Inhaltsverzeichnis
A. Überblick
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Wie bereits ausgeführt, geht es beim Unrecht um die Bewertung menschlichen Verhaltens als rechtswidrig oder rechtmäßig. Dabei werden zwei Wertungsstufen durchlaufen:
Auf der ersten Stufe haben Sie als Grundlage des Unrechts zunächst die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes überprüft. Diese Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes indiziert für gewöhnlich die Rechtswidrigkeit.
Etwas anderes ergibt sich nur dann, wenn das Verhalten, dass durch die Ge- oder Verbotsnormen unter Strafe gestellt ist, ausnahmsweise aufgrund eines Rechtfertigungsgrundes erlaubt ist. Das müssen Sie nun auf der zweiten Stufe bei der Rechtswidrigkeit überprüfen.
Expertentipp
Eine Erörterung der Rechtfertigungsgründe ist in der Klausur allerdings nur dann erforderlich, wenn konkrete Anhaltspunkte im Sachverhalt genannt sind. Liegen diese nicht vor, so können Sie mit einem Satz feststellen, dass „Rechtfertigungsgründe nicht ersichtlich sind, weswegen das Verhalten rechtswidrig ist.“
Bei der dem Schreiben vorangehenden Gliederung indes sollten Sie stets gedanklich alle in Frage kommenden Rechtfertigungsgründe durchprüfen. Sofern sie offensichtlich nicht in Betracht kommen, müssen sie anschließend beim Schreiben der Klausur auch nicht berücksichtigt werden.
Rechtfertigungsgründe stellen also Erlaubnisnormen dar, die dem Handelnden in der besonderen Konfliktsituation, in welcher er sich befindet, ausnahmsweise das sonst unter Strafe stehende Tun oder Unterlassen gestattet. Erlaubnisnormen = Rechtfertigungsgründe verleihen also ein Recht zum Eingriff.
Daraus folgt, dass das Opfer, demgegenüber ein erlaubter Eingriff stattfindet, diesen Eingriff zu dulden hat. Daher gilt die Faustregel: Es gibt keine Notwehr gegen Notwehr! Diese Faustregel gilt für alle Rechtfertigungsgründe.
Beispiel
D will A auf dem Bahnsteig dessen Koffer entreißen. A versucht zur Abwehr dieser Attacke, D einen Kinnhaken zu versetzen, dem dieser als Profiboxer jedoch ausweichen kann. Stattdessen kassiert nunmehr A von D einen Kinnhaken, der ihn bewusstlos zu Boden gehen lässt. D verschwindet mit dem Koffer.
Hier hat D einen Raub gem. § 249 begangen, indem er mittels Gewalt dem A den Koffer wegnahm. D hat sich darüber hinaus wegen Körperverletzung gem. § 223 strafbar gemacht, indem er A einen Kinnhaken versetzte. D kann sich nicht darauf berufen, dass er diesen Kinnhaken zur Abwehr des herannahenden Schlages des A gebrauchte, da der Schlag des A wiederum gem. § 859 Abs. 1 BGB gerechtfertigt war. Dieser Schlag sollte dazu dienen, den Angriff auf den Besitz des A durch D abzuwehren. Gegen diesen erlaubten Schlag durfte D sich nicht zur Wehr setzen. Insoweit handelte es sich für ihn nicht um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff.
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Umstritten ist, ob sich Erlaubnisnormen genauso wie Verbotsnormen aus objektiven und subjektiven Elementen zusammensetzen.
Die herrschende Meinung bejaht dies. Eine tatbestandsmäßige Handlung soll erst dann gerechtfertigt sein, wenn die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes gegeben sind und der Täter darüber hinaus jedenfalls in Kenntnis und aufgrund der rechtfertigenden Sachlage (str., s.u.) gehandelt hat (Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen). Zur Notwehr gem. § 32 gehört demnach ein Verteidigungswille, zum Festnahmerecht der Wille, den Täter der Strafverfolgung zuzuführen.BGHSt 5, 245; BGH NStZ-RR 1998, 173; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 416 m.w.N.; Rengier Strafrecht AT § 17 Rn. 12.
Vereinzelt wird in der Literatur die Existenz subjektiver Rechtfertigungselemente generell verneint.LK-Spendel § 32 Rn. 138. Dem wird jedoch von der h.M. entgegengehalten, dass die Erlaubnissätze das durch die Verletzung der Ge- oder Verbotsnorm geschaffene Unrecht nur dann aufzuheben vermögen, wenn sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsunwert des rechtsgutsverletzenden Geschehens kompensiert ist.Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 416 m.w.N.
