Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen. Fast zwei Jahre nach Beginn der Covid-19-Pandemie hat das BVerfG (Beschluss vom 16. Dezember 2020, 1 BvR 1541/20) nun Vorgaben zur Triage gemacht und klargestellt, dass auch ein gesetzgeberisches Unterlassen nicht hinnehmbar ist. Dies gilt zumindest für die Fälle, in denen es eine Schutzpflicht, wie hier aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, gibt. Diese Regelung schützt Menschen mit Behinderung und dieser Schutzauftrag verdichte sich hier zu einer Schutzpflicht, so das BVerfG. Für diesen Personenkreis besteht – so das BVerfG – eine besondere Gefährdungssituation, da sie höheren Infektionsrisiken ausgesetzt seien und auch schwerer erkranken könnten. Besonders problematisch sei aber, dass „die nicht nur vage Möglichkeit“ bestehe, dass sie „mangels gesetzlichen Schutzes vor Diskriminierung bei einer Verteilungsentscheidung über lebensnotwendige intensivmedizinische Ressourcen“ benachteiligt würden. Kurz gesagt: ihre Behinderung könne sich nachteilig auf die Auswahl auswirken, wem medizinische Maßnahmen vorenthalten werden. Insoweit sei Artikel 3 Abs. 3 S. 2 des Grundgesetzes verletzt, indem der Gesetzgeber es unterlassen habe, „Vorkehrungen zu treffen, damit niemand bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird“.
Die bisherigen Triage-Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) vom März 2020 hält das BVerfG für ungeeignet, den grundrechtlich gebotenen Schutz von Menschen mit Behinderungen zu garantieren. Die DIVI-Maßgaben stellen maßgeblich auf das Kriterium der Erfolgsaussicht der intensivmedizinischen Behandlung ab. Das kritisiert das BVerfG nicht grundsätzlich, aber nach Auffassung des Senats bestünde das Risiko, dass die mit einer Behinderung einhergehenden vorhandenen Erkrankungen und Gebrechen unrechtmäßig als Indikatoren für negative Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung eingestuft werden könnten.
Begleiterkrankungen (sog. Komorbiditäten) sollen laut DIVI nur dann in die Auswahlentscheidung einbezogen werden, wenn sie „in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern“. Jedoch sehen die Richterinnen und Richter das Risiko, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht nur auf die aktuelle Krankheit bezogen wird sondern eine Behinderung „stereotyp“ mit Begleiterkrankungen in Verbindung gebracht bzw. pauschal mit schlechten Genesungsaussichten verbunden würde. Auch die von der DIVI vorgestellte Skala sieht das Bundesverfassungsgericht problematisch. Diese stellt zwar auf „Gebrechlichkeit“ ab, nicht auf „Behinderung“. Nach Meinung des Ersten Senats könnte aber der Umstand, dass viele behinderte Menschen im Alltag auf Assistenz angewiesen sind, leicht dazu führen, dass hier auf eine „Gebrechlichkeit“ des Patienten geschlussfolgert werde. Hier kritisiert das BVerfG unklare Vorgaben und dass daher bei der Entscheidung über knappen Ressourcen „subjektive Momente“ eine zu große Bedeutung haben könnten.
Mangels gesetzlicher und unklarer medizinischer Vorgaben sei darum „nicht hinreichend gewährleistet, dass die Betroffenen in einer solchen Situation wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung geschützt sind.“ Die Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gilt zunächst für den Gesetzgeber, dieser muss somit Regelungen schaffen, die den skizzierten Diskriminierungsgefahren entgegenwirken. Die Beschwerdeführer – allesamt Menschen mit Behinderungen oder Vorerkrankungen, bei denen im Fall einer Corona-Erkrankung mit einem schweren Verlauf zu rechnen ist – forderten, der Gesetzgeber solle regeln, wie im Triage-Fall zu verfahren sei.
Hierfür räumt der Senat aber einen weitreichenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum ein, gibt aber einen groben Rahmen vor: Die „Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben, also die Erfolgsaussicht der Therapie kann ein zulässiges Entscheidungskriterium sein, da es nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens abstelle. Dahingegen darf die „längerfristig erwartbare Überlebensdauer“ kein zulässiges Kriterium sein, weil damit Personen, die aufgrund von Behinderungen tatsächlich oder vermeintlich eine kürzere Lebenserwartung haben, diskriminiert würden. Ein solches Kriterium berücksichtige „nicht [.] das Überleben der akuten Erkrankung“, stattdessen gehe es unzulässigerweise „um die Maximierung von Lebenszeit.“ Somit erteilt das BVerfG auch den Vorschlägen, dem Lebensalter eine ausschlaggebende Bedeutung bei der Priorisierungsentscheidung zuzubilligen, eine Absage.
Der Senat erachtet es als hinreichend, wenn der Gesetzgeber - das aber „unverzüglich“ -Verfahrensregelungen schafft, welche den Diskriminierungsgefahren entgegenwirken, so etwa das Vier-Augen-Prinzip, Dokumentationspflichten und Fortbildungen. Der Gesetzgeber muss unzulässige Schematisierungen verhindern, darf dafür aber auf konkrete Empfehlungen der medizinischen Fachwelt verweisen und die letztendliche Entscheidung im Einzelfall den behandelnden Ärzten überantworten.
Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) äußerte sich positiv zu dem Entscheid. Menschen mit Behinderung bedürften mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat, schrieb er auf Twitter. Justizminister Marco Buschmann (FDP), kündigte wenige Stunden nach der Urteilsverkündung an, rasch tätig werden zu wollen.