Inhaltsverzeichnis
- C. Das Rechtsstaatsprinzip
- I. Der Gewaltenteilungsgrundsatz
- II. Die Rechtsbindung aller staatlichen Gewalten und die Normenhierarchie
- 1. Einteilung der Gesetze
- 2. Normenhierarchie
- III. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
- 1. Der Vorrang des Gesetzes
- 2. Der Vorbehalt des Gesetzes
- IV. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes
- V. Rechtssicherheit (Bestimmtheits- und Vertrauensgrundsatz)
- 1. Bestimmtheitsgrundsatz
- 2. Vertrauensschutz
- a) Echte Rückwirkung
- b) Unechte Rückwirkung
- c) Besonderheiten bei rückwirkenden Strafgesetzen
- d) Besonderheiten für Entscheidungen der Gerichte
- VI. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip
C. Das Rechtsstaatsprinzip
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Das Rechtsstaatsprinzip ist in Art. 20 GG nicht ausdrücklich erwähnt, aber ergibt sich ausdrücklich aus anderen Bestimmungen des Grundgesetzes sowie aus der Auslegung des Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG. So knüpft Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union ausdrücklich an die Voraussetzung, dass die Europäische Union den Grundsätzen des Rechtsstaates entspricht. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verpflichtet die Bundesländer zu Rechtsstaatlichkeit. Darüber hinaus enthalten der Grundsatz der Gewaltenteilung und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG wichtige Teilelemente des Rechtsstaatsprinzips. Aus diesen Überlegungen heraus ist abzuleiten, dass das Rechtsstaatsprinzip zu den von Art. 20 GG gewährleisteten und von Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Staatsstrukturprinzipien gehört.
Definition
Definition: Rechtsstaat
Unter einem Rechtsstaat versteht man einen Staat, dessen Ziel die Gewährleistung von Freiheit und Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflussbaren Bereich ist und dessen Machtausübung durch Recht und Gesetz geregelt und begrenzt ist.
Wesentliches Merkmal eines Rechtsstaates ist damit die Mäßigung und Bändigung der Staatsgewalt. Sie ist gemäßigt, da sie sich demokratisch aufgestellten Spielregeln (Gesetzen) zu unterwerfen hat. Selbst der Gesetzgeber ist hierbei nicht frei, sondern nach Art. 20 Abs. 3 Hs. 1 GG an die Verfassung gebunden. Die Einhaltung der bindenden Rechtsnormen wird von einer unabhängigen dritten Gewalt, der Rechtsprechung, überwacht. Das Rechtsstaatsprinzip hat einzelne Ausprägungen, die im Folgenden dargestellt werden.
I. Der Gewaltenteilungsgrundsatz
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Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG festgelegt. Danach wird die Staatsgewalt durch besondere Organe der gesetzgebenden Gewalt, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Daraus wird eine Aufteilung der drei staatlichen Funktionen deutlich:
• | Die Funktion der Gesetzgebung (Legislative) wird auf Bundesebene hauptsächlich durch Bundestag und Bundesrat wahrgenommen. Beide Organe haben ein Gesetzesinitiativrecht (Art. 76 Abs. 1 GG). Der Bundestag beschließt die Gesetze (Art. 77 Abs. 1 GG) und beteiligt den Bundesrat (Art. 77 Abs. 2 GG). |
• | Die wesentliche Aufgabe der exekutiven Gewalt ist der Vollzug der Gesetze. Sie besteht auf Bundesebene aus der Bundesregierung (Art. 62 GG) und der nachgeordneten Verwaltung (Art. 83 ff. GG). |
• | Die rechtsprechende Gewalt (Judikative) überprüft konkrete Handlungen der anderen Gewalten am Maßstab von Recht und Gesetz. Sie ist unabhängigen und nur dem Gesetz unterworfenen Richtern anvertraut (Art. 92 und 97 Abs. 1 GG). |
Beispiel
Um während einer Pandemie der Bunderegierung „zügige“ und „unbürokratische“ Maßnahmen zu deren Eindämmung zu ermöglichen, beschließt der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates ein Gesetz, dass die Bundesregierung dazu ermächtigt, für die Dauer der Pandemie anstelle des Bundestages Gesetze zu erlassen.
Ein solches „Ermächtigungsgesetz“ wäre wegen Verstoßes gegen den rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verfassungswidrig und damit nichtig. Selbst wenn das Gesetz im Wege einer Grundgesetzänderung mit der erforderlichen verfassungsändernden Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG beschlossen würde, so würde die Grundgesetzänderung nach Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ebenso verfassungswidrig sein.
Da der Grundsatz der Gewaltenteilung über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auch für die Länderverfassungen gilt, besteht auch auf dieser Ebene eine jeweilige Aufteilung der staatlichen Befugnisse auf die drei Gewalten. Auf Ebene eines Bundesstaates findet also durch die staatliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Gliedstaaten und durch die jeweilige Aufteilung der hoheitlichen Macht auf die drei Gewalten eine doppelte Beschränkung der Staatsgewalt auf vertikaler und horizontaler Ebene statt.
Expertentipp
Bei der Falllösung werden Sie aus dem allgemeinen Prinzip der Gewaltenteilung in aller Regel keine selbstständigen Schlussfolgerungen ziehen. Es kann aber für die Auslegung der Normen über die Befugnisse der Staatsorgane Bedeutung haben.
Die grundsätzliche Aufteilung der drei Staatsfunktionen wird ergänzt durch ein System wechselseitiger personeller und sachlicher Abhängigkeiten und Kontrollen. Dadurch soll verhindert werden, dass eine der Staatsgewalten zu mächtig wird (z.B. kein „Polizeistaat“ und oder kein „Richterstaat“). Wesentliche Ausprägungen des Systems des wechselseitigen Kontrollsystems der drei Staatsgewalten („checks and balances“) sind dem folgenden Schaubild zu entnehmen:
Expertentipp
Bitte sehen Sie sich die im Schaubild angegebenen Artikel des GG an und ordnen Sie diese in den Zusammenhang der Gewaltenteilung ein.
