Ein Klausursachverhalt zu dieser Entscheidung könnte beispielsweise folgendermaßen aussehen:
K ist Eigentümer eines Grundstücks in der kreisangehörigen Gemeinde G, auf dem er in den 90ern ein Wohnhaus errichtet hat. Das benachbarte Grundstück gehört dem N, der dort 2005 ein Wohnhaus gebaut hat. Das Grundstück des K liegt tiefer als das Grundstück des N.
N hatte 2005 eine Baugenehmigung für den Bau einer Grenzgarage als Anbau an sein Wohnhaus beantragt. Die Garage sollte mit Spitzdach an der Grenze zum Grundstück des Klägers errichtet werden, und zwar mit einer Gesamthöhe von 2,9 m am höchsten Punkt der Geländeoberfläche. Die Baugenehmigung wurde vom Landratsamt E am 03.07.2006 antragsgemäß erteilt, K hatte keine Einwände mitgeteilt. Schon Anfang 2006 waren die Bauarbeiten an der Garage bereits beendet gewesen. Sie stand weiter vorne an der Grundstücksgrenze als im Plan gekennzeichnet und hatte ein Walmdach.
Mit Schreiben vom 16.04.2007 teilte K mit, dass die Wand der Garage zu hoch und die Nutzbarkeit seines Grundstücks dadurch beeinträchtigt sei. K beantragt, dass ein Abbruch der Garage des N angeordnet werden müsse. Auf der Grenze der Grundstücke sei zunächst eine Sockelwand (Höhe: 1 m) errichtet und darauf dann die die Garagenwand (Höhe: 2,7 m) gesetzt worden. Dies wurde durch ein Gutachten des Landratsamts so bestätigt.
Das Landratsamt E lehnte den Antrag des K mit einer ausführlichen Begründung am 03.12.2008 ab, woraufhin K ordnungsgemäß Widerspruch einlegte. Darin führte K insbesondere aus, dass der Baurechtsbehörde aufgrund der klaren Verstöße gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften gar nichts anderes übrig bleibe, als den Abbruch der Garage anzuordnen. Der formell einwandfreie, jedoch ablehende Widerspruchsbescheid wurde K am 29.03.2010 ordungsgemäß zugestellt. K erhob daraufhin am 29.04.2010 Klage beim VG Stuttgart. Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?
Lösung:
Im weiteren wird das Berufungsurteil des VGH Mannheim (das VG Stuttgart hatte die Klage des K als unbegründet abgelehnt) zusammengefasst. Dabei werden die wesentlichen Entscheidungsgründe des Gerichts zitiert. Wichtiges Wissen für die öffentlich-rechtliche Klausur wird besonders hervorgehoben. Es wird ausdrücklich nicht auf alle in einer Klausur zu prüfenden Punkte eingegangen, sondern nur auf diejenigen, die in der Entscheidung entscheidungserheblich waren.
A. Zulässigkeit
Neben den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Verpflichtungsklage ist hier insbesondere darauf zu achten, dass der Nachbar N gem. §§ 65 Abs. 2 VwGO notwendig beizuladen ist. Insbesondere im Assessorexamen sollte die Beiladung auf keinen Fall vergessen werden.
Merken Sie sich diese Verpflichtungssituation von Kläger, Beklagter und Beigeladener bei nachbarrechtlichen Streitigkeiten im Baurecht!
B. Begründetheit
Die Ermächtigungsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf bauordnungsrechtliches Einschreiten der Beklagten (Baurechtsbehörde) gegenüber bem Beigeladenen (Nachbar) ergibt sich aus § 65 S. 1 LBO BW.
Zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen des § 65 S. 1 LBO BW vorlagen (1.) und ob diese Vorschrift gegenüber K drittschützenden Charakter hat (2.). Ein Anspruch des Klägers auf bauordnungsrechtliches Einschreiten kommt nur dann in Betracht, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (3.).
1. Voraussetzungen des § 65 S. 1 LBO BW
Der VGH erläutert die Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 65 S. 1 LBO BW wie folgt:
„Nach § 65 Satz 1 LBO kann der teilweise oder vollständige Abbruch einer Anlage, die im Widerspruch zu öffentlichrechtlichen Vorschriften errichtet wurde, angeordnet werden, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums sind Bedeutung und Tragweite des Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beachten (...). Demzufolge beantwortet sich die Frage, ob eine Anlage im Widerspruch zu öffentlichrechtlichen Vorschriften errichtet wurde, nach dem Zeitpunkt ihrer - wesentlichen - Fertigstellung (...), wie auch der Wortlaut der Norm („wurde“) verdeutlicht. Für die Beurteilung, ob auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können, kommt es demgegenüber auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung oder - im Falle der behördlichen Ablehnung eines Einschreitens - der gerichtlichen Entscheidung an.“
Merken Sie sich diese wichtige Unterscheidung über den Zeitpunkt der Beurteilung bei den Voraussetzungen des § 65 S. 1 LBO BW:
„Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ = Zeitpunkt der wesentlichen Fertigstellung
„auf andere Weise rechtmäßige Zustände herstellen“ = Zeitpunkt der behördlichen bzw. Gerichtlichen Entscheidung
Für den Verstoß gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften ist deshalb auf die Gesetzeslage im Zeitpunkt der Errichtung der Garage abzustellen. Dies war 2006. In einer Klausur würden die früher geltende Normen zitiert, sofern sie von der jetzigen Gesetzeslage abweichen.
