Gem. § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, es sei denn, das Gesetz stellt fahrlässiges Handeln ausdrücklich unter Strafe, wie z.B. in §§ 222, 229, 306d StGB. Was das Gesetz hingegen unter „Vorsatz“ versteht, lässt es in § 15 ebenso offen wie in § 16, wo es sich mit den Vorsatz ausschließenden Irrtümern befasst.
In einem StGB-Regierungsentwurf von 1962 („BT-Drs. IV/650, 14 ), der allerdings nicht zu einer Neufassung des § 16 StGB geführt hat, heißt es dazu wie folgt:
„Vorsätzlich handelt, wem es darauf ankommt, den gesetzlichen Tatbestand zu verwirklichen, wer weiß oder als sicher voraussieht, daß er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht oder wer die Verwirklichung für möglich hält und sich mit ihr abfindet.“
Sie können daraus erkennen, dass der Gesetzgeber die Ihnen bereits bekannten 3 Vorsatzformen im StGB verankern wollte, nämlich dolus directus 1. Grades (=Absicht), dolus directus 2. Grades (=direkter Vorsatz) und dolus eventualis.
In der Regel reicht für die vorsätzliche Verwirklichung eines Tatbestandes dolus eventualis aus. Dieser Vorsatz muss aber von der bewussten Fahrlässigkeit abgegrenzt werden. Wie diese Abgrenzung zu erfolgen hat ist streitig.
Nach h.M. liegt dolus eventualis vor, wenn der Täter ernsthaft mit der Möglichkeit des Erfolgseintritts rechnet (kognitives Element) und sich innerlich mit ihr abfindet (voluntatives Element). Bewusste Fahrlässigkeit hingegen liegt vor, wenn der Täter ernsthaft mit der Möglichkeit des Erfolgseintritts rechnet, nun aber pflichtwidrig auf das Ausbleiben des Erfolg vertraut (BVerfG Beschluss v. 07.12.2022 – 2 BvR 1404/20).
In beiden Fällen rechnet der Täter also ernsthaft mit der Möglichkeit eines Erfolgseintritts, beim Vorsatz denkt er sich aber „na wenn schon“ und bei der Fahrlässigkeit „wird schon gut gehen“.
Wie Sie sich vorstellen können und vielleicht bereits auch schon wissen ist diese Abgrenzung in der Praxis schwierig, zumal die Täter häufig von ihrem Recht zu schweigen Gebrauch machen oder aber Schutzbehauptungen aufstellen.
Grundsätzlich werden objektive Umstände zur Begründung herangezogen wobei als „Faustregel“ gilt: je gefährlicher die Handlung und je wahrscheinlicher der Erfolgseintritt, desto eher wird dolus eventualis bejaht werden können. Handelt es sich um ein Tötungsdelikt müssen zudem alle vorsatzkritischen Aspekte ausführlich berücksichtigt werden, um der psychologischen Hemmschwelle angemessen Rechnung zu tragen. Wie das gehen kann, haben wir bei folgender Entscheidungsbesprechung dargestellt: https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/schwierige-abgrenzung-dolus-eventualis-bewussten-fahrlaessigkeit
Welche Konsequenzen diese schwierige Abgrenzung haben kann, macht der „Berliner Raser Fall“ deutlich, den wir ausführlich im JURACADEMY Club besprochen haben: https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/bgh-moerderischen-raser
Nunmehr musste sich auch noch das BVerfG abschließend mit diesem Fall befassen.
A. Zur Verfassungskonformität des dolus eventualis
Die vom Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BGH vom 18. Juni 2020 wurde vom Verfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG Beschluss v. 07.12.2022 – 2 BvR 1404/20). Das BVerfG konnte in der Auslegung des Vorsatzbegriffes keine Verletzung des sich aus Art. 103 II GG ergebenden Bestimmtheitsgebots erkennen. Das BVerfG führt dazu folgendes aus:
„Die Rüge, die Fachgerichte hätten eine dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG widersprechende Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit vorgenommen, dringt nicht durch. Unschädlich ist, dass das Strafgesetzbuch die Begriffe des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit zwar verwendet, aber keine die Rechtsanwendung anleitenden Definitionen für diese beiden Begriffe enthält. Auch vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, im Gesetz Definitionen für diese beiden Begriffe, insbesondere für die Rechtsfiguren des bedingten Vorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit, vorzusehen …. Art. 103 Abs. 2 GG schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Strafrecht nicht von vornherein …. Gegen ihre Verwendung bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt …
Jedenfalls bei Tötungsdelikten besteht für die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit eine solche gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung. …
Bei der Annahme bedingten Vorsatzes müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissenselement als auch das Willenselement, in jedem Einzelfall anhand einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden … Die objektive Gefährlichkeit einer Handlung ist dabei wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch das Willenselement des bedingten Vorsatzes …. Sie und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind nach ständiger Rechtsprechung jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen sind alle Umstände des Einzelfalls zu bedenken …
Es ist weder dargetan noch aus sich heraus ersichtlich, dass diese den Vorsatzbegriff konkretisierende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist… Zwar ist diese gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung Kritik unterworfen, was sich darin zeigt, dass die Strafrechtswissenschaft vieldiskutierte Theorien zur Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bildet… Im Ergebnis zeigt die Diskussion jedoch nur auf, dass – auch vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots zulässige – Randunschärfen bei der Abgrenzung bestehen…. Damit umzugehen, obliegt der fachgerichtlichen Rechtsprechung und der Strafrechtswissenschaft und berührt die Gewährleistungen des Bestimmtheitsgebots nicht. Es ist auch mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, seine Auffassung von der zutreffenden oder überzeugenderen Auslegung des einfachen Rechts an die Stelle derjenigen der Fachgerichte zu setzen … Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und insbesondere des Bundesgerichtshofs fügen sich in diese – dem aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteten Präzisierungsgebot entsprechende – ständige Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ein und lassen damit den behaupteten Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot nicht erkennen. Ausdrücklich nehmen beide Entscheidungen diese ständige Rechtsprechung zum Ausgangspunkt ihrer weiteren Prüfung … Dementsprechend haben sowohl Landgericht als auch Bundesgerichtshof – anders als der Beschwerdeführer meint – nicht nur auf die objektive Gefährlichkeit der Handlung abgestellt, sondern auf die wesentlichen in der Beweisaufnahme – nach Auffassung des Bundesgerichtshofs revisionsrechtlich rechtsfehlerfrei … festgestellten Umstände des Einzelfalls, die Rückschlüsse auf das Wissens- und das Willenselement der inneren Tatseite zulassen.“
Hinweis
Mit der Entscheidung des BVerfG dürfte in dieser Angelegenheit nun Ruhe einkehren. Bedenken Sie, dass es zum Zeitpunkt der Verurteilung § 315d StGB noch nicht gab. Seit Inkrafttreten dieser Norm können Raser, die den Tod eines anderen verursacht haben, nun wegen Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge gem. § 315d V StGB zu einer Freiheitsstrafe von max. 10 Jahren verurteilt werden. Es handelt sich um eine Erfolgsqualifikation, so dass der Täter gem. § 18 nur fahrlässig handeln muss.