Streitig ist innerhalb der h.M. nun jedoch, was zur Kompensation des Handlungsunwertes führt: reicht das Wissenselement, also die bloße Kenntnis der Rechtfertigungslage aus oder ist darüber hinaus auch ein Willenselement erforderlich?
Nach Auffassung der Rechtsprechung und eines Teils der Literatur ist neben dem Wissenselement auch das Willenselement erforderlich. Danach muss der Täter aufgrund der Rechtfertigungslage, also mit Verteidigungsabsicht handeln. Liegen daneben andere Motive wie Hass oder Rache vor, ist das unschädlich, solange die Verteidigungsabsicht nicht völlig im Hintergrund steht. Dies wird u.a. damit begründet, dass ein Täter, der zwar die Verteidigungssituation kenne, tatsächlich aber vor allem z.B. aus Hass heraus handele, sich gar nicht verteidigen, sondern in Wahrheit angreifen wolle, wobei er lediglich die günstige Situation ausnutze.BGH NJW 2013, 2133; Rengier Strafrecht AT § 18 Rn. 108; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 416 f.
Die in der Literatur vertretene Gegenauffassung weist darauf hin, dass das Erfordernis eines Willenselementes auf ein Gesinnungsstrafrecht hinauslaufe, da nur der Täter straffrei sei, der – objektiv etwas „Gutes“ tuend – auch subjektiv „Gutes“ wolle.Puppe Strafrecht AT (3. Aufl. 2016), § 13, Rn. 5.; Schönke/Schröder-Perron/Eisele § 32 Rn. 63. Demnach soll das Wissenselement, also die Kenntnis der Rechtfertigungslage ausreichen.
Der Streit wirkt sich aus im Bereich der Irrtümer und wird dort unter Rn. 223 nochmals aufgegriffen. Zur Veranschaulichung soll Ihnen schon an dieser Stelle nachfolgendes Beispiel dienen:
Beispiel
Im Haus des A hat dessen Erzfeind F, während A schläft, sämtliche Gashähne aufgedreht. Dieb D, dies nicht wissend, schlägt nunmehr von außen das Fenster im Schlafzimmer des A ein, um dessen Sachen zu klauen. Aufgrund der Luftzufuhr überlebt A den Angriff des F.
Hier lag objektiv eine gegenwärtige Gefahr für A vor, welche D im Rahmen der Nothilfe gem. § 34 durch das Einschlagen der Fensterscheibe abgewendet hat. Das Einschlagen stellte objektiv eine erforderliche, verhältnismäßige und angemessene Handlung dar. Problematisch ist allerdings, dass D diese Situation nicht kannte und von daher nicht in Kenntnis und aufgrund dieser Gefahrensituation handelte.
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Rechtfertigungsgründe sind in verschiedenen Gesetzen zu finden. Es gilt insoweit das Prinzip der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung.LK-Hirsch Vor § 32 Rn. 10; BGHSt 11, 241. Dies bedeutet, dass die Eingriffe, die nach anderen Gesetzesnormen, z.B. jenen des bürgerlichen Rechts, ausnahmsweise erlaubt und daher rechtmäßig sind, im Anwendungsbereich des Strafrechtes nicht als rechtswidrig und unrechtsmäßig bewertet werden dürfen.
Beispiel
Im obigen Beispiel (Rn. 134) war A gem. § 859 Abs. 1 BGB berechtigt, der Besitzstörung durch gewaltsame Beseitigung dieser Störung entgegen zu treten. Diese nach dem Zivilrecht erlaubte Besitzwehr führt im Strafrecht zu einer Rechtfertigung des Verhaltens.
Beispiel
Eine Patientenverfügung gem. § 1827 BGB stellt eine rechtfertigende Einwilligung dar. Abs. 1 regelt dabei die tatsächliche, Abs. 2 die mutmaßliche Einwilligung. Stellt also der Betreuer die lebenserhaltenden Maßnahmen aufgrund einer Patientenverfügung ein und verursacht er damit den Tod des Betreuten, so ist er straflos aufgrund einer Einwilligung unter den Voraussetzungen der §§ 1827 ff. BGB.BGH Urteil vom 25.6.2010, 2 StR 454/09 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de.
Neben den gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründen kann es auch solche geben, die durch Gewohnheitsrecht entstanden sind, z.B. die rechtfertigende Pflichtenkollision bei den Unterlassungsdelikten. Das Analogieverbot steht insoweit nicht entgegen, da es lediglich Analogien verbietet, die sich zu Lasten des Täters auswirken.