2. Drittschützende Norm?
Der VGH geht dann auf die Voraussetzungen für den Drittschutz aus § 65 S. 2 LBO ein:
„Zweck dieser Ermächtigung sind Bewahrung und Wiederherstellung der baurechtlichen Ordnung im öffentlichen Interesse. Drittschutz vermittelt sie insoweit nur ausnahmsweise, wenn und soweit eine vom Anwendungsbereich der Landesbauordnung erfasste Anlage gegen eine auch dem Schutz eines Dritten (Nachbarn) dienende öffentlichrechtliche Vorschrift verstößt.“
Der VGH prüft dann, ob öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt worden sind, die den K schützen sollen. Entscheidend kam es auf die Vorschriften zu Abstandsflächen an.
„Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 LBO müssen vor den Außenwänden von Gebäuden
Abstandsflächen auf dem Baugrundstück liegen, die von oberirdischen baulichen Anlagen freizuhalten sind. Ihre Tiefe bemisst sich nach der Wandhöhe (§ 5 Abs. 4 Satz 1 LBO) und gegebenenfalls der Gebietsart (§ 5 Abs. 7 Satz 1 LBO). Sie darf jedoch bei Wänden über 5 m Breite 2,5 m nicht unterschreiten (vgl. § 5 Abs. 7 Satz 2 LBO). (...) Diese Anforderungen wurden bei Errichtung der Garage nicht beachtet. Denn die Garage wurde ohne die hiernach gebotene Abstandsfläche von mindestens 2,5 m Tiefe unmittelbar an der Grenze zum Nachbargrundstück des Klägers errichtet.“
Jedoch könnte eine Ausnahme vom generellen Abstandsflächengebot vorliegen. Der VGH prüft den Sonderfall nach § 6 Abs. 1 S. 2 LBO a.F. (jetzt: § 6 Abs. 1 Nr. 2 LBO BW), bei dem eine Abstandsfläche nicht erforderlich ist, wenn u.a. die Höhe der Mauer der Anlage unter 3 m liegt. Bei dieser Frage kam es entscheidend darauf an, ob nur die Höhe der Garagenwand oder zusätzlich auch die Höhe der Stützmauer in die Berechnung der 3 m einzubeziehen waren. Der VGH erörtert das folgendermaßen:
„Nach dieser Vorschrift [Anm.d.Verf.: § 6 Abs. 1 S. 2 LBO a.F.] waren Abstandsflächen nicht erforderlich vor Außenwänden von Gebäuden oder Gebäudeteilen, die nur Garagen oder Nebenräume enthalten, der örtlichen Versorgung dienen oder sich auf öffentlichen Verkehrsflächen befinden, soweit die Wandhöhe nicht mehr als 3 m beträgt (Nr. 1) (...). Hier fehlte es bereits an der Erfüllung der Voraussetzung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LBO a. F.. Denn die Wandhöhe der Garage betrug bei ihrer Fertigstellung deutlich mehr als 3 m. (...)
aa) Für die Berechnung der Wandhöhe i. S. des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LBO a. F. (jetzt § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 LBO) gelten grundsätzlich die allgemeinen Regelungen (...).Eine als Fundament einer Grenzgarage dienende grenzständige Sockelwand ist, soweit sie über der natürlichen Geländeoberfläche liegt, auf die Wandhöhe der Garage anzurechnen. Denn die Geländeoberfläche i. S. des § 6 Abs. 1 Satz 3 LBO a. F. (jetzt § 6 Abs. 1 Satz 2 LBO) ist in seinem solchen Fall nicht wie das Verwaltungsgericht und ihm folgend wohl auch der Beklagte in seiner Berufungserwiderung meinen - die Oberkante einer solchen Sockelwand. Der Begriff „Geländeoberfläche“ ist in der Landesbauordnung zwar nicht allgemein definiert. Jedoch verbietet schon der allgemeine Sprachgebrauch, ihn mit einer - künstlichen - „Sockelwand“ gleichzusetzen (...). Für die Anrechnung des über dem natürlichen Gelände liegenden Teils der Sockelwand sprechen nicht zuletzt Sinn und Zweck der Vorschriften über Abstandsflächen, Beeinträchtigungen der Belichtung, Belüftung und Besonnung eines Nachbargrundstücks durch grenznahe oder grenzständige bauliche Anlagen zu begrenzen. Dem Nachbarn soll eine auf seinem Grundstück über der Geländeoberfläche in Erscheinung tretende Wand von höchstens 3 m zugemutet werden. Höhere Wände und die damit einhergehende stärkere Verschattung und „Einmauerung“ seines Grundstücks muss er im Regelfall nicht hinnehmen (...)“
Da Sockelwand und Garagenwand zusammengezählt werden müssen (und damit 3,7 m hoch waren), kam die Ausnahme der § 6 Abs. 1 Nr. 2 LBO BW nicht in Betracht. Eine Legalisierung der Garage durch die spätere Baugenehmigung lehnt der VGH ab, da Anlage und Genehmigung wegen der abweichenden Lage und dem unterschiedlichen Dach nicht deckungsgleich seien.