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Das Trennungsprinzip der Gewaltenteilung wird im Grundgesetz nicht durchgehend strikt durchgehalten. Es finden sich vielmehr zwischen der legislativen und der exekutiven Gewalt Durchbrechungen, in denen die Gewalten sich teilweise verzahnen. Ursache ist in erster Linie das parlamentarische Regierungssystem, welches die Bundesregierung durch die Kanzlerwahl und das konstruktive Misstrauensvotum in die Abhängigkeit des Bundestages stellt, aber gerade deshalb einer engen Zusammenarbeit und Verzahnung zwischen den die Bundesregierung tragenden Bundestagsfraktionen und der Bundesregierung nicht entgegensteht.
Beispiel
Es ist zulässig und geradezu üblich, dass der Bundeskanzler und die Bundesminister zugleich Mandate als Bundestagsabgeordnete inne haben.
Der Sachverstand des Exekutivorgans Bundesregierung wird überdies für die Gesetzgebungstätigkeit genutzt. Aufgrund der Wesentlichkeitstheorie des Demokratieprinzips bleibt es aber dabei, dass nur der Bundestag die wesentlichen Fragen des Gemeinwohls regeln darf.
Beispiel
• | Deshalb ist die Mitwirkung der Bundesregierung an der Gesetzgebung beschränkt auf das Gesetzesinitiativrecht nach Art. 76 Abs. 1 GG. Die Beschlussfassung obliegt dem Bundestag unter Beteiligung des Bundesrates. |
• | Zwar können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG Rechtsverordnungen erlassen, allerdings müssen sie hierzu durch ein Parlamentsgesetz ermächtigt werden, in dem Verordnungsgeber, Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmt sind (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG). |
II. Die Rechtsbindung aller staatlichen Gewalten und die Normenhierarchie
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Art. 20 Abs. 3 GG bringt eine umfängliche Rechtsbindung aller drei staatlichen Gewalten zum Ausdruck, in dem es dort heißt: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Die Staatsgewalt wird also gemäßigt, in dem sie sich an demokratisch aufgestellte Spielregeln (Gesetze) zu halten hat. Selbst der Gesetzgeber ist hierbei nicht frei, sondern auch an die höherrangige Verfassung gebunden.
1. Einteilung der Gesetze
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Die Gesetze lassen sich in vielfältiger Weise einteilen und differenzieren. Zunächst ist auf Bundesebene zu unterscheiden zwischen der Verfassung selbst (Grundgesetz) und den Gesetzen im Übrigen (einfache Gesetze). Dieser Unterscheid ist bedeutsam, da nach Art. 20 Abs. 3 GG die einfachen Gesetze nicht gegen die Verfassung verstoßen dürfen.
In einem Bundesstaat sind auch die Gliedstaaten zur Gesetzgebung befugt, so dass Bundes- und Landesgesetze zu differenzieren sind. Auch auf Landesebene genießt die Verfassung Vorrang vor den einfachen Landesgesetzen.
Schließlich ist noch danach zu unterscheiden, ob es sich um ein Gesetz im materiellen Sinne oder im formellen Sinne handelt.
Definition
Definition: Gesetze im materiellen Sinne
Gesetze im materiellen Sinne sind alle Rechtssätze mit abstrakt-generellen Inhalt.
Definition
Definition: Abstrakt / Generell
Generell heißt, dass sie für eine unbestimmte Vielzahl von Personen gelten.
Beispiel
Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes und der Länder, kommunale Satzungen, ordnungsbehördliche Verordnungen jeweils mit abstrakt-generellen Inhalten
Definition
Definition: Gesetzen im formellen Sinne
Unter Gesetzen im formellen Sinne versteht man staatliche Rechtssätze, die vom Parlament in dem von der Verfassung hierfür vorgesehenen Verfahren und in der dafür vorgesehenen Form erlassen werden.
Beispiel
Die vom Bundestag bzw. Landtag beschlossenen Bundes- bzw. Landesgesetze unabhängig davon, ob sie abstrakt-genereller Art oder nicht sind.
In aller Regel sind also die vom Bundestag beschlossenen Gesetze sowohl Gesetze im formellen Sinne als auch im materiellen Sinne. Nur ausnahmsweise liegt ein Gesetz im rein formellen Sinne vor.
Beispiel
• | Ein Gesetz im rein formellen Sinne wird angenommen im Fall des Haushaltsgesetzes, welches nach Art. 110 Abs. 2 GG den Haushaltsplan für ein bestimmtes Rechnungsjahr feststellt. |
• | Auch der Fall einer Legislativenteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG ist ein Gesetz im rein formellen Sinne, da dort ein konkret-individueller Enteignungsgegenstand normiert wird. |
Gesetze im rein materiellen Sinne sind abstrakt-generelle Rechtssätze, die nicht vom Parlament erlassen worden, also Rechtsverordnungen und Satzungen. Das Parlament kann unter den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG seine Befugnis zur Rechtssetzung an die Exekutive delegieren und sie zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen. Gebietskörperschaften oder andere Selbstverwaltungskörperschaften können Satzungen zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten erlassen.
Beispiel
Gemeindesatzungen, Promotionsordnung einer Universität, Berufsordnung einer berufsständischen Kammer.
Geschäftsordnungen (wie die Geschäftsordnung des Bundestages) sind keine bürgerverbindlichen Regelungen, sondern wirken rein intern für die Mitglieder des betroffenen Organs (Bundestag, Gemeinderat).
