Um diese Fragen zu beantworten und um eine Hilfestellung bei der Klausurbearbeitung zu geben, werden beide Fälle einander gegenübergestellt. Für eine staatsorganisationsrechtliche Examensklausur würde es sich geradezu anbieten, die beiden Themenkomplexe miteinander zu verknüpfen.
FALL 1: Der Bundespräsident äußerte während des Bundestagswahlkampfs vor Berufsschülern Verständnis für Kritik an NPD-Aktivitäten gegen Asylbewerber und bezeichnete für diese Partei eintretende Menschen u.a. als „Spinner“. Dies äußerte er im Zusammenhang mit der Einschätzung, dass die Anhänger dieser Partei keine Lehren aus der NS-Zeit gezogen hätten. (vgl. BVerfG, Urteil vom 10.6.2014, 2 BvE 4/13, NVwZ 2014, 1156).
FALL 2: Im Rahmen des Projekts „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ bezeichnete die Bildungsministerin des Saarlandes „NPDler“ u.a. als „die Nazis von heute“ und mahnte dazu an „,dass wir in dieser Gesellschaft immer wieder „nein“ sagen, wenn dieser Mob wieder rauskriecht aus den Köpfen, wenn diese „braune Brut“ wieder nach oben kommt“. Die Äußerung geschah in unmittelbarer Nähe zur Europa- und Kommunalwahl. (Saarländischen Verfassungsgerichtshofs, Urteil vom 8.7.2014 – Lv 5/14, BeckRS 2014, 53505).
In beiden Fällen wandte sich die politische Partei NPD an das Verfassungsgericht. In Fall 2 war dies der Saarländische Verfassungsgerichtshof.
A. Zulässigkeit
Zu prüfen ist in beiden Fällen ein Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG). Für den FALL 2 wird im Weiteren von einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ausgegangen, man stelle sich einfach vor, es habe eine Bundesministerin gehandelt.
Die Beteiligtenfähigkeit liegt in beiden Fällen unproblematisch vor. Der Bundespräsident ist oberstes Bundesorgan und die Bildungsministerin Teil des obersten Bundesorgans Bundesregierung (vgl. § 63 BVerfGG). Die NPD ist „anderer Beteiligter“ gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, da in Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG mit eigenen Rechten ausgestattet.
Die Prüfungspunkte Streitgegenstand und Antragsbefugnis (§ 64 Abs. 1 BVerfGG) verschmelzen in diesen Fällen und sind kaum voneinander zu trennen. Sie können in einem Prüfungspunkt zusammengefasst werden. Die „Maßnahme“ ist jeweils die öffentliche Äußerung des Amtsträgers und die „Rechtserheblichkeit“ ergibt sich – wie auch die Antragsbefugnis – daraus, dass das Recht der Partei auf Chancengleichheit gem. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verletzt sein könnte. Dies ist nicht von vorneherein ausgeschlossen, da sich Bundespräsident bzw. Bildungsministerin in Wahlkampfnähe abwertend über die NPD geäußert haben.
B. Begründetheit
Betroffen ist in beiden Fällen das Recht der NPD auf Chancengleichheit gem. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG.
Der Saarländische Verfassungsgerichtshof definiert den Schutzbereich folgendermaßen:
„Das aus Art. 21 Abs.1 Satz 1 (...) folgende Recht einer politischen Partei auf Chancengleichheit verbürgt über den Grundsatz der formalen Gleichbehandlung vor und mit Bezug auf sowie bei Wahlen hinaus die grundsätzliche Neutralität des Staates und seiner Organe bei der politischen Willensbildung des Volkes.“
In Wahlkampfnähe muss deswegen ein strengerer Maßstab gelten, da staatliche Mittel der Exekutive nicht als Wahlkampfhilfe für die Regierungspartei missbraucht werden dürfen.
Wo liegen also angesichts der Neutralitätspflicht des Staates die Grenzen des Äußerungsrechts von Bundespräsident und Bildungsministerin über politische Parteien? Gelten in beiden Fällen etwa die gleichen Maßstäbe?
Nein! Denn ihre Stellung im Staatsgefüge ist unterschiedlich.
I. Bundespräsident (FALL 1)
In seiner Entscheidung vom 10.06.2014 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals über die Berechtigung des Bundespräsidenten, sich kritisch über einzelne politische Parteien zu äußern, entschieden.