Der VGH prüft dann weiter, ob andere Möglichkeiten zu Herstellung rechtmäßiger Zustände bestehen und verneint diese Frage.
3. Ermessensreduktion auf Null
Zum Schluss begründet der VGH noch, warum im vorliegenden Fall eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen war.
„Geht es um den Antrag eines Dritten, wegen der Verletzung einer ihn schützenden Vorschrift den Abbruch einer Anlage anzuordnen, ist das Entschließungsermessen der Baurechtsbehörde im Sinne einer Pflicht zum Einschreiten „auf Null“ reduziert, wenn der Rechtsverstoß besonders intensiv ist oder ein wesentliches Rechtsgut des Nachbarn gefährdet und sich nicht anders als durch einen (Teil-)Abbruch der Anlage beseitigen lässt (...). Das kann auch bei unzumutbaren Beeinträchtigungen des Nachbarn der Fall sein (....). Verstößt eine bauliche Anlage gegen eine drittschützende Vorschrift, die unzumutbare Beeinträchtigungen verbietet, ist die Baurechtsbehörde folglich in der Regel zum Einschreiten verpflichtet, es sei denn, es stünden ihr sachliche Gründe für eine Untätigkeit zur Seite
Der VGH führt aus, warum die Vorschriften zu Abstandsflächen drittschützende Vorschriften sind, die unzumutbare Beeinträchtigungen verbieten.
„Bauordnungsrechtliche Abstandsflächenvorschriften gehören mit ihrem unmittelbaren räumlichen Bezug zu Nachbargrundstücken zum Kernbestand des öffentlichen Baunachbarrechts. Ihre nachbarschützende Wirkung besteht nach Sinn und Zweck der Abstandsflächenvorschriften grundsätzlich unabhängig von einer tatsächlich feststellbaren Beeinträchtigung des Nachbarn (...). Soweit sie Nachbarschutz vermitteln, indiziert bereits ihre Verletzung die Beeinträchtigung des Nachbarn in Belangen, deren Schutz die Abstandsflächenvorschriften dienen (...)“
Der VGH verneint dann auch die Frage, ob der Behörde sachliche Gründe für eine Untätigkeit zur Seite stehen. Es prüft im Ergebnis nichts anderes als die Verhältnismäßigkeit.
„Schließlich ist ein Abbruch der Garage entgegen der Ansicht des Landratsamts auch nicht wegen - von der Behörde der Höhe nach nicht näher ermittelter - „enormer Kosten“ im engeren Sinne unverhältnismäßig. Die Beigeladenen haben die genehmigungspflichtige Garage vor Erteilung der Baugenehmigung abweichend von ihrem Bauantrag auf eigenes Risiko formell und materiell rechtswidrig errichtet. Der mit einem Abbruch dieser Anlage verbundene, zweifellos nicht unerhebliche finanzielle Aufwand ist im Verhältnis zum Gewicht des Nachbarrechtsverstoßes nicht unangemessen und den Beigeladenen zumutbar.“
Da ein Anspruch des K auf Einschreiten der Baurechtsbehörde gem. § 65 S. 1 LBO BW bestand, hob der VGH Mannheim das Urteil des VG Stuttgart auf.
Der VGH nimmt in dieser Entscheidung eine mustergültige Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf bauordnungsrechtliches Einschreiten gegenüber dem Nachbarn nach § 65 S. 1 LBO BW vor. Wenn Sie die Voraussetzungen einmal verinnerlicht haben, bereitet es keine größeren Schwierigkeiten mehr, ähnlich gelagerte Fälle zu lösen. Für die Urteilsklausur im 2. Staatsexamen kann man bei der Lektüre dieses Urteils besonders viel lernen.
C. Schlussbemerkung
Merken Sie sich die Punkte, die in den Fällen einer Abbruchsanordnung gegenüber dem Nachbarn in der Klausur meist entscheidend sind:
- Die Suche nach möglicherweise verletzten baurechtlichen Vorschriften
- Die Prüfung, ob diese a) generell und b) in Bezug auf den Anspruchsteller drittschützenden Charakter besitzen
- Die Prüfung, ob andere Möglichkeiten zur Herstellung rechtmäßiger Zustände vorhanden sind
- Dass ein Anspruch nur besteht, wenn eine Ermessensreduktion auf Null begründet werden kann. Dies ist bei einem Verstoß gegen drittschützende Vorschriften (a), die unzumutbare Einschränkungen verbieten (b), der Fall, wenn keine sachlichen Gründe für die Untätigkeit der Behörde ersichtlich sind (c).
Weitere erhellende Ausführungen zu diesem und anderen Themen finden Sie in unseren ExO`s. Einen Auszug aus dem Skript finden Sie hier:http://www.juracademy.de/web/topic.php?id=12515.