Weiter stellte das Gericht klar, dass bei der Genehmigung von Immissionswerten für seltene Ereignisse nach Nr. 6.3 und Nr. 7.2 der TA Lärm nicht von vornherein die für solche Anlässe zulässigen Maximalwerte voll ausgeschöpft werden. Vielmehr muss die Behörde eine Einzelfallprüfung durchführen und darf auch für seltene Ereignisse lediglich eine Lärmbelastung genehmigen, die sich durch betriebliche Erfordernisse in Abwägung mit den Belangen der Nachbarschaft rechtfertigen lässt.
I. Sachverhalt
Die klagende Gemeinde (im Folgenden: die Klägerin) wandte sich gegen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, mit welcher das Landratsamt der beigeladenen Anlagenbetreiberin die Errichtung und den Betrieb einer Geflügelmastanlage für 39.145 Tiere gestattet hatte.
Der Maststall sollte im Außenbereich errichtet werden. Nach dem Betriebskonzept, welches ebenfalls Gegenstand der Genehmigung war, sollten schlachtreife Tiere jeweils mit mehreren Lkw abgeholt werden. Eine Nebenbestimmung legte fest, dass die Abholung nur maximal fünfmal jährlich zur Nachtzeit erfolgen durfte, wobei Immissionswerte von 55 dB(A) einzuhalten waren, was dem gemäß Nr. 6.3 TA Lärm für nächtliche „seltene Ereignisse“ vorgesehenen Höchstwert entsprach.
Für die Immissionsmessungen spezifizierte der Bescheid zwei Immissionsorte, von denen sich einer am Wohnhaus der beigeladenen Anlagenbetreiberin befand.
Die klagende Gemeinde hatte vor der Erteilung der streitgegenständlichen Genehmigung ihr gemeindliches Einvernehmen versagt; das Landratsamt hatte daraufhin die immissionsschutzrechtliche Genehmigung unter Ersetzung des Einvernehmens gemäß § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB erteilt.
Daraufhin hatte die Klägerin beim VG Bayreuth erfolglos eine (Dritt-)Anfechtungsklage gegen die Anlagengenehmigung erhoben. Gegen das Urteil des VG legte die die Klägerin beim VGH München Berufung ein.
II. Vorbringen der Beteiligten
Der VGH München ließ die Berufung insoweit zu, als sich die Klägerin gegen die Aufrechterhaltung der „Zulassung eines Abholbetriebs zur Nachtzeit“ durch das VG wandte. Im Übrigen wies er den nach § 124a Abs. 4 VwGO erhobenen Berufungszulassungsantrag ab.
1. Antrag der Klägerin
Die Klägerin hatte beantragt, unter Änderung des Urteils des VG Bayreuth die Nebenbestimmung, welche eine Abholung der Hähnchen unter bestimmten Bedingungen auch zur Nachtzeit gestattete, aufzuheben.
Die Klägerin führte an, es seien „unzumutbare nächtliche Lärmimmissionen“ zu erwarten. Nächtliche Immissionswerte von 55 dB (A) dürften in den betreffenden Dorf- bzw. Wohngebieten nach Nr. 6.1, 6.3 TA Lärm allenfalls für „seltene Ereignisse“ zugelassen werden.
„Die Voraussetzungen für eine Zulassung erhöhter Lärmbeeinträchtigungen durch seltene Ereignisse im Sinn von Nr. 7.2 TA Lärm seien [aber] nicht erfüllt. Zum einen fehle es vorliegend an dem Einsatz von dem Stand der Technik entsprechenden Lärmminderungsmaßnahmen […]. Der Anlagenbetreiber müsse dafür auch höhere Kosten in Kauf nehmen […]. Vorliegend kämen z.B. eine Lärmschutzwand oder ein Lärmschutzwall oder die Situierung des Stalleingangs auf der dem Wohngebiet abgewandten Seite in Betracht. Die Abholung der Schlachttiere während der Nacht sei betriebstechnisch nicht notwendig, sie könnte auch tagsüber erfolgen […]. Fehlerhaft sei die Annahme des Verwaltungsgerichts, hierbei handele es sich um einen Aspekt der betriebswirtschaftlichen Organisation, die wegen des Schichtbetriebs des vorgesehenen Schlachthofs eine Nachtabholung bedinge und gerichtlich nicht nachprüfbar sei. Betriebliche Organisationsmöglichkeiten zur Lärmvermeidung seien im Gegenteil gerade zu berücksichtigen.“
2. Vorbringen der Beigeladenen
Die beigeladene Anlagenbetreiberin trug unter anderem vor, soweit die „regulären“ nächtlichen Immissionsrichtwerte am Messungsort 1 überschritten würden, sei dies unbeachtlich. Denn bei diesem Messpunkt handle es sich um das Wohnhaus der Beigeladenen selbst, die wirksam auf die Einhaltung des gesetzlichen Lärmschutzes verzichtet habe.