2. Normenhierarchie
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In der föderalen Rechtsordnung des Grundgesetzes, in der Normen sowohl vom Bund als auch von den Ländern erlassen werden, existiert eine Vielfalt von Rechtsquellen. Zur Gewährleistung von Rechtssicherheit ist eine Hierarchie der Normen notwendig: Das Grundgesetz steht an der Spitze der Normenhierarchie: Es hat also einen höheren Rang als alle Gesetze und Rechtsnormen des Bundes und der Länder. Dies ergibt sich aus der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes, vgl. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG. Verfassungswidrige Gesetze werden auf Antrag vom BVerfG für nichtig erklärt, vgl. § 78 BVerfGG.
Im Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgesetzen verhindern die abgrenzenden Regelungen über die Gesetzgebungskompetenz (Art. 70 bis 74 GG) in aller Regel, dass es zu einer Kollision kommt.
Für den seltenen Fall, dass sich trotzdem eine Kollision ereignet, trifft Art. 31 GG die Entscheidung.
„Bundesrecht bricht Landesrecht“.
Dies bedeutet: Bundesrecht hat Vorrang vor Landesrecht. Dies hat zur Folge, dass jegliches Landesrecht (z.B. auch die Landesverfassung) im Kollisionsfall mit jeglichem wirksamen Bundesrecht (z.B. einer Bundesrechtsverordnung) rechtswidrig ist. Eine Kollision von Bundes- und Landesrecht liegt vor, wenn eine Bundes- und eine Landesrechtsnorm auf denselben Sachverhalt anwendbar sind und zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen.
Expertentipp
Nur wirksames Landesrecht wird gebrochen. Landesrecht ist nicht wirksam, wenn dem Landesgesetzgeber beim Erlass der Vorschrift die Kompetenz fehlte (dann nichtig), oder der Bund von der konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch gemacht hat. In beiden Fällen ist das Landesrecht mangels Kompetenz nichtig. Art. 31 GG regelt nur die Fälle der Kollision wirksamer Normen.
Prüfen Sie daher stets die Rechtmäßigkeit des Gesetzes. Art. 31 GG kommt nicht zur Anwendung, soweit sich die Nichtigkeit kollidierenden Landesrechts bereits aus anderen Vorschriften des Grundgesetzes ergibt.
Beispiel
Missachtet etwa ein Land im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die Sperrwirkung eines Bundesgesetzes, ist das Landesgesetz gem. Art. 72 Abs. 1 GG ungültig; eines Rückgriffs auf Art. 31 GG bedarf es insoweit nicht.
Innerhalb des Bundesrechts haben die Parlamentsgesetze Vorrang vor den Rechtsverordnungen. Rechtsverordnungen werden von der exekutiven Gewalt erlassen. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Gesetzgebung nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, während die exekutive Gewalt zusätzlich an Gesetz und Recht gebunden ist. Das Verhältnis von Gesetz und Rechtsverordnung wird in Art. 80 Abs. 1 GG präzisiert. Danach hat die Exekutive ein Verordnungsrecht nur, wenn das Gesetz es einräumt und inhaltlich näher ausgestaltet, Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG.
Im Landesrecht gilt das gleiche Prinzip, d.h. die Landesverfassung hat Vorrang vor den Landesgesetzen im formellen Sinne und diese sind höherrangig gegenüber den Rechtsverordnungen. Auf der untersten Ebene stehen die kommunalen Satzungen, da sie mit allen Gesetzen in Einklang stehen müssen.
Nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG kann der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Zu diesen Hoheitsrechten gehört auch die Kompetenz zur Rechtserzeugung. Das Unionsrecht genießt im Konfliktfall grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht inklusive der nationalen Verfassung., denn die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten kann nicht von deren unterschiedlichen Verfassungsordnungen abhängen. Der Anwendungsvorrang gilt sowohl zugunsten des primären wie auch des sekundären Unionsrechts. Das primäre Unionsrecht ist unmittelbar durch die Mitgliedsstaaten geschaffen und umfasst im Wesentlichen die Verträge zur Errichtung und zur Arbeitsweise der EU nebst Protokolle sowie die EU-Grundrechte-Charta. Das sekundäre Unionsrecht wird unmittelbar von der Europäischen Union normiert und ist damit mittelbar („sekundär“) den Mitgliedsstaaten zurechenbar. Zum sekundären Unionsrecht gehören Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse der EU. Man spricht von einem Anwendungsvorrang, weil das Unionsrecht nur den durch die Europäischen Verträge definierten Anwendungsbereich hat und im Übrigen widersprechende nationale Regelungen weiterhin Geltung beanspruchen können.
Beispiel
Für den grenzüberschreitenden Verkehr mit Lebensmitteln zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geht im Falle eines Konfliktes von europäischen Lebensmittelrecht mit den nationalen Lebensmittelrechten die Unionsregelung vor. Werden dagegen Lebensmittel aus Drittstaaten (Staaten außerhalb der EU) eingeführt, findet darauf das nationale Recht der Mitgliedsstaaten weiter Anwendung.
Im Fall der Kollision von Vorschriften gelten folgende Regeln:
Definition
Definition: Lex superior derogat legi inferiori:
Lex superior derogat legi inferiori: Das höherrangige Gesetz verdrängt das Gesetz des niedrigeren Ranges.
Beispiel
Bundesrecht verdrängt Landesrecht
Definition
Definition: Lex posterior derogat legi priori:
Lex posterior derogat legi priori: Das spätere Gesetz verdrängt das frühere.
Beispiel
Bei einer Gesetzesnovelle gilt die neue Fassung und damit aktuelle Fassung.
Definition
Definition: Lex specialis derogat legi generali:
Lex specialis derogat legi generali: Das speziellere Gesetz verdrängt das allgemeinere.
Beispiel
Ist der sachliche Schutzbereich eines speziellen Freiheitsgrundrechts wie etwa Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) eröffnet, so kommt das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) nicht zur Anwendung.
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Kollidieren zwei Rechtsgüter, die gleichermaßen durch Normen auf gleicher Rangstufe geschützt werden, so ist durch Abwägung festzustellen, welchem Rechtsgut im konkreten Fall der Vorrang gebührt. Dabei ist nach einem möglichst schonenden Ausgleich zwischen den Verfassungsgütern zu suchen. Die Abwägung hat so zu erfolgen, dass möglichst beiden Verfassungsgütern zu bestmöglicher Entfaltung und Wirkung verholfen wird. Das ist der Grundsatz der praktischen Konkordanz.