Hinweis
Sofern die Rechtfertigungsgründe einen Verstoß gegen „Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ enthalten, verstoßen sie gegen höherrangiges Recht und scheiden als Erlaubnisnorm aus. So hat der BGH in den Mauerschützenfällen § 27 Abs. 2 des GrenzG–DDR für unwirksam erklärt, da die Tötung unbewaffneter Flüchtlinge den jedem Rechtssystem immanenten Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit verletze.BGH NJW 1995, 2728 ff.
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Expertentipp
Machen Sie sich die Mühe und lesen Sie die nebenstehend zitierten Normen. Sie können sich so einen hervorragenden ersten Eindruck von den Rechtfertigungsgründen verschaffen.
Folgende Rechtfertigungsgründe können in der Klausur relevant werden:Vgl. dazu auch die Übersicht bei Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 423.
Aus dem StGB | Aus dem BGB | Aus der StPO | Aus Gewohnheitsrecht |
---|---|---|---|
§ 32 Notwehr | § 227 Notwehr | § 127 Festnahmerecht | Einwilligung |
§ 34 rechtfertigender Notstand | § 228 Defensivnotstand |
| Mutmaßliche Einwilligung |
§ 193 Wahrnehmung berechtigter Interessen | § 229 Selbsthilfe |
| Rechtfertigende Pflichtenkollision |
§ 218a Abs. 2 und 3 indizierter Schwangerschaftsabbruch | § 859 Besitzwehr/Besitzkehr |
|
|
§ 904 Aggressivnotstand |
|
| |
| § 241a Einwirkung auf unbestellt zugeschickte Sachen |
|
|
§1827 Patientenverfügung |
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Kommen in der Klausur für ein und dasselbe Verhalten mehrere Rechtfertigungsgründe als Erlaubnisnorm in Betracht, gilt das Gebot der Spezialität, d.h. Sie müssen vorrangig den Rechtfertigungsgrund prüfen, der für Rechtsgutseingriffe der fraglichen Art geschaffen wurde. Sofern die Voraussetzungen dieses speziellen Rechtfertigungsgrundes nicht vorliegen sollten, können Sie auf den allgemeineren Rechtfertigungsgrund zurückgreifen, da mehrere Rechtfertigungsgründe grundsätzlich nebeneinander angewendet werden können. Nur in Ausnahmefällen ist ein Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund unzulässig, wenn der spezielle Rechtfertigungsgrund ausnahmsweise eine abschließende Regelung enthält.
Beispiel
Gegenüber dem in § 34 normierten rechtfertigenden Notstand sind die Regelungen, die in den §§ 228, 904 BGB getroffen wurden, vorrangig. Sofern also die Vorschriften grundsätzlich anwendbar sind, im speziellen Fall jedoch die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes nicht gegeben sind, ist ein Rückgriff auf § 34 nicht möglich.Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 441.
§ 32 geht § 34 vor, sofern ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff besteht. Haben Sie diesen jedoch verneint, dann bleibt Raum für § 34, der nur eine gegenwärtige Gefahr verlangt.
§ 227 BGB braucht in der Klausur nicht geprüft zu werden, da der insofern inhaltsgleiche § 32 vorrangig zu prüfen ist und keinen Anwendungsbereich für § 227 BGB mehr offen lässt.
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Beachten Sie, dass die Prüfung der Rechtfertigungsgründe stets auf den jeweiligen Tatbestand bezogen ist. Es ist daher möglich, dass ein und dieselbe Erlaubnisnorm einen speziellen Eingriff in ein Rechtsgut gestattet, einen anderen Eingriff hingegen nicht erlaubt. Die Rechtfertigung ist also teilbar.
Beispiel
Der couragierte A hat den flüchtenden Dieb D an beiden Armen fest gepackt und ihn so an der weiteren Flucht gehindert. Er beabsichtigt, ihn solange festzuhalten, bis die Polizei erscheint. Da sich D jedoch sträubt, versetzt ihm A schließlich unter Verwendung eines Schlagrings einen gezielten Kinnhaken, der zu sofortiger Bewusstlosigkeit des D führt und sicherstellt, dass D bis zum Eintreffen der Polizei an Ort und Stelle verbleibt.
Hier ist das Festhalten des Flüchtenden D gem. § 127 StPO gerechtfertigt. § 127 StPO rechtfertigt jedoch nicht gezielte und eventuell sogar gefährliche Körperverletzungen, so dass der Kinnhaken, den A dem D versetzt, nicht über § 127 StPO gerechtfertigt ist. Nach dieser Vorschrift sind allenfalls solche Körperverletzungen gerechtfertigt, die mit dem Festhalten zwangsläufig einhergehen, z.B. Prellungen, die infolge des Festhaltens entstehen. Eventuell könnte an § 32 gedacht werden. Dann muss allerdings das Niederschlagen die erforderliche Verteidigung sein.