Die Anlagenbetreiberin argumentierte weiter, die Tatsache, dass die Ausstallung des Geflügels am Ende eines Mastdurchgangs eine nächtliche Abholung der Tiere voraussetze, „sei auf den Zweischichtbetrieb in den Schlachthöfen der Firma W zurückzuführen; es handle sich um eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, die nicht zu beanstanden sei.“ Weiter seien bei dieser Entscheidung auch Belange des Tierschutzes mit einbezogen worden. Auch führte die Beigeladene an, dass von Anlagenbetreibern keine unzumutbar aufwendigen technischen Maßnahmen zur Lärmminderung verlangt werden dürften.
3. Antrag der Beklagten
Der Beklagte beantragte, die Berufung zurückzuweisen. „Die angegriffene Nebenbestimmung halte sich sowohl in Bezug auf die Häufigkeit der seltenen Ereignisse als auch auf die Höhe der zugelassenen Überschreitung des ansonsten geltenden Immissionsrichtwerts innerhalb des von Nr. 6.3 und Nr. 7.2 Abs. 1 TA Lärm eröffneten Rahmens. Bei der nach Nr. 7.2 Abs. 2 TA Lärm vorzunehmenden Einzelfallprüfung, wie oft und in welchem Maß der Nachbarschaft Überschreitungen des „regulären“ Lärmimmissionsrichtwerts zugemutet werden könnten und welche Abhilfemaßnahmen gegebenenfalls vorher unternommen werden müssten, habe die Behörde einen Spielraum. Vorliegend habe das Landratsamt rechtsfehlerfrei alle in Betracht kommenden Lärmschutzmaßnahmen geprüft, sie jedoch als unverhältnismäßig angesehen […].“ Auch habe das Landratsamt ausreichend berücksichtigt, dass eine Abholung der Schlachttiere grundsätzlich auch tagsüber möglich sei, indem es von den insgesamt acht notwendigen Abholungen nur maximal fünf während der Nachtzeit genehmigt habe.
III. Erwägungen des Gerichts:
1. Genaue Bestimmung des Streitgegenstands
Zunächst stellte das Gericht fest, dass die Nebenbestimmung „rechtlich vom übrigen Genehmigungsinhalt abtrennbar [ist] und […] daher für sich genommen Streitgegenstand des Berufungsverfahrens sein [kann]. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass in der Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zugleich eine Ersetzung des versagten gemeindlichen Einvernehmens liegt.“
2. Rechtswidrigkeit der angegriffenen Nebenbestimmung?
Das Gericht stellte fest, dass die streitgegenständliche Nebenbestimmung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und hob die Nebenbestimmung insoweit auf.
Zunächst stellte das Gericht fest, dass die zuständige Baugenehmigungsbehörde ein für die Erteilung der Genehmigung erforderliches gemeindliches Einvernehmen nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB, Art. 74 Abs. 1 BayBO nur ersetzen darf, wenn die Gemeinde ihr Einvernehmen nach § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB zu Unrecht verweigert hat. Dies ist der Fall, wenn das in Frage stehende Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB tatsächlich zulässig ist. Zu untersuchen war daher, ob die Gemeinde ihr Einvernehmen verweigern durfte, weil das Vorhaben diesen Vorschriften widersprach. Dabei war insbesondere zu prüfen, ob die Anlage schädliche Umwelteinwirkungen i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB hervorrufen könnte.
Das Gericht stellte im Ausgangspunkt fest, dass die für den in einem Dorfgebiet belegenen Immissionsort IO 1 zulässigen nächtlichen Immissionswerte grundsätzlich 45 dB(A) betrügen gemäß Nr. 6.1 Satz 1 Buchstabe c TA Lärm.
a. Individueller Verzicht auf Einhaltung von bauplanungsrechtlichen Vorgaben?