Beispiel
An stillen Feiertagen wie etwa Karfreitag sind nach den Landesfeiertagsgesetzen der Unterhaltung dienende öffentliche Veranstaltungen (Theaterdarbietungen etc.) untersagt. Der Feiertagsschutz ist verfassungsrechtlich durch Art. 140 GG, Art. 139 WRV geschützt. Durch das Veranstaltungsverbot wird aber in die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG der Kulturschaffenden eingegriffen. Den in den Landesfeiertagsgesetzen vorgenommenen Ausgleich der kollidierenden Verfassungsgüter, wonach im Ergebnis die Kunstfreiheit an wenigen Tagen im Jahr zugunsten des Feiertagsschutzes zurücktreten muss (praktische Konkordanz), hat das Bundesverwaltungsgericht für verhältnismäßig angesehen.BVerwG DVBl 1994, 1242.
Lässt eine Norm des einfachen Rechts mehrere Auslegungen zu, von denen die eine zu einem verfassungswidrigen Ergebnis, die andere aber zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führen würde, so ist die Letztere zu wählen. Das ist das Gebot der verfassungskonformen Auslegung.
Lässt sich ein verfassungsgemäßes Ergebnis nur dadurch erreichen, dass man den Tatbestand oder die Rechtsfolge der einfachen Norm reduziert, so ist dies zulässig und geboten, sofern der Wortlaut der Norm hierfür eine sinnvolle Möglichkeit eröffnet. Dabei handelt es sich um die sog. verfassungskonforme Reduktion.
Beispiel
Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel zu veranstalten, hat dies nach § 14 Abs. 1 Versammlungsgesetz spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung anzumelden. Das BVerfG hat die Norm im Hinblick auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) dahingehend verfassungskonform interpretiert, dass bei Spontanversammlungen die Anmeldepflicht entfalle und bei Eilversammlungen der Anmeldezeitraum dahingehend zu verkürzen sein, dass sie (erst) anzumelden sind, sobald die Möglichkeit hierzu besteht.BVerfG NJW 1992, 890.
III. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
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Art. 20 Abs. 3 GG bindet die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung nicht nur an die verfassungsmäßige Ordnung, sondern auch an Gesetz und Recht. In einem Rechtsstaat besteht mithin bei jeglichen hoheitlichen Handlungen eine Rechtsbindung und damit kein rechtsfreier Raum.
Beispiel
Auch das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten ist nicht vom Recht freigestellt, s. Rn. 174.
Die Rechtsbindung gilt danach auch in Sonderrechtsverhältnissen (z.B. Schüler, Strafgefangene, Soldaten, Beamte); insbesondere entfalten auch dort die Grundrechte eine – wenn auch im Einzelfall eingeschränkte – Wirkung.
Beispiel
Ein Inhaftierter kann sich mittels einer Verfassungsbeschwerde gegen die Anhaltung seines staatskritischen Briefs aus der JVA heraus an einen Angehörigen durch die Anstaltsleitung richten. Hierdurch ist er in seinen Grundrechten auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt, wenn der daraus folgende Vertraulichkeitsschutz nicht hinreichend berücksichtigt worden ist.BVerfG Beschluss vom 17.3.2021 – 2 BvR 194/20 -, juris.
Die vollziehende Gewalt hat selbst Rechtsnormen, die sie für mit höherrangigem Recht unvereinbar hält, anzuwenden.
Beispiel
Obwohl der städtische Kommunalbeamte K die vom Stadtrat beschlossene Entwässerungssatzung für rechtswidrig hält, muss er diese bei der Erstellung der Gebührenbescheide zugrunde legen. Sofern ein Bürger hingegen gegen einen solchen Gebührenbescheid klagt und das Verwaltungsgericht die Entwässerungssatzung als Ermächtigungsgrundlage für den Bescheid für rechtswidrig erachtet, würde der Bescheid mangels rechtmäßiger satzungsrechtlicher Ermächtigungsgrundlage vom Gericht aufgehoben.
Hinweis
Dies unterscheidet die Verwaltung von der Rechtsprechung, die rein materielle Gesetze (Rechtsverordnungen und Satzungen) im Falle ihrer Rechtswidrigkeit für den konkreten Einzelfall von sich aus verwerfen kann. Hält ein Gericht dagegen ein entscheidungserhebliches Gesetz im formellen Sinne (Parlamentsgesetz) für rechtswidrig, so ist das Gerichtsverfahren auszusetzen und dem Landes- bzw. Bundesverfassungsgericht die Frage der Gültigkeit der Norm vorzulegen (konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG).
Unter der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung versteht man zwei Prinzipien; den Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und den Vorbehalt des Gesetzes.
1. Der Vorrang des Gesetzes
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Expertentipp
Merken Sie sich dazu: „Nicht gegen Gesetze“.
Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes besagt, dass die Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden ist, Art. 20 Abs. 3 GG. Sie darf bei ihrer Tätigkeit nicht gegen Rechtsnormen (Gesetz, Verordnungen, Satzungen, Gewohnheitsrecht) verstoßen.Degenhart Staatsrecht I Rn. 310 f.
2. Der Vorbehalt des Gesetzes
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Expertentipp
Merken Sie sich dazu: „Nicht ohne Gesetz“.
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt, dass die Verwaltung bei bestimmten hoheitlichen Maßnahmen nur tätig werden darf, wenn sie durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes dazu ermächtigt worden ist.