Es leitet aus der Repräsentations- und Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten ab, dass der Amtsinhaber diese grundsätzlich selbst mit Leben zu füllen habe. Er könne den „mit dem Amt verbundenen Erwartungen nur gerecht werden, wenn er auf gesellschaftliche Entwicklungen und allgemeinpolitische Herausforderungen entsprechend seiner Einschätzung eingehen kann und dabei in der Wahl der Themen ebenso frei ist wie in der Entscheidung über die jeweils angemessene Kommunikationsform.“ Was in Lehrbüchern meist als „parteipolitische Neutralität“ des Bundespräsidenten diskutiert wurde, nennt das BVerfG hier „eine gewisse Distanz zu Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien.“
In Erfüllung seiner Repräsentations- und Integrationsaufgabe ist der Bundespräsident nicht daran gehindert, auf Missstände und Fehlentwicklungen hinzuweisen. „Gehen Risiken und Gefahren nach der Einschätzung des Bundespräsidenten aus, ist er nicht gehindert die von ihm erkannten Zusammenhänge zum Gegenstand seiner öffentlichen Äußerungen zu machen“. Das BVerfG zieht jedoch eine Grenze der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit: „Äußerungen des Bundespräsidenten sind dabei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, solange sie erkennbar einem Gemeinwohlziel verpflichtet und nicht auf die Ausgrenzung oder Begünstigung einer Partei um ihrer selbst willen angelegt sind.“
Der Bundespräsident kann auch „frei entscheiden, bei welcher Gelegenheit und in welcher Form er sich äußert und in welcher Weise er auf die jeweilige Kommunikationssituation eingeht. Er ist insbesondere nicht gehindert, sein Anliegen auch in zugespitzter Wortwahl vorzubringen.“
Die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts sei im Ergebnis auf die Frage beschränkt, ob der Bundespräsident „unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und
damit willkürlich Partei ergriffen hat“. Eine solche evidente Vernachlässigung sah das BverfG im konkreten Fall nicht als gegeben an.
Merken Sie sich folgende Maßstäbe für Äußerungen des Bundespräsidenten über politische Parteien:
a) Er darf nicht unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit willkürlich Partei ergreifen. Seine Integrationsfunktion ist in einer Klausur aus dem Zusammenhang des GG in eigenen Worten herzuleiten.
b) Seine Äußerungen müssen einem Gemeinwohlziel dienen und dürften nicht auf die Ausgrenzung oder Begünstigung einer Partei um ihrer selbst willen angelegt sein. Hierfür ist stets eine detaillierte Auseinandersetzung mit allen einzelnen Aussagen aus der Rede des Bundespräsidenten erforderlich. Pauschale Ausführungen zur Rede als solcher sind tunlichst zu vermeiden.
II. Bildungsministerin (FALL 2)
Die Anforderungen an Äußerungen eines Mitglieder der Bundes- oder Landesregierung sind strenger als die an den Bundespräsidenten. Ihnen kommt im Staatsgefüge insbesondere keine Repräsentations- und Integrationsaufgabe zu, die ihnen ermöglichen könnte, das Amt nach umfangreichem eigenem Ermessen mit Leben zu füllen.
1. Zu Äußerung über die Öffentlichkeitsarbeit der Bundes- bzw. Landesregierung in unmittelbarer Nähe zu Wahlen gibt es bereits eine differenzierte Rechtsprechung. Als Begründung für Einschränkungen der Äußerungsfreiheit dient vor allem die Möglichkeit, dass eine Regierung mit den ihr zur Verfügung stehenden finanziellen und organisatorischen Mitteln im Wahlkampf Partei zugunsten oder zulasten einer politischen Partei ergreifen und somit die Chancengleichheit bei der Wahl beeinträchtigen könnte.
Eine unzulässige Öffentlichkeitsarbeit könne – in den Worten des SaarlVerfGH – Wahlkampfnähe dadurch geschehen, „dass sich eine Regierung als von bestimmten Parteien getragen darstellt, dass sie für diese wirbt oder sich mit negativem Akzent oder herabsetzend über Oppositionsparteien oder deren Wahlbewerberinnen oder Wahlbewerber mit Blick auf bevorstehende Wahlen äußert. Der wahlbezogene parteiergreifende Charakter kann sich ferner daraus ergeben, dass eine Regierung ihre Absicht zum Ausdruck bringt, im Amt bleiben zu wollen“.
Im konkreten Fall erfolgten die Äußerungen der Bildungsministerin in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Kommunal- und Europawahlen. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Vielmehr müsste die Äußerung des Regierungsmitglieds auch „nach Form und Inhalt einen Bezug“ zu den Wahlen haben. Dies war im konkreten Fall nicht so, da es sich um einen Festakt zu einem langjährigen Schulprojekt gegen Rassismus handelte. Ein Bezug zur Wahl lag nicht vor, vielmehr ging es um eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung. Der Verfassungsgerichtshof setzt sich hierfür ausführlich mit den einschlägigen Sätzen der Rede auseinander.
