Sachverhalt:
Die Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE beantragte im Rahmen eines Organstreitverfahrens, festzustellen, dass ihre grundgesetzlich gewährten Minderheiten- und Oppositionsrechte in der 18. Wahlperiode durch ein Unterlassen des Deutschen Bundestag (Antragsgegner) verletzt werden.
Nach der Wahl vom 22. September 2013 entfielen auf die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen (DIE LINKE sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), 127 der 631 Sitze. Damit erreichte die Opposition einige der im Grundgesetz und einfachgesetzlich verankerten Quoren für die Ausübung bestimmter Minderheitenrechte nicht. So setzen etwa der Antrag auf Einberufung des Bundestags (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG), auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG), und die Antragsberechtigung für die Abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) ein Drittel bzw. ein Viertel der Stimmen aller Abgeordneten voraus.
Um die bestehenden Oppositionsrechte effektiv wahrnehmen zu können, hatten die Oppositionsparteien im Januar und im März 2014 Gesetzesentwürfe in den Bundestag eingebracht. Zum einen sollten die Art. 23, 39, 44, 45a, 93 des Grundgesetzes derart abgeändert werden, dass die darin normierten Minderheitenrechte künftig nicht mehr bestimmten Quoren von Abgeordneten zustehen sollten, sondern „der Gesamtheit der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen.“ Zum anderen sollten die diese Vorschriften einfachgesetzlichen Regelungen entsprechend abgeändert werden.
Der Antragsgegner lehnte jedoch die beiden Gesetzentwürfe ab und beschloss stattdessen einen von den Regierungsfraktionen eingebrachten Gesetzesentwurf. Dieser ergänzte die GO–BT um § 126a („Besondere Anwendung von Minderheitsrechten in der 18. Wahlperiode“). Demnach wurden lediglich bestimmte Minderheitenrechte in Ausschüssen des Bundestages jeweils „allen Ausschussmitgliedern der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“, zugewiesen.
Im Übrigen wurde bestimmt, dass im Bundestagsplenum bestimmte Minderheitenrechte von mindestens 120 Abgeordneten ausgeübt werden können. Überhauptkeine Änderungen sah § 126a GO–BT hinsichtlich der Antragsberechtigung für die abstrakte Normenkontrolle vor.
§ 126a Besondere Anwendung von Minderheitsrechten in der 18. Wahlperiode
(1) Für die Dauer der 18. Wahlperiode gelten folgende Regelungen:
1. Auf Antrag von 120 seiner Mitglieder setzt der Bundestag einen Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 44 des Grundgesetzes ein. Die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses wird […] so bestimmt, dass die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der Mitglieder stellen.
2. Der Verteidigungsausschuss stellt sicher, dass auf Antrag aller Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemäß Artikel 45a Absatz 2 des Grundgesetzes eine Angelegenheit der Verteidigung zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht wird und die Rechte, die nach dem Untersuchungsausschussgesetz einem Viertel der Ausschussmitglieder zustehen, von diesen Mitgliedern entsprechend geltend gemacht werden können.
3. Auf Antrag von 120 Mitgliedern des Bundestages beruft der Präsident den Bundestag ein.
[…]
(2) Auf die Regelungen nach Absatz 1 findet § 126 keine Anwendung.
Die Antragstellerin machte im Organstreitverfahren vor dem BVerfG anhand von drei Anträgen geltend, dass der Antragsgegner gegen das Demokratieprinzip und die Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems verstoßen habe, indem er (1) die vorgeschlagene Verfassungsänderung sowie (2) die Abänderung bestimmter einfacher Gesetze in seiner Sitzung am 3. April 2014 unterlassen hat. Schließlich (3) sei die erfolgte Einführung des § 126a GOBT unzureichend.
Wesentliche Erwägungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts:
1. Zulässigkeit
Das Bundesverfassungsgericht stellte zunächst fest, dass die nach einer inhaltlichen Befassung erfolgte Ablehnung der Gesetzentwürfe durch den Deutschen Bundestag als qualifiziertes Unterlassen zu werten sei. Dieses stehe als rechtserhebliche Maßnahme dem Erlass eines Gesetzes gleich. Damit seien zulässige Antragsgegenstände gegeben.
Weiter führte der Zweite Senat aus, dass die Antragstellerin auch berechtigt sei, Rechte des Deutschen Bundestags im Wege der Prozessstandschaft geltend zu machen.