Hinweis
Das rechtsstaatliche Prinzip des Gesetzesovorbehaltes ergänzt somit die demokratische Wesentlichkeitstheorie (vgl. Rn. 23). Im Anwendungsbereich des Vorbehaltes des Gesetzes reicht es nicht, wenn das Parlament nur einen das Verwaltungshandeln legitimierenden Beschluss fasst. Wesentliche Entscheidungen müssen dann vielmehr vom Parlament in Form eines Gesetzes getroffen werden.
Der Vorbehalt des Gesetzes gilt nicht für jedes Verwaltungshandeln. Er findet aber jedenfalls dann Anwendung, wenn die Verwaltung gegenüber dem Bürger unmittelbar belastende Maßnahmen ergreift (sog. Eingriffsverwaltung). Das ergibt sich schon aus den speziellen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten.
Expertentipp
Unterscheiden Sie bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit: Während aufgrund des Vorrangs des Gesetzes eine Maßnahme nur rechtswidrig ist, wenn sie gegen ein bestehendes Gesetz verstößt, ist sie im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes schon dann rechtswidrig, wenn es keine gesetzliche Ermächtigung für ein Tätigwerden der Verwaltung gab. Sie müssen bei Letzterem also immer zuerst nach der Eingriffsnorm suchen.
Beispiel
Auch die Sonderrechtsverhältnisse sind nicht grundsätzlich von der Geltung des Gesetzesvorbehalts ausgenommen. Grundrechtsrelevante Eingriffe wie die Überwachung der GefangenenpostBVerfGE 33, 1. oder ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen SchulenBVerfGE 108, 282. bedürfen daher einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.
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Umstritten ist aber nach wie vor, ob auch begünstigende Maßnahmen der Verwaltung (sog. Leistungsverwaltung) unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehen, ob also z.B. die Vergabe von Subventionen einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Im Wesentlichen werden folgende Ansichten vertreten:Degenhart Staatsrecht I Rn. 314 ff.
Die Lehre vom Totalvorbehalt fordert auch im Bereich der Leistungsverwaltung für jedes staatliche Handeln eine Grundlage in Form eines formellen Gesetzes oder einer Verordnung. Nach der Lehre vom Eingriffsvorbehalt bedürfen hingegen nur Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Ermächtigung einer gesetzlichen Grundlage, nicht dagegen die Gewährung von Subventionen. Nach einer vermittelnden Ansicht wird die Bereitstellung entsprechender Mittel im Haushaltsplan, der bei Bund und Ländern in Gesetzesform als Haushaltsgesetz beschlossen wird, als hinreichende Grundlage für die Leistungsverwaltung angenommen.
Expertentipp
Spulen Sie die Theorien nicht einfach herunter. Argumentieren Sie einerseits mit dem Erfordernis der Flexibilität der Verwaltung, deren Handlungsspielräume bei einem totalen Gesetzesvorbehalt verengt würden, und andererseits damit, dass auch Leistungen – vor allem unter Gleichheitsgesichtspunkten – grundrechtsrelevant sein und in ihren Auswirkungen Eingriffen nahekommen können.
Beispiel
Bei Subventionen reicht es regelmäßig aus, dass die Mittel im Haushaltsplan ausgewiesen sind.BVerwGE 90, 112, 126. Anders liegt der Fall, wenn durch Leistungen der Verwaltung Grundrechte Dritter betroffen sind. Dies ist insbesondere in wettbewerblichen Konkurrenzsituationen der Fall, da dort die Begünstigung eines Wettbewerbers zu einer Benachteiligung für Mitbewerber führt. Hierin kann eine Benachteiligung von Grundrechtspositionen der Mitbewerber – etwa ihrer Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) oder ihrer Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) – liegen.
IV. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes
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Essentieller Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist die Garantie effektiven Rechtsschutzes, auch bezeichnet als allgemeiner Justizgewährleistungsanspruch. Er wird teilweise in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG konkretisiert. Danach steht jedem der Rechtsweg offen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Streitigkeiten zwischen den Bürgern erfasst die Vorschrift allerdings nicht. Hier muss auf den allgemeinen rechtsstaatlichen Justizgewährleistungsanspruch zurückgegriffen werden.BVerfGE 107, 396, 406; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 128; Vertiefend Degenhart Staatsrecht I Rn. 437 ff. Hierunter wird das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie eine grundsätzlich umfassende Prüfung des Streitgegenstandes mit verbindlicher Entscheidung durch den Richter verstanden.
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Eine weitere Folgerung, die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und auch ausdrücklich aus Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG ergibt, ist das Verbot grundrechtseinschränkender Einzelfallgesetze. Gesetze müssen grundsätzlich abstrakt-generell sein. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der Rechtsschutz unmittelbar gegen Gesetze für den Betroffenen verkürzt ist.
Beispiel
Ein Bürger kann unmittelbar gegen ein ihn belastendes Bundesgesetz nur unter den engen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) vorgehen und daher erst- und letztinstanzlich nur das BVerfG anrufen. Wird er aber durch einen gesetzesausführenden Verwaltungsakt betroffen, kann er dagegen den verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug in Anspruch nehmen und ggf. die letztinstanzliche Entscheidung mittels einer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG auf etwaige Grundrechtsverstöße überprüfen lassen.
Im Gegensatz zu den Gesetzen sind Verwaltungsmaßnahmen typischerweise individuell und konkret.
Definition
Definition: Individuell
Individuell bedeutet: Geltung für bestimmte Personen, jedenfalls einen bestimmbaren Personenkreis.
Konkret bedeutet: Geltung für einen Einzelfall oder eine bestimmte Zahl von Fällen.
Beispiel
Der Verwaltungsakt als typische Handlungsform der Verwaltung wird in § 35 S. 1 VwVfG als Einzelfallregelung definiert.
Hinweis
Als Faustregel gilt: Individuell-konkrete Maßnahmen sind Sache der Verwaltung; abstrakt-generelle Regelungen sind Sache des Gesetzgebers.