I. Dolus eventualis bei einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung
Entsprechend der bisherigen und in ihren Grundzügen vom BVerfG bestätigten Rechtsprechung hat der BGH (NStZ 2023, 160) in einem Fall, in welchem der unter dem Einfluss von Drogen stehende Täter nachts aus 5 Metern Entfernung auf das auf ihn zukommende Opfer einen Schuss Richtung Oberschenkel abgab, der das Opfer aber im Bauch traf, die landgerichtliche Entscheidung aufgehoben und zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Das LG hatte den Tötungsvorsatz verneint, der BGH bemängelte jedoch die widersprüchliche Argumentation und führte u.a. aus:
„Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen. Die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist dabei ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes. Bei einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung, die insbesondere anzunehmen ist, wenn – wie hier – der Täter aus kurzer Distanz auf das Tatopfer mit einer scharfen Waffe schießt, liegt es wegen der besonders gesteigerten Lebensgefährlichkeit solchen Tuns regelmäßig nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, und er einen solchen Erfolg auch billigend in Kauf nimmt.“
II. Dolus eventualis und die „Quasi-Kausalität“ beim unechten Unterlassungsdelikt
Beim unechten Unterlassungsdelikt wird die Kausalität des Unterlassens für den Eintritt des Erfolgs naturgemäß anders bestimmt als beim Begehungsdelikt. Es kann nichts „hinweggedacht“ werden, vielmehr muss etwas „hinzugedacht“ werden und zwar die erforderliche und zumutbare Handlung, die der Täter unterlassen hat. Demgemäß lautet die Definition der Quasi-Kausalität wie folgt: ein Unterlassen ist kausal, wenn die erforderliche Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Aus § 261 StPO und dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ergibt sich dann für die Beweisbarkeit, dass der Erfolg „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ hätte entfallen müssen. Es handelt sich bei der Bestimmung der Kausalität um eine prognostische, hypothetische Überlegung.
Kann also vor Gericht nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass der Erfolg entfallen wäre, dann muss Vollendung „in dubio pro reo“ verneint werden und es bleibt nur die Prüfung des Versuchs.
Hier stellt sich nun die Frage, worauf sich der Tatentschluss des Täters (= Vorsatz) richten muss. In der Vergangenheit wurde vom 5. Senat des BGH (NJW 2017, 3249) entschieden, dass der Täter ebenfalls davon ausgehen müsse, der Erfolg werde durch i.d.R. notärztliche Versorgung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausbleiben. Das würde aber bedeuten, dass dolus eventualis, bei welchem der Täter dies nur als möglich erachtet, als Vorsatzform ausscheidet.
Dagegen hatte sich der 4. Senat mit einem Anfragebeschluss an den 5. Senat gewendet, der sich mit Datum vom 07.09.2022 (5 ARs 34/22) der Rechtsauffassung des 4. Senats angeschlossen hat, so dass der 4. Senat entscheiden konnte (NStZ 2023, 153).
Hinweis
Gem. § 132 III GVG ist ein solcher Beschluss erforderlich, wenn ein Senat von der Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen möchte. Schließt sich der angefragte Senat der Rechtsauffassung des anfragenden Senats an, dann kann dieser wie gewünscht entscheiden. Bleibt er hingegen bei seiner bisherigen Auffassung, dann muss gem. § 132 II GVG der große Senat entscheiden.
Es reicht damit also aus, wenn es der unterlassende Täter nur für möglich hält, dass der Erfolg durch sofortige Rettungsmaßnahmen ausbleibt. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Täter mehrere Fußgänger aus Unachtsamkeit angefahren und dann seine Fahrt fortgesetzt. Ein Fußgänger wurde dadurch so schwer verletzt, dass es an der Unfallstelle verstarb. Selbst bei Einleiten sofortige Rettungsmaßnahmen hätte nur eine geringe Überlebenschance bestanden. Der Täter hielt es dabei nur für möglich, dass eine Rettung hätte erfolgreich sein können.