsten zu einer mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von Abkömmlingen des Erblassers komme. Nach der früheren Rechtsprechung des BGH sei das Bestehen eines Pflichtteilsergänzungsanspruches nur von dem zufälligen Umstand abhängig gewesen, ob die Abkömmlinge vor oder erst nach der Schenkung geboren worden seien.Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist zudem auch unabhängig von dem Bestehen eines Pflichtteilsanspruchs gegeben. Der Pflichtteilsberechtigte kann nach § 2326 S. 1 die Ergänzung des Pflichtteils auch dann verlangen, wenn ihm die Hälfte des gesetzlichen Erbteils oder mehr hinterlassen worden ist.
Beispiel
Der Erblasser E, der zu Lebzeiten fast sein gesamtes Vermögen verschenkt hat, setzt seinen Sohn S in Höhe seines Pflichtteils als Erben ein. Da der S in Höhe seines Pflichtteils zum Erben eingesetzt worden ist, steht ihm kein Pflichtteilsanspruch zu. Er kann jedoch nach § 2326 S. 1 Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend machen.
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Ist dem Pflichtteilsberechtigten mehr als Hälfte des gesetzlichen Erbteils hinterlassen worden, so ist der Anspruch auf Pflichtteilsergänzung nach § 2326 S. 2 ausgeschlossen, soweit der Wert des mehr Hinterlassenen reicht. Hat der Pflichtteilsberechtigte selbst eine Schenkung von dem Erblasser erhalten, so ist auch das Geschenk dem Nachlass hinzurechnen und sodann auf den Ergänzungsanspruch anzurechnen, § 2327 Abs. 1 S. 1.
Beispiel
Der verwitwete Erblasser E hat sein einziges Kind, die Tochter T, testamentarisch enterbt. Der Wert des Nachlasses beträgt 100 000 €. Ein Jahr vor seinem Tod hat E der T 10 000 € und seiner Geliebten 20 000 € geschenkt. Der Pflichtteil der T beträgt 50 000 € (100 000 € : 2). Der Pflichtteilsergänzungsanspruch der T beträgt 15 000 € (20 000 € + 10 000 € : 2). Auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch muss sich die T ihre eigene Schenkung nach § 2327 Abs. 1 S. 1 anrechnen lassen, so dass ihr ein Ergänzungsanspruch in Höhe von 5000 € zusteht.
6. Schuldner des Pflichtteilsergänzungsanspruchs
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Der Ergänzungsanspruch ist eine Nachlassverbindlichkeit, die dem Erben oder den Miterben nach § 2325 zur Last fällt. Der Erbe kann den Pflichtteilsergänzungsanspruch in gleicher Weise wie den Pflichtteilsanspruch auf die Vermächtnisnehmer und die Auflagenempfänger verteilen. Ist der Erbe selbst pflichtteilsberechtigt, kann er nach § 2328 die Ergänzung des Pflichtteils insoweit verweigern, dass ihm sein eigener Pflichtteil verbleibt.
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Soweit der Erbe zur Ergänzung des Pflichtteils nicht verpflichtet ist, weil dieser seine Haftung nach § 1975 oder §§ 1990, 1992 auf den Nachlass beschränkt hat und der Nachlass zur Pflichtteilsergänzung nicht ausreicht, haftet der Beschenkte gemäß § 2329 Abs. 1 S. 1 nach Bereicherungsgrundsätzen auf Herausgabe des Geschenks. Er kann die Herausgabe des Geschenks durch Zahlung des an dem Pflichtteil fehlenden Geldbetrags abwenden, § 2329 Abs. 2. Der Anspruch aus § 2329 steht auch dem pflichtteilsberechtigten Erben zu, § 2329 Abs. 1 S. 2.
7. Auskunftsanspruch
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Nach § 2314 hat der Pflichtteilsberechtigte einen Anspruch auf Auskunft über den Bestand des Nachlasses. Zu dem Bestand des Nachlasses gehören auch die Zuwendungen des Erblassers nach §§ 2050 ff., die bei der Berechnung des Nachlasses nach § 2316 auszugleichen sind. Auskunft ist auch über die von dem Erblasser innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall bewirkten Schenkungen an Dritte zu erteilen. Der Auskunftsanspruch richtet sich grundsätzlich gegen den Erben. Da dieser in Regel keine Angaben über die an Dritte bewirkte Schenkungen machen kann, billigt der BGH
BGH Urt. v. 1.3.1971 (Az. III ZR 37/68) = BGHZ 55, 378; BGH Urt. v. 9.11.1983 (Az. IVa ZR 151/82) = BGHZ 89, 24. in erweiternder Auslegung des § 2314 dem Pflichtteilsberechtigten auch einen Anspruch gegen den Beschenkten zu.