Die Regierungen in Budapest und Warschau lehnen den neuen Rechtsstaatsmechanismus im mehrjährigen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 ab, denn sie befürchten, ihnen könnten wegen umstrittener politischer Projekte EU-Mittel gekürzt werden. Beide Länder erhalten hohe Milliardenbeträge aus dem EU-Haushalt. Gegen beide läuft derzeit ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 des EUV wegen mutmaßlicher Missachtung von EU-Grundwerten.
Nach einem Veto von Ungarn und Polen gegen den langjährigen EU-Haushalt gelang Ende 2020 in letzter Minute ein Kompromiss (siehe hierzu auch den Beitrag bei uns). Diesen handelte Deutschland - damals Ratsvorsitz – aus: eine Zusatzerklärung zum Rechtsstaatsmechanismus im 1,8 Billionen Euro-Paket, der letztlich von alle EU-Staaten (auch Polen und Ungarn) akzeptiert wurde. Diese sieht vor, dass die Feststellung eines Rechtsstaatsverstoßes allein nicht ausreicht, um EU-Finanzhilfen zu kürzen. Vielmehr muss nachgewiesen sein, dass der Verstoß negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Mitteln hat. In strittigen Fragen muss sich der Rat der Staats- und Regierungschefs mit dem Thema beschäftigen.
Zentraler Punkt war zudem die Klarstellung, den Mechanismus vom EuGH überprüfen zu lassen. Hiervon wurde nun Gebrauch gemacht. Man gehe davon aus, dass die Lösung keine rechtliche Grundlage in den EU-Verträgen habe, ließ der polnische Regierungssprecher Piotr Müller verlautbaren. Sie beeinträchtige die Kompetenzen der EU-Staaten und verstieße gegen EU-Recht. Die EU habe nicht das Recht, den Begriff „Rechtsstaat“ zu definieren. Die ungarische Justizministerin Judit Varga führte hierzu bei Facebook aus: „Wir können nicht zulassen, dass diese EU-Bestimmung, die schwerwiegend gegen EU-Recht verstößt, in Kraft bleibt“. Der EuGH bestätigte den Eingang der Klagen.
Die obersten EU-Richter müssen nun prüfen, ob der neue Mechanismus zur Kürzung von EU-Geldern bei bestimmten Rechtsstaatsverstößen zulässig ist. Ob diese Klagemöglichkeit die Rechtsstaatsklausel lediglich schwächt oder verzögert oder zunichtemacht, wurde nach dem Kompromiss Ende 2020 unterschiedlich bewertet. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte: „Es geht kein einziger Fall verloren. Wenn ein Bruch der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, dann wird dieser Fall aufgenommen.“ Sobald die EuGH-Entscheidung vorläge würden diese Fälle abgearbeitet. Die Kommission ist als „Hüterin der Verträge“ zusammen mit dem EuGH für die Einhaltung der Normen verantwortlich. Befürchtet wird jedoch, dass die Anwendung der Klausel zumindest um viele Monate hinausgezögert wird.