Inhaltsverzeichnis
D. Freiheitsberaubung, § 239
I. Überblick
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Geschütztes Rechtsgut des § 239 ist nach h.M. die potenzielle persönliche Fortbewegungsfreiheit.BGHSt 14, 314; 32, 188; Schönke/Schröder-Eser § 239 Rn. 1. Mit Fortbewegungsfreiheit ist dabei die Freiheit gemeint, den derzeitigen Aufenthaltsort zu verlassen und sich fortzubewegen. Nicht geschützt ist die Freiheit, einen bestimmten Ort aufsuchen zu können.Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT 1 Rn. 345.
Beispiel
Mit geladenem Gewehr baut sich A vor der Kinderzimmertüre seines Sohnes B auf, um zu verhindern, dass B das Kinderzimmer verlässt und ebenso, dass die Mutter M das Kinderzimmer betritt.
Hier hat sich A hinsichtlich des Kindes wegen Freiheitsberaubung strafbar gemacht, hinsichtlich der Mutter liegt jedoch eine Nötigung gem. § 240 vor, da diese lediglich daran gehindert war, das Kinderzimmer zu betreten, nicht aber, die Wohnung zu verlassen.
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Zunehmend wird in der Literatur vertreten, dass das geschützte Rechtsgut nicht die potenzielle, sondern die aktuelle Fortbewegungsfreiheit sei („ich will mich fortbewegen, kann es aber nicht“). Eine Freiheitsberaubung könne dementsprechend nur dann angenommen werden, wenn das betroffene Objekt in der konkreten Situation auch tatsächlich den Willen zur Ortsveränderung hatte.Fischer § 239 Rn. 3f; Joecks/Jäger § 239 Rn. 14
Nach der auch vom BGH vertretenen Gegenauffassung genießt hingegen auch derjenige den Schutz des § 239, der sich gar nicht fortbewegen will oder aber von der Beeinträchtigung aktuell nichts merkt. Geschützt ist also die potenzielle Fortbewegungsfreiheit („Ich will mich gar nicht fortbewegen. Sollte ich es aber wollen, könnte ich es nicht“) Voraussetzung ist jedoch, dass grundsätzlich die Möglichkeit der Willensbildung beim Opfer besteht.BGHSt NJW 2022, 2422; Rengier Strafrecht BT II § 22 Rn. 2.
Beispiel
A sperrt die schlafende B ein, um ungestört fernsehen zu können. Nach zwei Stunden öffnet er die Tür. Während dieses Zeitraums hat B tief und fest geschlafen und die verschlossene Türe nicht bemerkt.
Hier hat A sich nur nach Ansicht der h.M. wegen vollendeter Freiheitsberaubung gem. § 239 strafbar gemacht. Eine Strafbarkeit wäre nur dann zu verneinen gewesen, wenn die Möglichkeit des Erwachens der B während des Einsperrens mit Sicherheit hätte ausgeschlossen werden können. In diesem Fall läge auch nach Ansicht der h.M. keine vollendete Freiheitsberaubung vor. Weiter ist Voraussetzung, dass der Vorsatz des Täters darauf gerichtet gewesen sein muss, dass die Möglichkeit des Aufwachens besteht und das Einsperren dann seine volle Wirkung entfaltet. Anderenfalls entfällt ebenfalls eine Bestrafung gem. § 239.
Nach Ansicht der Literatur wäre eine vollendete Freiheitsberaubung zu verneinen, da bei der Schlafenden der aktuell-tatsächliche Wille zur Ortsveränderung fehlt. Es bliebe bei einer Bestrafung aus Versuch, der in der Regel aber milder bestraft wird. Damit hinge die Strafe letztlich von zufälligen Besonderheiten in der Sphäre des Opfers ab.
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Systematisch verhalten sich die Absätze des § 239 wie folgt zueinander:
§ 239 Abs. 1 enthält den Grundtatbestand.
§ 239 Abs. 3 ist in Nr. 1 eine Qualifikation, die einschlägig ist, wenn der Täter sein Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt.
Expertentipp
In der Klausur sollten Sie den Grundtatbestand zusammen mit der Qualifikation prüfen, da es im objektiven Tatbestand regelmäßig keine Probleme bereiten dürfte, die Dauer der Freiheitsberaubung festzustellen. Im subjektiven Tatbestand muss der Täter dann auch diesbezüglich vorsätzlich gehandelt haben.
Expertentipp
Wiederholen Sie das Kapitel „Körperverletzung mit Todesfolge“, Rn. 235 ff.
