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IV. Beweislast und Beweislastumkehr
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Ist eine Tatsache nach dem Vorgenannten noch beweisbedürftig (entscheidungserheblich, bestritten, nicht zugestanden, nicht offenkundig, keine gesetzliche Vermutung), bleibt noch zu klären, ob der Kläger oder der Beklagte den Beweis anbieten muss. Das regelt die formelle Beweislast. Wie schon bei der Darlegungslast erläutert, trägt jede Partei die Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen der für sie günstigen Norm. Von der materiellen Beweislast wiederum hängt der Prozessgewinn ab. Denn diese entscheidet darüber, wer das Risiko trägt, dass die Tatsache unaufklärbar bleibt, sich also nicht beweisen lässt. Diese Situation wird im Beweisrecht als „non liquet“ bezeichnet. Kann der Kläger die Voraussetzungen der für ihn günstigen Anspruchsgrundlage nicht beweisen („non liquet“), verliert er den Prozess. Die Klage wird aufgrund der materiellen Beweislastregeln als unbegründet abgewiesen. Kann der Beklagte eine Einwendung (z.B. Erfüllung, § 362 BGB) oder Einrede nicht beweisen („non liquet“), verliert er den Prozess.
Beispiel
Mona macht Gewährleistungsansprüche wegen der mangelhaften Fliesen geltend (§ 437 BGB). Will sie deswegen vom Kaufvertrag zurücktreten, muss sie den Vertragsschluss, das Vorliegen eines Sachmangels, die Rücktrittserklärung, eine Fristsetzung bzw. deren Entbehrlichkeit sowie die Erheblichkeit des Mangels beweisen (§§ 437 Nr. 2, 323, 326 Abs. 5, 346 BGB). Die V-GmbH muss hingegen den Eintritt der Verjährung (§§ 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4, 218 BGB) oder die Kenntnis des Käufers vom Mangel (§ 444 BGB) beweisen. Kann Mona beispielsweise das Vorliegen eines Sachmangels nicht beweisen, liegt ein „non liquet“ vor und Mona verliert den Prozess. Die Klage wird als unbegründet abgewiesen.
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Expertentipp
Nutzen Sie an dieser Stelle die Gelegenheit, die hier zitierten Vorschriften des materiellen Rechts nachzulesen und ihre Bedeutung für das Prozessrecht zu vergegenwärtigen.
Im BGB und anderen Gesetzen finden sich einzelne Vorschriften, die gesetzliche Beweislastregeln enthalten (= Beweislastumkehr). Die Grundregel, dass die anspruchsstellende Partei alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorbringen muss, wird in Ausnahmefällen zum Schutz dieser Partei aufgehoben (z.B. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 477, 630h, 2336 Abs. 3 BGB, § 22 AGG).
Beispiel
Mona macht Nacherfüllungsansprüche wegen der mangelhaften Fliesen geltend (§ 437 Nr. 1 BGB). Als Klägerin ist sie für die Tatsachen, die ihren Anspruch begründen, darlegungs- und beweispflichtig. In einer Hinsicht bleibt sie allerdings verschont. Nach §§ 474 i.V.m. § 477 BGB wird zugunsten eines Verbrauchers (§ 13 BGB) vermutet, dass die gekaufte Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war. Mona muss zwar das Vorliegen eines Mangels beweisen, nicht aber, dass dieser Mangel schon bei Übergabe vorlag.
Vgl. BGH NJW 2017, 1093, 1096 (Gebrauchtwagen-Fall). Die V-GmbH kann allerdings das Gegenteil behaupten und beweisen, indem sie etwa mit Hilfe eines Sachverständigen aufdeckt, dass die Flecken durch das zu scharfe Putzmittel von Mona verursacht wurden.Beispiel
Mona klagt erneut wegen der mangelhaften Fliesen. Diesmal verlangt sie Schadenersatz von der V-GmbH (§§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1, 281 BGB). Aufgrund der Beweislastumkehr des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB muss Mona nicht das Verschulden der V-GmbH beweisen. Diese kann sich allerdings als reine Zwischenhändlerin (Hersteller ist kein Erfüllungsgehilfe § 278 BGB) entlasten.
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Auch die Rechtsprechung ordnet für bestimmte Fallkonstellationen eine Art Beweislastumkehr an. Ein Beispiel ist die Beweisvereitelung (z.B. Verbrennen einer Urkunde). Hier wird der klägerische Vortrag als richtig unterstellt. Dogmatisch lässt der BGH mehrere Wege zu. Anknüpfungspunkt ist zum einen die freie Beweiswürdigung (§ 286 ZPO); zum anderen ist bei manchen Fallkonstellationen (grobe Behandlungsfehler durch Ärzte)
Mittlerweile in § 630h BGB gesetzlich geregelt. davon die Rede, dass Beweiserleichterungen in Betracht kommen, die bis zu einer Umkehr der Beweislast gehen können.BGH NJW 20008, 982, 984 f.; eingehend Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht § 115 Rn. 19 ff.Beispiel
Thomas fühlt sich von Mona wegen ihres Gewährleistungsprozesses vernachlässigt. Er wendet sich an eine Partnervermittlungsagentur, die in einer regionalen Zeitung das Foto einer attraktiven jungen Akademikerin namens Jennifer mit dem Hinweis veröffentlicht, dass diese auf Partnersuche sei. Zudem wirbt die Agentur damit, dass sie 15 Partnerinnenvorschläge garantiere. Thomas zahlt das geforderte Honorar von 7900 €. In der Folgezeit erhält Thomas drei Vorschläge, aber nicht die Adresse von Jennifer. Thomas ficht daher den Agenturvertrag wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) an. Im Honorarrückforderungsprozess weigert sich die Agentur, den Namen und die ladungsfähige Anschrift von Jennifer herauszugeben. Dies kann nach Ansicht des BGH im Rahmen der Beweiswürdigung u.U. als Beweisvereitelung berücksichtig werden.
Vgl. den instruktiven Fall von BGH NJW 2008, 982.