Die Unterscheidung zwischen individuell-konkreter Maßnahme und abstrakt-genereller Regelung verwirklicht den Gewaltenteilungsgrundsatz und damit ein Teilelement des Rechtsstaatsprinzips. Trotzdem wird sie nicht generell durchgehalten. So erlässt die Verwaltung mit Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsvorschriften abstrakt-generelle Regelungen. Umgekehrt sind dem Gesetzgeber Einzelfallregelungen nicht generell verboten. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG statuiert nur ein Verbot grundrechtseinschränkender Einzelfallgesetze.
Hinweis
Es gilt der Grundsatz: Soweit Grundrechte überhaupt durch Gesetz eingeschränkt werden können, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten.
Eine besondere Ausnahmeregelung gibt es für Legalenteignungen (Enteignung von Eigentum unmittelbar durch Gesetz). Diese sind nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG als lex specialis zu Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG grundsätzlich zulässig, aber gegenüber Administrativenteignungen (Enteignung von Eigentum durch Verwaltungsakt) subsidiär.BVerfGE 24, 367 ff.
Beispiel
Nach einer Flutkatastrophe überführt ein Küstenland private Deichgrundstücke durch Gesetz in Landeseigentum (Deichneuordnungsgesetz). Ein Verstoß gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) ist nicht gegeben, da Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG als speziellere Regelung eine Enteignung durch Gesetz ausdrücklich zulässt. Der Eingriff in das Eigentumsgrundrecht könnte daher nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage liegt in Gestalt des Deichneuordnungsgesetzes vor; allerdings ist das Land in der Regel verpflichtet, zum Mittel der Enteignung durch Verwaltungsakt zu greifen, um den Rechtsschutz nicht zu verkürzen. Nur in besonderen Ausnahmefällen kann die Enteignung durch den Gesetzgeber (Legalenteignung) erfolgen. Ein solch außergewöhnlicher Fall liegt etwa vor, wenn eine Naturkatastrophe die unverzügliche gesetzgeberische Verfügung über die entsprechenden Grundstücke im zwingenden Allgemeininteresse erforderlich macht. Ein Zuwarten auf Einzelenteignungen mit den zu erwartenden einzelnen Prozesse könnte dann zu nicht mehr hinnehmbaren Verzögerungen führen.BVerfGE 24, 367 ff.
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Gesetze, die keine Grundrechte einschränken, dürfen Einzelfallgesetze sein. Nach Auffassung des BVerfG lässt sich ein über Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG hinausgreifendes Verbot von Einzelfallgesetzen nicht aus dem Rechtsstaatprinzip herleiten. Dem Grundgesetz könne nicht entnommen werden, dass es – von Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG abgesehen – von einem Gesetzesbegriff ausgeht, der nur generelle Regelungen zulässt. Die gesetzliche Regelung eines Einzelfalles sei dann nicht ausgeschlossen, wenn der Sachverhalt so beschaffen ist, dass es nur einen Fall dieser Art gibt und die Regelung dieses singulären Sachverhaltes von sachlichen Gründen getragen wird.BVerfGE 95, 1, 17.
Beispiel
Es kann für eine planungsrechtliche Genehmigung einer Eisenbahn-Neustrecke unmittelbar durch den Gesetzgeber besondere rechtfertigende Gründe geben (besondere Dringlichkeit und Bedeutung einer Schnellbahnlinie), s. dazu den Fall in Rn. 265 f.
V. Rechtssicherheit (Bestimmtheits- und Vertrauensgrundsatz)
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Ein wichtiger Aspekt des Rechtsstaatsprinzips ist der Grundsatz der Rechtssicherheit. Der Bürger soll dadurch vor unkalkulierbaren und damit willkürlichen Handeln des Staates geschützt werden. Zum Grundsatz der Rechtssicherheit gehören der Bestimmtheitsgrundsatz und die Beachtung des Vertrauensschutzes beim Erlass rückwirkender Regelungen.
1. Bestimmtheitsgrundsatz
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Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt vom Gesetzgeber inhaltlich klare und hinreichend bestimmte Regelungen, die dem Normunterworfenen eindeutig vermitteln, was seine Rechte und Pflichten sind. Eine Norm ist unbestimmt, wenn die Normadressaten nicht erkennen können, was von ihnen verlangt wird oder auf welche Folgen der Vorschrift sie sich einzurichten haben.BVerfGE 31, 255, 264; 87, 234, 263.
Für Strafgesetze ist der Bestimmtheitsgrundsatz besonders konkretisiert in Art. 103 Abs. 2 GG:
„Eine Tat kann nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“
Das besondere Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG ist deshalb streng gefasst, weil es den Bürgern im Bereich des besonders belastenden Strafrechts noch weniger zugemutet werden kann, über die Rechtslage im Unklaren zu sein.
Beispiel
Eine Norm, die ein „ungebührliches Verhalten“ im öffentlichen Raum mit einer „angemessenen Strafe“ versehen würde, wäre sowohl vom Tatbestand als auch von der Rechtsfolge zu unbestimmt. Die Adressaten können weder erkennen, was von ihnen verlangt wird noch auf welche Folgen der Vorschrift sie sich einzurichten haben.
Weiterhin ordnet Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG für gesetzliche Verordnungsermächtigungen präzisierend an, dass Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz hinreichend bestimmt sein muss. Der Bestimmtheitsgrundsatz findet sich auch im einfachen Recht für Einzelakte der vollziehenden Gewalt (vgl. § 37 Abs. 1 VwVfG) und der rechtsprechenden Gewalt (vgl. § 313 ZPO).