§ 239 Abs. 3 Nr. 2 hingegen ist ebenso wie Abs. 4 eine Erfolgsqualifikation, so dass § 18 zu beachten ist. Die Folge besteht entweder in einer schweren Gesundheitsschädigung (vgl. die Ausführungen bei § 221) oder in dem Tod des Opfers. Hinsichtlich des Aufbaus und der Probleme wird auf die Ausführungen bei § 227 verwiesen.
§ 239 Abs. 5 ist eine Strafzumessungsvorschrift für minder schwere Fälle.
§ 239 ist ein Dauerdelikt, so dass Vollendung mit dem Eintritt des Verlustes der Fortbewegungsfreiheit eintritt, Beendigung erst mit der Aufhebung dieses Zustandes.
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Der Aufbau der Freiheitsberaubung stellt sich wie folgt dar:
Prüfungsschema
Wie prüft man: Freiheitsberaubung, § 239
I. | Objektiver Tatbestand | ||
| 1. | Tatobjekt: Mensch, der potenziell (h.M.) den Willen fassen kann, sich fortzubewegen | |
| 2. | Tathandlung: | |
|
| a) | Einsperren oder |
|
| b) | Verlust der Fortbewegungsfreiheit auf sonstige Weise |
|
| c) | gegen oder ohne den Willen des Tatopfers |
| 3. | Ggf. Qualifikation gem. Abs. 3 Nr. 1: länger als eine Woche | |
II. | Subjektiver Tatbestand | ||
| Vorsatz, dolus eventualis reicht | ||
III. | Ggf. Eintritt der schweren Folge gem. Abs. 3 Nr. 2 / Abs. 4 | ||
IV. | Rechtswidrigkeit | ||
V. | Schuld | ||
VI. | Evt. minder schwerer Fall gem. Abs. 5 |
II. Objektiver Tatbestand
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Tatobjekt ist der Mensch, der die Fähigkeit besitzt, den Willen zur Ortsveränderung zu fassen und zu realisieren. Nach oben dargestellter h.M. kommt es nicht darauf an, dass der Mensch zum Zeitpunkt der Tathandlung diesen Willen auch fassen wollte. Voraussetzung ist jedoch, dass er ihn fassen konnte, so dass ein drei Monate alter Säugling mithin kein geeignetes Tatobjekt darstellen kann.Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT 1 Rn. 345.
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§ 239 enthält zwei Tatmodalitäten, nämlich das Einsperren und das Berauben der Freiheit auf andere Weise, wobei das Gesetz offenlässt, wie die Tat zu begehen ist. Es handelt sich damit um ein nicht verhaltensgebundenes Delikt.
Definition
Definition: Einsperren
Einsperren ist jedes Verhindern des Verlassens eines Raumes durch eine äußere Vorrichtung oder sonstige Vorkehrungen.Schönke/Schröder-Eser § 239 Rn. 5.
Die Vorrichtungen oder sonstigen Vorkehrungen, die das Opfer am Verlassen hindern, brauchen nicht unüberwindlich zu sein.BGH NStZ 01, 420.
Beispiel
Als häufigste Tatmodalität kommt das Verschließen einer Türe in Betracht. Möglich ist auch, dass das Opfer dadurch eingesperrt wird, dass sich der Täter mit einer geladenen Maschinenpistole oder einem bissigen Pitbull im Türrahmen postiert.
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Das Berauben der Freiheit auf andere Weise liegt in jedem Tun oder Unterlassen, durch welches die Fortbewegungsfreiheit des Opfers vollständig aufgehoben wird.
Im Gegensatz zum Einsperren reicht hier die bloße Erschwerung nicht, es sei denn, das Überwinden der Hemmnisse ist im Einzelfall unzumutbar gefährlich.BGH NJW 93, 1807.
Beispiel
Als Tatmittel kommen in Betracht: Festhalten, Fesseln, Betäuben, Beschleunigen des Fahrzeuges, um dem Beifahrer den Ausstieg unmöglich zu machen.
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Eine Freiheitsberaubung in sonstiger Weise kann unter den Voraussetzungen des § 13 auch durch ein Unterlassen begangen werden.
Beispiel
Dozentin D schließt versehentlich nach der Vorlesung Student S im Hörsaal ein. Als sie gerade das Gebäude verlassen will, bemerkt sie das Missgeschick. In Anbetracht der schlechten Leistungen des Studenten gelangt D jedoch zu der Auffassung, dass ihm eine Nachtschicht sicherlich guttun wird und unterlässt es, ihn aus dem Hörsaal zu befreien.
Das Einschließen des Studenten geschah nicht vorsätzlich, weswegen eine Strafbarkeit gem. § 239 insoweit ausscheidet. Allerdings hat D sich der Freiheitsberaubung durch Unterlassen strafbar gemacht. Die Garantenstellung ergibt sich aus Ingerenz.