Merken Sie sich diese Vorgehensweise bei der Überprüfung von Äußerungen der Regierung in Wahlkampfnähe:
1. Liegt überhaupt eine unmittelbare Nähe zu einer Wahl vor?
2. Haben die Äußerungen nach Form und Inhalt einen Bezug zur Wahl? Dies ist der Fall, wenn
a. Die Regierung sich als von bestimmten Parteien getragen darstellt
b. Sie für diese wirbt oder sich herabsetzend über Oppositionsparteien äußert
c. Oder wenn die Regierung die Absicht zum Ausdruck bringt, im Amt bleiben zu wollen
2. Jedoch könnte die Verwendung der Begriffe „Mob“, „braune Brut“ als negatives Werturteil in die Recht der NPD eingreifen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass „Mob“ und „braune Brut“ in der Rede nicht in direktem Zusammenhang mit der NPD gebraucht worden ist. Vielmehr „stehen [sie, Anm.d.Verf.] in einem allgemeinen Zusammenhang mit Menschen, die die Gesellschaft – als Mitglieder oder Anhänger der Antragsstellerin, als Kameradschaften und andere ‚Versprengte‘ – in Ausländer und Deutsche teilen...“. Ein Eingriff in die Chancengleichheit ist daher ausgeschlossen.
Anderes gilt für die Aussage, dass NPDler die „Nazis von heute“ seien. Die Äußerungen „enthalten folglich – mittelbar – auch Herabsetzungen der Antragsstellerin. Sie berühren damit ihr Recht auf Chancengleichheit als politische Partei, weil ihre Programmatik und ihre Anhängerschaft mit negativen Werturteilen bezeichnet werden und sie damit selbst diskreditiert werden kann.“
Diese Äußerung sei jedoch vom der Aufgabe der Bildungsministerin gedeckt, die Bildungsziele zu vertreten. Im Saarland findet sich diese in Art. 30 der Landesverfassung; darunter fällt eine Erziehung zu einer freiheitliche-demokratischen Gesinnung. Für einen Bundesminister wird man aus dem Ressortprinzip ableiten können, für welche Äußerungen er/sie im Einzelnen zuständig ist. Im Endeffekt ist hier stets eine überzeugende Argumentation entscheidend. Nach Auffassung des SaarlVerfGH waren die Äußerungen der Bildungsministerin auch nicht unverhältnismäßig.
„Zwar dürfen Haushaltsmittel und die informationelle Macht, über die eine Regierung verfügt, nicht dazu missbraucht werden, einer oder mehreren politischen Parteien Vorzugschancen anderen gegenüber zu verschaffen, oder nicht verbotene politische Parteien im politischen Wettbewerb willkürlich zu schädigen. Jedoch sind staatliche Organe nicht von Verfassungs wegen gezwungen, von ihnen nach ihrer plausiblen Einschätzung angenommene Gefahren für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder der Gesellschaft nur in wohl gesetzten, abgewogenen und emotional neutralisierten Worten, wie sie einem wissenschaftlichen Diskurs eigen sind, darzustellen und zu bewerten. (...) Jedoch gehört es zu der Aufgabe der Staatsleitung, auch durch die Regierung eines Bundeslandes, durch öffentliche Information vor Gefahren zu warnen, die Bewältigung von Konflikten zu erleichtern oder in Krisen Besorgnisse der Bürgerinnen und Bürger aufzunehmen und ihnen durch Aufklärung zur Seite zu stehen. (...) Befasst sich das Informationshandeln einer Regierung mit dem Gebaren einer politischen Partei, sind ihm zwar besondere Grenzen gesetzt, weil stets die Gefahr besteht, dass staatliche Organe ihre finanzielle, organisatorische oder informationelle Macht missbrauchen, ihnen widerstreitende Meinungen und oppositionelle Gruppierungen zu unterdrücken und ihre eigene Macht zu sichern. Der Staat und seine Organe sind aber nicht gehindert, sich mit Fragen des Auftretens und der weltanschaulichen Ausrichtung einer politischen Partei oder ihrer Anhänger überhaupt zu befassen. (...) Der Staat und seine Organe dürfen sich lediglich nicht verfälschend, diskriminierend oder diffamierend zu politischen Parteien äußern.“
Auch die drastische Formulierung der Ministerin ist zulässig: Die verbale Zuspitzung zielte auf die – nicht allein durch den Antragsgegner sondern in der gesellschaftlichen und politischen Debatte weit überwiegend geteilte - Diskreditierung von Forderungen, die als Bedrohung dieses verfassungsrechtlich legitimen Anliegens erscheinen können. Sie stellen folglich keine nur der politischen Partei geltende Schmähung sondern eine scharfe und einprägsame Stellungnahme zu einer Debatte dar, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Merken Sie sich das Vorgehen bei Werturteilen einer Regierung über politische Parteien:
1. Stehen die Äußerungen in direktem Zusammenhang mit der politischen Partei und beinhalten sie Herabsetzungen der Partei?
2. Sind die Äußerungen vom Aufgabenbereich des konkreten Regierungsmitglieds gedeckt?
3. Falls ja: Verhältnismäßigkeitsprüfung
Beachten Sie den Unterschied von Äußerungen eines Mitglieds einer Bundes- oder Landesregierung und Äußerungen des Bundespräsidenten in Examensklausuren und grenzen Sie diese ggf. voneinander ab.