2. Begründetheit
Grundsatz effektiver Opposition
Im Rahmen der Begründetheitsprüfung stellte das BVerfG zunächst den Inhalt des verfassungsrechtlichen Grundsatzes effektiver Opposition dar. Dieser wurzele im Demokratieprinzip und setze zum einen voraus, dass für die parlamentarische Minderheit stets eine realistische Chance gewährleistet wird, selbst zur Mehrheit zu werden.
Zum anderen müsste der Opposition ermöglicht werden, ihre parlamentarische Kontrollfunktion wirksam zu erfüllen. Nach diesem „Grundsatz effektiver Opposition“ darf die Minderheit bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein. Die zentrale Rolle der parlamentarischen Opposition bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrollfunktion habe sich auch im verfassungsrechtlichen Rechtsschutzsystem niedergeschlagen: Insbesondere stünden abstrakte Normenkontrolle und Organstreitverfahren bereit, um dem Bundestag als solchem oder der Opposition zustehende Rechte einklagbar zu machen.
Schließlich wies das Gericht auch darauf hin, dass „das individuelle Recht zum […] parlamentarischen Opponieren gegen die politische Linie von Regierung und regierungstragender Mehrheit […] in der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten [gründet], die als Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.“
Keine spezifischen Oppositions(fraktions)rechte im GG
Im Anschluss daran führte der Zweite Senat des BVerfG aus, dass das Grundgesetz keine „spezifischen Oppositions(fraktions)rechte“ umfasse. Auch lasse sich aus der Verfassung kein Gebot der Schaffung solcher Rechte ableiten. Die Rechte der parlamentarischen Opposition stünden qualifizierten parlamentarischen Minderheiten in Form eines bestimmten Quorums zu. Damit seien die Minderheitenrechte von jeder beliebig zusammengesetzten Gruppe von Parlamentariern wahrnehmbar, nicht nur durch oppositionelle Akteure.
Einer Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte stehe bereits Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen. Aufgrund des Grundsatzes der Gleichheit der Abgeordneten sei „auch den Abgeordneten, die strukturell die Regierung stützen, die Möglichkeit eines Opponierens im Einzelfall eröffnet.“
Auch rechtfertige die Tatsache, dass sich Abgeordnete der Regierungsparteien faktisch von der Ausübung ihrer Kontrollrechte zurückhielten, nicht ihren Ausschluss von der Wahrnehmung bestimmter Minderheitenrechte schlechthin.
Kein verfassungswidriges Verfassungsrecht
Das Gericht stellte fest, dass zwischen den grundgesetzlichen Quoren für die Ausübung von Minderheitenrechten und dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition ein Spannungsverhältnis besteht. Dieses lasse sich aber auch nicht „mit der umstrittenen Rechtsfigur verfassungswidrigen Verfassungsrechts auflösen. Das Grundgesetz kann nur als Einheit begriffen werden. Daraus folgt, dass auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedere Normen in dem Sinne, dass sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind.“
Kein Gebot der Absenkung der verfassungsrechtlichen Quoren
Schließlich führte der Zweite Senat aus, dass sich auch aus dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition nicht ergebe, dass die grundgesetzlichen Quoren für die Ausübung der parlamentarischen Minderheitenrechte notwendig abzusenken seien. „Die in den Text der Verfassung aufgenommenen Quoren stellen vielmehr die vom Verfassungsgeber und vom verfassungsändernden Gesetzgeber gewollte Konkretisierung des Grundsatzes dar. […] Der Verfassungsgeber hat den Belang des Minderheitenschutzes auf der einen Seite und die Gefahr des Missbrauchs von Minderheitenrechten auf der anderen Seite erkannt und gegeneinander abgewogen. Er hat auch die Konsequenzen seiner Quorenbestimmungen gesehen und billigend in Kauf genommen.“
Aufgrund dieser Feststellungen kam das Gericht zum Ergebnis, dass der Antragsgegner nicht verpflichtet ist, „seine Kontrollfunktion durch Einräumung der von der Antragstellerin begehrten Oppositionsrechte auf Verfassungsebene [oder durch eine Änderung des einfachen Rechts] zu effektuieren.“
Bedeutung für ExamenskandidatInnen
Anhand dieses Urteils lassen sich zum einen die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreitverfahrens wiederholen – insbesondere die Fragen nach einem qualifizierten Unterlassen als Antragsgegenstand, und nach der Wahrnehmung von Rechten des Bundestags durch einen Teil der Abgeordneten in Prozessstandschaft.
Zum anderen verdeutlicht die Entscheidung die Bedeutung der Kontrollrechte der parlamentarischen Opposition. