Der Entscheidung (BGH Urteil v. 23.03.2022 - 6 StR 343/21) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Am Tattag stritten A und E, seine Ehefrau und Mutter des gemeinsamen Sohnes im Auto lautstark über familiäre Angelegenheiten. Mit den Worten: „Jetzt reicht‘s!“ griff A die E an. Es entstand ein Handgemenge, in dessen Verlauf er ihr mindestens einmal mit der Faust ins Gesicht schlug und sie würgte. Es gelang ihr zwar einige Male, sich kurzzeitig dem Zugriff zu entziehen; A setzte jedoch jedes Mal wieder neu an. Dabei hielt er – im Bewusstsein der potenziellen Lebensgefährlichkeit - den Hals E etwa zwei Minuten durchgehend so fest umklammert, dass es den inzwischen durch die Hilferufe der E auf das Geschehen aufmerksam gewordenen Zeugen anfangs nicht gelang, den Griff zu lösen. Erst nach tätlicher Einwirkung auf A ließ er von E ab. E erlitt unter anderem Hautrötungen mit oberflächlichen Defekten am Hals und während des Würgens zeitweise Atemnot.
Indem A die E schlug und etwa 2 Minuten lang würgte, könnte er sich zunächst wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr. 5 StGB strafbar gemacht haben.
Der Schlag sowie das Würgen stellen eine üble und unangemessene Behandlung dar, die das körperliche Wohlempfinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigen und sind somit eine körperliche Misshandlung. Die Hautrötungen und Defekte am Hals sowie die Atemnot sind zudem auch ein pathologischer Zustand und damit eine Gesundheitsschädigung.
Nach Auffassung der Rechtsprechung reicht es für § 224 I Nr. 5 StGB aus, dass die Behandlung potenziell lebensbedrohend ist. Eine teilweise in der Literatur verlangte, konkrete Lebensgefahr wird unter Hinweis auf den Wortlaut und die Systematik der Norm abgelehnt. (siehe dazu Tofahrn, JURACADEMY, Strafrecht BT I, Rn. 206 ff) Ein 2-minütiges Würgen beinhaltet die Gefahr einer Kehlkopfkompression, die zu einer Unterbrechung der Luftzufuhr führen kann, was wiederum den Tod zur Folge haben kann. Das Würgen ist damit potenziell lebensbedrohend, so dass die Voraussetzungen des § 224 I Nr. 5 gegeben sind.
Der Täter handelte diesbezüglich auch unproblematisch vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft.
Das Landgericht Bamberg A jedoch nicht wegen eines versuchten Tötungsdelikts verurteilt, weil es den Tötungsvorsatz nicht als erwiesen ansah. Mit der Begründung des Landgerichts musste sich nun der BGH aufgrund einer von der StA eingelegten Revision auseinandersetzen.
Hinweis
Bedenken Sie, dass der BGH keine eigene Beweiswürdigung vornehmen darf. Er darf die freie Beweiswürdigung der Landgereichte nur auf Fehler überprüfen. Solche Fehler liegen vor, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder aber an die Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt wurden (Anm. Stam zu BGH NStZ 2021, 540ff)
Das Landgericht musste sich damit befassen, ob es ausreichende Anhaltspunkte dafür gab, A zu unterstellen, er habe den Eintritt des Todes für möglich gehalten (kognitives Element) und diesen billigend in Kauf genommen, sich also gleichgültig damit abgefunden (voluntatives Element).
In Abgrenzung dazu läge bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter den Eintritt des Todes zwar für möglich gehalten aber zugleich pflichtwidrig darauf vertraut hätte, er werde nicht eintreten.
Bewusste Fahrlässigkeit und bedingter Vorsatz werden also über das voluntative Element voneinander abgegrenzt. Beim Vorsatz denkt sich der Täter „na wenn schon“, bei der Fahrlässigkeit „wird schon gut gehen“.
Expertentipp
In einer Klausur wird es in der Regel nicht darum gehen, alle Theorien zur Abgrenzung des dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit darzustellen. Beginnen Sie mit der herrschenden Meinung, die auch beim dolus eventualis ein kognitives und ein voluntatives Element („Wissen und Wollen“) verlangt und begründen Sie dann anhand des Sacherhalts unter Auswertung aller relevanten Aspekte Ihr Ergebnis. Es wird vor allem auf eine lebensnahe und überzeugende Argumentation ankommen. Nur wenn die anderen Theorien wirklich zu einem anderen Ergebnis gelangen würden, was ausgesprochen selten der Fall ist, sollten Sie diese Theorien darstellen.
Unter Berücksichtigung des § 261 StPO („Überzeugung des Gerichts“) sind an die Beweiswürdigung und die Begründung bei Tötungsdelikten hohe Anforderungen zu stellen, da in der Regel ein Täter eine psychologische Hemmschwelle bei der Tötung eines Menschen überwinden muss. Das führt dazu, dass neben der Gefährlichkeit der Handlung und der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts auch vorsatzkritische Aspekte zu berücksichtigen sind. Wie das geht, machen Landgericht und BGH anschaulich vor:
„Die beweiswürdigenden Erwägungen des Landgerichts halten auch eingedenk des insoweit eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs … rechtlicher Überprüfung stand.
Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an … Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände vorgenommen … und dabei insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Verletzungshandlungen (zweiminütiges durchgehendes, potenziell lebensgefährliches Würgen; andererseits keine konkrete Lebensgefahr), den Tathergang (spontane, unüberlegte Tat) und die psychische Verfassung des Angeklagten (wiederholter Streit und aufgeheizte Stimmung) bedacht. Bei seiner Bewertung der Beweistatsachen hat es sich nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt; vielmehr hat es seine Überzeugung, der Vorsatz des Angeklagten habe sich jeweils nur auf eine Körperverletzung bezogen, mit auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet. Den Aspekt einer gegenüber Tötungen bestehenden höheren „Hemmschwelle“ … hat es in Beziehung zu der vom Angeklagten erkannten generellen Gefährlichkeit der Tathandlung einerseits und seiner Bindung zur Geschädigten andererseits erörtert.
Zur Verneinung des voluntativen Elements des Vorsatzes durfte die Schwurgerichtskammer die affektive Erregung vorsatzkritisch heranziehen. Denn bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das voluntative Vorsatzelement gegeben ist … Dementsprechend hat das Landgericht gewichtet, dass sich der Angeklagte – trotz der angespannten Beziehung zu seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau und seiner passiv-aggressiven Persönlichkeitsstruktur in dieser sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Auseinandersetzung – erstmals zu Gewalttätigkeiten hinreißen ließ.
Indem das Landgericht ferner eingestellt hat, dass die Geschädigte „Bindeglied“ zwischen dem Angeklagten und dem gemeinsamen Sohn war und der Angeklagte daher dem Tod der Geschädigten nicht wenigstens gleichgültig gegenüberstand …, hat es nicht zugunsten des Angeklagten eine Konstellation unterstellt, für die es keinen Anknüpfungspunkt gab…. Da der Angeklagte in der konkreten Tatsituation die verbale Auseinandersetzung kontrollieren wollte, konnte das Landgericht unter Hinweis auf die Beziehung zur Geschädigten, die ihn trotz der Trennung im Alltag stets unterstützt und den Kontakt mit dem Sohn vermittelt hatte, dahin werten, dass ein einsichtiger Grund für ihre Tötung fehlte.“