Da Rechtsnormen für eine Vielzahl von Lebenssachverhalten Anwendung finden müssen, sind sie abstrakt-generell formuliert und verwenden notwendigerweise „unbestimmte Rechtsbegriffe“. Hierin liegt in aller Regel kein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, da die beschriebenen Mittel der Verwaltung und Rechtsprechung die Möglichkeit geben, in der konkreten Situation eine am Gesetzeszweck orientierte Einzelfallgerechtigkeit zu erzielen. Es ist allerdings erforderlich, dass der im Gesetz gewählte (zunächst) „unbestimmte Rechtbegriff“ überhaupt objektiv bestimmbar ist. Er muss einer hinreichenden Präzisierung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß aufgrund der juristischen Auslegungsmethoden objektiv zugänglich sein. Diese Orientierung an den allgemeinen Erkenntnismöglichkeiten der Rechtswissenschaft entspricht zwar nicht immer der Sichtweise der Durchschnittsbürger, ist aber nicht vermeidbar, da die sprachliche Ausformulierung abstrakt genereller Regelung nicht mit naturwissenschaftlichen Klarheit aufzulösen ist. Immerhin wird durch die Anwendung der anerkannten juristischen Auslegungswerkzeuge aber eine Klärung und Nachvollziehbarkeit nach objektiven wissenschaftlichen Methoden ermöglicht. Die Bestimmtheit einer Norm kann sich deshalb gegebenenfalls erst nach Anwendung der juristischen Auslegungsmethoden und Zuhilfenahme von Rechtsprechung und Literatur ergeben.
Beispiel
Die gefahrenabwehrrechtliche Generalklausel in den landesrechtlichen Ordnungs- und Polizeigesetzen enthält eine hoheitliche Handlungsbefugnis zur Abwehr von Gefahren für die „öffentliche Sicherheit“. Dieser Begriff ist nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt. Hierunter ist die Gesamtheit aller geschriebenen Rechtssätze zu verstehen, die den Staat und seine Einrichtungen, wichtige Gemeinschaftsgüter und wichtige Einzelrechtsgüter schützen.BVerfGE 54, 143, 144.
Nur in ganz wenigen Fällen hat das BVerfG Gesetze oder die richterliche Auslegung und Anwendung von Gesetzen für zu unbestimmt und deshalb verfassungswidrig erklärt. Denn nach dem BVerfG führt das Bestimmtheitsgebot nur in „extremen Fällen“ von Unvollkommenheit und Missverständlichkeit zur Nichtigkeit eines Gesetzes.
Beispiel
In der Nötigungs-Entscheidung des BVerfGBVerfGE 92, 1. ging es um die Frage, was unter „Gewalt“ i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB zu verstehen ist: „Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit . . . bestraft.“
Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde: Im Rahmen der Proteste gegen die sog. NATO-Nachrüstung kam es zu der Blockade einer Bundeswehrkaserne. Der Angeklagte versperrte zusammen mit anderen die Zufahrt, indem er sich auf die Fahrbahn setzte. Er wurde wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt. Die Strafgerichte argumentierten, dass Sitzblockaden eine psychisch vermittelte Zwangswirkung entfalten, weil sie in dem Blockierten eine Wegfahr- und Tötungshemmung auslösen, und somit als Gewalt anzusehen seien. Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Angeklagte, es widerspreche dem Bestimmtheitsgebot, den Begriff „Gewalt“ so auszulegen, dass er Sitzblockaden umfasse. Der Begriff „Gewalt“ sei ohnehin schon unbestimmt. Diese Unbestimmtheit werde in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise gesteigert, wenn der Gewaltbegriff von dem Kriterium des Einsatzes körperlicher Kraft gelöst werde.
Während das BVerfG den Gewaltbegriff in § 240 StGB für mit dem Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) vereinbar hält, wertet es die Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Strafgerichte als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluss beruhen, könnten zwar unter Umständen eine Drohung sein, nicht aber Gewalt. Eine dahingehende Auslegung des Gewaltbegriffs sei mit dem Bestimmtheitsgebot unvereinbar.
2. Vertrauensschutz
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Neben dem Bestimmtheitsgrundsatz gehört der Vertrauensschutz zu den rechtsstaatlichen Anforderungen der Rechtssicherheit. Danach sollen Personen (Bürger und Unternehmen) darauf vertrauen dürfen, dass auf Grund einer bestimmten Rechtslage einmal getroffene Dispositionen grundsätzlich nicht durch nachträgliche Rechtsänderung entwertet werden. Probleme können hierbei eintreten, wenn der Gesetzgeber mit Regelungen auf den in der Vergangenheit begonnenen Lebenssachverhalt einwirkt. Dies ist unbedenklich, wenn dadurch für den Einzelnen Vorteile eintreten.
Rechtsstaatlich bedenklich können allerdings Regelungen werden, die an ein Verhalten des Einzelnen nachträglich ungünstige Rechtsfolgen knüpfen. Hierbei ist zwischen der regelmäßig unzulässigen echten Rückwirkung und der grundsätzlich zulässigen unechten Rückwirkung zu differenzieren.
a) Echte Rückwirkung
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Definition
Definition: echten Rückwirkung
Bei der echten Rückwirkung wird ein bereits abgeschlossener Lebenssachverhalt einer neuen, ungünstigeren Rechtslage unterworfen. Das Änderungsgesetz tritt typischerweise mit Wirkung für die Vergangenheit, also vor dem Tag der Verkündung im Gesetzesblatt, in Kraft.BVerfGE 95, 64, 86 f.; Gröpl Staatsrecht I Rn. 516.
Beispiel
Schüler S hat nach seiner mündlichen Prüfung am 4. Mai sein Abitur bestanden und hält stolz das „Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife“ in Händen. Durch Änderung der „Rechtsverordnung über die Abiturprüfung“, welche am 1. Juli beschlossen und am 14. Juli verkündet worden ist, wird rückwirkend zum 1. Mai die Ausgestaltung der mündlichen Abiturprüfung neu geregelt. S wird daher nach Rücknahme der „Zuerkennung der allgemeinen Hochschulreife“ am 1. August (erneut) zur mündlichen Abiturprüfung geladen. Im Beispielsfall liegt eine rechtsstaatswidrige echte Rückwirkung vor, die zur Nichtigkeit der Änderungsverordnung führt.