In diesem Zusammenhang wies das Gericht im Anschluss den Einwand der Beigeladenen, sie habe wirksam auf die Einhaltung des Immissionswerts verzichtet, ab. „Denn bauplanungsrechtliche Anforderungen sind regelmäßig grundstücksbezogen und bestehen unabhängig davon, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer konkreten immissionsschutzrechtlichen Konfliktsituation (zwischen dem Grundstück und einer emittierenden Anlage) Eigentümer des Grundstücks ist und ob dieser auf den ihm zustehenden Schutz Wert legt. Das Bauplanungsrecht regelt die Nutzbarkeit der Grundstücke in öffentlich-rechtlicher Beziehung auf der Grundlage objektiver Umstände und Gegebenheiten mit dem Ziel einer möglichst dauerhaften städtebaulichen Ordnung und Entwicklung. Daraus ergibt sich, dass die persönlichen Verhältnisse einzelner Eigentümer oder Nutzer bei der Bewertung von Lärmimmissionen im Rahmen des baurechtlichen Rücksichtnahmegebots keine Rolle spielen.“
b. Zulässigkeit der Immissionswerte für „seltene Ereignisse“ nach Nr. 6.3, 7.2 TA Lärm?
Dann widmete sich das Gericht der Frage, ob die Genehmigung von nächtlichen Immissionen i.H.v. 55 dB (A) insoweit rechtmäßig sei, als für „seltene Ereignisse“ nach Nr. 7.2 TA Lärm von den regulären Höchstwerten abgewichen werden darf.
Nr. 6.3 TA Lärm nennt 55 dB (A) als Maximalwert, der auch bei seltenen Ereignissen nicht überschritten werden darf. Das Gericht stellte jedoch fest, dass dies nicht bedeute, dass der normierte Höchstwert auch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls stets konkret zumutbar sei. Vielmehr fordere Nr. 7.2 Abs. 2 Satz 1 TA Lärm jedenfalls die Durchführung einer einzelfallbezogenen Zumutbarkeitsprüfung.
Das Gericht führte zunächst aus, dass das in Nr. 7.2 TA Lärm genannte Tatbestandsmerkmal der „voraussehbaren Besonderheiten beim Betrieb einer Anlage“ „jede dem Grund nach prognostizierbare Abweichung von den ansonsten anzutreffenden Betriebsmodalitäten der Anlage [erfasse], die […] mit der Erzeugung einer größeren Lärmfracht einhergeht, als sie für den Anlagenbetrieb ansonsten kennzeichnend ist.“ Darunter könne auch die Abholung der Masttiere gefasst werden.
Die zuständige Behörde habe aber auch bei Vorliegen einer solchen „voraussehbaren Besonderheit“ zu untersuchen, „ob dem Anlagenbetreiber organisatorische und betriebliche Lärmminderungsmöglichkeiten […] abverlangt werden dürfen.“ Dabei seien Interessen des Anlagenbetreibers mit den Belangen der Nachbarschaft abzuwägen.
In diesem Zusammenhang stellte das Gericht fest, dass das zuständige Landratsamt „aber organisatorischen und betrieblichen Möglichkeiten zur Vermeidung der Überschreitungen der „regulären“ Immissionsrichtwerte zu wenig Beachtung geschenkt“ habe. Es sei nicht ausreichend untersucht worden, warum die strittigen Abholvorgänge nicht auch zur Tagzeit stattfinden können. „Dass dies im konkreten Einzelfall nicht durch organisatorische und betriebliche Maßnahmen sichergestellt werden kann, leuchtet nicht ein.“
Der VGH München folgte der Auffassung des VG Bayreuths nicht, welches die Frage, ob die schlachtreifen Tiere tagsüber oder nachts abgeholt würden, als Gegenstand der betriebswirtschaftlichen Organisation der Anlagenbetreiberin und des Geflügelgroßabnehmers angesehen hatte. Ausgehend davon hatte das VG Bayreuth angenommen, die Frage entziehe sich der gerichtlichen Überprüfung.