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Da die Freiheitsberaubung den freien Willen schützt, ist sie nur dann möglich, wenn sie gegen oder ohne den Willen des Verletzten geschieht.Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT 1 Rn. 348.
Expertentipp
Wie bei § 238 auch bedeutet dies, dass ein Einverständnis des Betroffenen schon im Bereich des Tatbestandes als tatbestandsausschließendes Einverständnis geprüft wird und nicht erst bei der Rechtfertigung (Einwilligung).
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Da Im Gegensatz zu anderen Vorschriften (z.B. bei § 123 oder 242), bei denen der natürliche Wille ausreicht und eine Täuschung irrelevant ist, ist es bei § 239 streitig, ob ein Einverständnis, welches durch List oder Täuschung erschlichen wurde, wirksam ist. Dieser Streit hängt eng mit dem geschützten Rechtsgut (potenzielle oder aktuelle Freiheit) zusammen. Dazu folgendes
Beispiel
Im Oktober 2018 heiratet das Opfer O den M und zieht zu dessen Familie. 2019 zeigt sie M wegen Vergewaltigung und Körperverletzung an und flieht aus der Wohnung. Eine Rückkehr lehnt sie trotz massiver Einwirkung der Familien ab. Im August beschließen die Mutter der O, der Bruder, der Onkel und ein Freund (4 Angeklagte), die O unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in ein Flugzeug nach Georgien zu setzen und dann spätere nach Tschetschenien zu bringen, um sie dort wieder zu einer angemessenen Lebensführung zu bringen. Man erklärt der O, dass man wegen der Beantragung russischer Pässe nach Polen reisen müsse. In der Nacht vom 27. auf den 28. August fahren die 4 Angeklagten zusammen mit O mit dem Auto zum Flughafen, wobei O zwischen 2 der Angeklagten auf der Rückbank sitzt. Während der Pausen darf sich O unter Aufsicht der Angeklagten im Umkreis des Autos aufhalten. Alle Angeklagten sind aber bereit, im Falle einer Flucht einzugreifen. Die immer noch nichtsahnende O besteigt dann zusammen mit 2 der Angeklagten das Flugzeug, davon ausgehend, dass man nach Polen fliegen werde. Nach der Landung erkennt O nun, dass man in Georgien gelandet ist. Man verbringt sie in ein Ferienhaus, in welchem man sie mittels Gewalt dazu bringt, das Haus nicht zu verlassen.BGH NJW 2022, 2422
Hier ist O zum einen infolge der Täuschung verborgen geblieben, dass sie sich nicht fortbewegen könnte, selbst wenn sie wollte (bewachte Autofahrt) und zum anderen hat sie sich aufgrund der Täuschung in eine Situation begeben, in welcher sie sich gar nicht mehr fortbewegen könnte, selbst wenn sie wollte (Flugzeug).
Stellte man nur auf die aktuelle Fortbewegungsfreiheit ab, dann ist diese nicht verletzt, da das Opfer sich gar nicht fortbewegen möchte. Bei der Autofahrt weiß es nicht, dass es sich nicht fortbewegen kann, beim Flugzeug hat es sich wissentlich der Freiheit begeben. Die Täuschung hat damit keine Relevanz, das Einverständnis ist wirksam.Park/Schwarz JURA 1995, 294; Fischer § 239 Rn. 4
Die potenzielle Fortbewegungsfreiheit ist hingegen verletzt. Würde das Opfer während der Autofahrt begreifen, dass es getäuscht wurde, dann könnte es sich nicht mehr fortbewegen, da die Täter sie hindern würden. Um diese potenzielle Fortbewegungsfreiheit umfassen zu schützen, muss nach h.M. das tatbestandsausschließende Einverständnis frei von Täuschung erlangt worden sein, damit es wirksam ist.BGH NJW 2022, 2422; Rengier Strafrecht BT II § 22 Rn. 2
III. Subjektiver Tatbestand
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Der Täter muss vorsätzlich handeln, wobei dolus eventualis ausreicht.
IV. Rechtswidrigkeit und Schuld
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Es gibt keine deliktsspezifischen Besonderheiten, so dass auf die allgemeinen Grundsätze verwiesen wird. Beachten Sie auch hier, dass – wie dargestellt – das Einverstandensein des Opfers bereits auf Tatbestandsebene geprüft wird, so dass eine rechtfertigende Einwilligung nicht möglich ist.
V. Konkurrenzen
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Tateinheit ist möglich mit § 240 und den §§ 211 ff. und §§ 223 ff. Sofern die Freiheitsberaubung das Tatmittel für z.B. eine Vergewaltigung gem. §§ 177 ff. oder einen Raub gem. §§ 249 ff. ist, tritt sie als einfache Freiheitsberaubung in Gesetzeskonkurrenz zurück.