Aufgrund der Corona-Pandemie haben wir alle mit erheblichen Einschränkungen zu leben. Dies betrifft auch grundrechtsrelevante Bereiche, etwa wenn Reisebeschränkungen gelten, Versammlungsverbote erlassen oder Gotteshäuser geschlossen werden. Das BVerfG hatte in den letzten Wochen den Beschränkungen Grenzen auferlegt und erneut Grundrechte gestärkt. Nun aber lehnten die Karlsruher Richter*innen drei Eilanträge gegen Versammlungsverbote ab (Beschlüsse der 1. Kammer des 1. Senats, - 1 BvR 1003/20 -; - 1 BvR 1004/20 - und - 1 BvR 1005/20 -). In Braunschweig, Bremen und Hamburg waren Versammlungen zum 1. Mai unter Berufung auf Corona-Schutzbestimmungen verboten worden. Die Antragssteller wandten sich gegen Beschlüsse des OVG Bremen bzw. Hamburg, die Entscheidungen der VGe bestätigten. Der dritte Antragssteller wandte sich direkt gegen das Verbot der Stadt Braunschweig, ohne vorher das zstdg. VG anzurufen.
Das BVerfG kann in Streitfällen nach § 32 Abs.1 BVerfGG auch vorläufige Regelungen treffen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Diese Regelung ist insoweit mit § 47 Abs. 6 VwGO identisch. Zunächst ist darauf abzustellen, wie die Erfolgsaussichten der Hauptsache (in diesem Falle: der Verfassungsbeschwerde) sich nach summarischer Prüfung darstellen. Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereiteln würde. Ist hier keine klare Tendenz erkennbar ist eine Folgenabwägung zu treffen: Die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, sind gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch in der Hauptsache der Erfolg versagt bliebe.
In den beiden in der Sache entschiedenen konkreten Fällen (1003 und 1004) führte die Kammer weiter aus: Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass das Verbot der geplanten Versammlung verfassungswidrig ist, wäre die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Sodann betonten sie die Wichtigkeit der Versammlungsfreiheit: Diese Grundrechtsverletzung wäre von erheblichem Gewicht nicht nur im Hinblick auf die Beschwerdeführerin, der die Ausübung ihrer grundrechtlichen Freiheit in Bezug auf diese Versammlung verunmöglicht worden wäre, sondern angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das demokratische Gemeinwesen insgesamt.
Jedoch unterlagen die Antragsteller hier dennoch: Erginge nämlich die einstweilige Anordnung, die Versammlung würde abgehalten und im Nachhinein stellte sich heraus, dass das von der jeweiligen Antragsgegnerin erlassene Versammlungsverbot rechtmäßig war, wären grundrechtlich geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen. Das Verbot bezwecke mit Blick auf die aktuelle Coronavirus-Pandemie die Verhinderung von Infektionsrisiken, die nach der insoweit im verfassungsgerichtlichen Eilverfahren nicht zu beanstandenden Einschätzung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens drohten, wenn die Versammlung wie ursprünglich geplant als Aufzug stattfände. Wegen der mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden großen Zahl an Demonstranten sei mit massiven Gegendemonstrationen zu der Versammlung der Beschwerdeführerin und teils auch gewalttätig verlaufenden Auseinandersetzungen mit einer unkontrollierbaren Weiterübertragung des Virus zu rechnen. Eine Nachverfolgung von Infektionsketten sei in dieser Situation praktisch ausgeschlossen. Die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit seien zwar schwerwiegend, zumal die angeführten gesundheitlichen Risiken wesentlich auch – aber nicht ausschließlich – auf dem Verhalten Dritter beruhten, vor deren Störungen der Staat eine Versammlung grundsätzlich zu schützen habe. Gleichwohl überwiege in den vorliegenden Fällen das Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen, weil unter den hier gegebenen Umständen voraussichtlich eine enge räumliche Nähe bis hin zu unmittelbaren Körperkontakten unvermeidlich wäre. Bei Gegenüberstellung der somit jeweils zu erwartenden Folgen müsse somit das Interesse der Beschwerdeführer an der Durchführung der geplanten Versammlung gegenüber dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat auch kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich verpflichtet ist, zurücktreten.
Im dritten Fall (- 1 BvR 1005/20 -) rügte die Kammer bereits, der Beschwerdeführer und Antragsteller habe nicht ausreichend dargelegt bestehende Möglichkeiten, fachgerichtlichen Eilrechtsschutz zu erlangen, ausgeschöpft zu haben. Eine einstweilige Anordnung dürfe nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings dann nicht ergehen, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder unbegründet wäre. Dabei gelte auch in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgelagerten verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren der Grundsatz der Subsidiarität (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG). Der Rechtsweg muss also grundsätzlich erschöpft sein.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung komme daher nur in Betracht, wenn der Antragsteller bestehende Möglichkeiten, fachgerichtlichen Eilrechtsschutz zu erlangen, ausgeschöpft habe, ein Antrag nach § 32 Abs. 1 BVerfGG sei zudem nur zulässig, wenn das Vorliegen der sich hieraus ergebenden Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung substantiiert dargelegt sei. Daran mangele es hier. Maßgebend für die Beurteilung sei dabei der Verfahrensstand zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung. Aufgrund der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöse, sei bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG nach stdg. Rspr. ein strenger Maßstab anzulegen.