Aus dem Umstand, dass die TA Lärm den Anlagenbetreibern „ausdrücklich gebietet, zumutbare organisatorische und betriebliche Maßnahmen zur Vermeidung von Überschreitungen des Lärmimmissionsrichtwerts zu ergreifen, ergibt sich, dass [diese] in der Wahl seines Betriebskonzepts gerade nicht völlig frei [sind], sondern vielmehr hierbei Rücksicht auf die durch § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG geschützten Belange der Nachbarschaft nehmen [müssen].“
Anschließend führte das Gericht eine umfassende Abwägung der betroffenen Belange durch:
Belange des Tierschutzes?
Das Gericht untersuchte den Aussagegehalt des von Seiten der Beklagten angeführten § 19 der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztV), der die Haltungsbedingungen von Masthühnern regelt. Zwar erlege § 19 Abs. 1 Nr. 5 TierSchNutztV dem Halter die Pflicht auf, die Tiere drei Tage vor dem voraussichtlichen Schlachttermin weitgehend einem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus auszusetzen. Dem lasse sich jedoch nicht entnehmen, ob dem Tierschutz besser durch eine nächtliche oder eine tagsüber stattfindende Abholung der Tiere gedient ist.
Abwägung betriebswirtschaftlicher Interessen mit den Lärmschutzbelangen der Anlieger
Anschließend gestand das Gericht zu, dass zwar „ohne Weiteres verständlich [sei], dass eine maximale terminliche Flexibilität aus der Sicht eines jeden Unternehmens wünschenswert ist.“ Daneben seien aber auch Lärmschutzbelange Betroffener zu berücksichtigen. „Diese haben hier deshalb besonderes Gewicht, weil die nächtliche Abholung der schlachtreifen Masttiere dem Betriebskonzept zufolge durchschnittlich sechs Stunden dauern soll.“ Dadurch seien „dreiviertel der Nachtzeit“ vom erhöhten Lärmaufkommen betroffen. Im konkreten Fall spreche daneben auch die Größe des Maststalls und dessen Nähe zur Wohnbebauung gegen eine Zumutbarkeit der Lärmbelastung.
Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Nebenbestimmung
Schließlich untersuchte das Gericht die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Nebenbestimmung. Dabei stellte es fest, dass zwar der Ansatz zutreffend sei, eine Überschreitung der regelmäßig zulässigen Immissionswerte jährlich in fünf Nächten zuzulassen und damit in der Hälfte der nach Nr. 7.2 TA Lärm maximal möglichen (10) Nächte. „Nicht mehr nachvollziehbar [sei] dagegen, dass das Landratsamt Überschreitungen in dem nach Nr. 6.3 TA Lärm höchstmöglichen Ausmaß (55 dB(A)) zugelassen hat.“ Insbesondere hätte berücksichtigt werden müssen, dass Fahrzeuge mit einem vergleichsweise niedrigen Schallleistungspegel verfügbar sind.
Aufhebung der angegriffenen Nebenbestimmung
Das Gericht gab der Berufung statt. Es änderte das angegriffene Urteil des VG Bayreuth ab und hob die angegriffene Nebenbestimmung auf.
IV. Examensrelevanz
Das Urteil verdeutlicht, wie sich eine Gemeinde gegen die Ersetzung ihres nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB erforderlichen Einvernehmens im Rahmen der Drittanfechtung wehren kann. In diesem Zusammenhang sollte sich der Examenskandidat in Erinnerung rufen, dass die Klage nur dann begründet ist, wenn sich die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts gerade aus einem Verstoß gegen die Normen ergibt, aus denen die klagende Gemeinde ihre Antragsbefugnis herleitet.
Weiter ist das Urteil insoweit interessant, als es erläutert, auf welche Weise die zuständige Behörde auch bei der Genehmigung von höheren Immissionswerten für „seltene Ereignisse“ i.S.d. Nr. 7.2 TA Lärm eine Einzelfallprüfung vorzunehmen hat. Dabei sind die Interessen der Anlagenbetreiber gegen die öffentlichen Belange vollumfänglich abzuwägen. Die Behörde hat bei der Ermessensausübung den Rahmen berücksichtigen, welcher durch die in Nr. 6.3 TA Lärm normierten Maximalwerte für seltene Ereignisse vorgegeben ist.
Schließlich stellt das Urteil klar, dass betriebswirtschaftliche Erwägungen des Anlagenbetreibers zwar in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einfließen. Dabei sind unternehmerische Entscheidungen aber nicht von vorneherein der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Vielmehr können sie auf ihre objektive Notwendigkeit untersucht werden.