Eine echte Rückwirkung von belastenden Gesetzen ist in aller Regel unzulässig. Sie kann nur in seltenen Ausnahmefällen zulässig sein, wenn zwingende Gründe des gemeinen Wohls vorliegen oder das Vertrauen des Einzelnen nicht schutzbedürftig ist. Letzteres kann der Fall sein, wenn mit der getroffenen Regelung zu rechnen war; also z.B. eine vorläufige durch eine gleichlautende, endgültige Regelung ersetzt wurde.
b) Unechte Rückwirkung
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Definition
Definition: unechten Rückwirkung
Bei der unechten Rückwirkung wird ein in der Vergangenheit begonnener, aber nicht abgeschlossener Lebenssachverhalt zum Nachteil des Betroffenen neu geregelt. Die Gesetzesänderung tritt nicht vor ihrer Verkündung in Kraft, sondern mit Wirkung für die Zukunft.
Beispiel
Nach dem so glimpflich überstandenen Schock hinsichtlich der drohenden Wiederholung der mündlichen Abiturprüfung ist aus dem Schüler S des vorangegangenen Beispiels mittlerweile der Student S geworden. Auch im Studium kommt er mit der Rückwirkungsproblematik in Berührung: Im Anfangssemester genießt er die Vorzüge seines bislang gebührenfreien Studiums. Im Folgejahr wird nunmehr durch den Gesetzgeber am 10. Mai ein „Gesetz zur Einführung von Studiengebühren“ erlassen, welches am 20. Mai verkündet wird und ab dem 1. Oktober des Jahres in Kraft treten soll. In diesem Fall liegt eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung vor. Der Vertrauensschutz des Einzelnen geht nicht so weit, dass er vor allen künftigen Gesetzesänderungen geschützt wird, die seine individuelle Planung beeinträchtigen. Sofern kein in der Vergangenheit abgeschlossener, sondern ein laufender und damit auch in die Zukunft gerichteter Sachverhalt betroffen ist, muss der Einzelne mit gesetzlichen Änderungen grundsätzlich rechnen.
Gesetze mit unechter belastender Rückwirkung können sich ausnahmsweise als nicht mehr verhältnismäßig darstellen, wenn im Rahmen der Angemessenheitsprüfung das Interesse der betroffenen Normadressaten dasjenige des Staates überwiegt. In solchen Fällen kann der Gesetzgeber aber einem berechtigten Vertrauensschutz durch Übergangsvorschriften Rechnung tragen.
Beispiel
Bei der gesetzlichen Einführung künftiger Altersgrenzen für bestimmte Berufsgruppen handelt es sich um einen grundsätzlich zulässigen Fall der unechten Rückwirkung, da diese erst für die Zukunft gelten sollen. Ältere Berufsangehörige werden dadurch aber besonders hart betroffen, da sie ihre individuelle Vorsorgeplanung so kurzfristig in der Regel nicht zumutbar anpassen können. Die Verhältnismäßigkeit kann in solchen Fällen durch Übergangsregelungen hergestellt werden, z.B. dergestalt, dass jeder derzeitige Berufsinhaber ab einem gewissen Alter seinen Beruf trotz Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze jedenfalls mindestens für eine bestimmte Anzahl von Jahren ausüben darf.
c) Besonderheiten bei rückwirkenden Strafgesetzen
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Nach Art. 103 Abs. 2 GG darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war.
Hinweis
Aus „nulla poena sine lege“ (keine Strafe ohne Gesetz) folgt, dass rückwirkende Strafgesetze schlechthin unzulässig sind.
Expertentipp
Sie dürfen bei Strafgesetzen also keine Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot wegen überwiegender Interessen der Allgemeinheit prüfen.
d) Besonderheiten für Entscheidungen der Gerichte
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Rückwirkende Änderungen der Rechtsprechung sind generell zulässig. In diesen Fällen ändert sich an der Grundlage dieser Rechtsprechung nichts; die Grundlage wird nur anders interpretiert.
Beispiel
So durfte der BGH in seiner Rechtsprechung die Promillegrenze im Straßenverkehr rückwirkend von 1,3 auf 1,1 herabsetzen.BVerfG NJW 1990, 3140.
VI. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert von staatlichen Maßnahmen gegenüber dem Bürger, dass sie zur Erreichung des mit ihnen verfolgten legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind. Er bringt zum Ausdruck, dass der Staat die Freiheit des Einzelnen nur insoweit einschränken kann, als es im Interesse des Gemeinwohls unbedingt erforderlich ist.
Hinweis
Beachten Sie für die Fallbearbeitung, dass sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt. Er hat daher obersten Verfassungsrang und ist nicht nur von der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt, sondern auch vom Gesetzgeber selbst zu beachten.
Die Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt in vier Schritten:
Prüfungsschema
Wie prüft man: Eingriffe in die (Grund-)Rechte der Bürger sind nur verfassungskonform, wenn sie
I. | einem legitimen (gemeinwohlorientierten) Zweck dienen (Ziellegitimität), |
II. | zur Erreichung dieses Zwecks geeignet (d.h. zumindest zweckförderlich) sind, |
III. | erforderlich sind, d.h. es darf kein milderes Mittel ersichtlich sein, das den Zweck ebenso gut fördern könnte, also wirkungsgleich wäre, |
IV. | verhältnismäßig i.e.S. (proportional, angemessen) sind, d.h. bei der Abwägung darf die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehen. |
Hinweis
Die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nicht auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürger beschränkt. Im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung erklärt das BVerfG im Verhältnis zwischen Staat und Kommunen diesen Grundsatz ebenfalls für anwendbar.BVerfG NVwZ 2015, 728, 730; vgl. hierzu im Einzelnen Bätge Kommunalrecht NRW, Rn. 47 ff. Auch im Verhältnis zwischen Bund und Ländern kann sich aus dem Prinzip der Bundestreue das Erfordernis eines verhältnismäßigen Vorgehens ergeben.Vgl. zur Bundestreue BVerfGE 81, 310, 337 f.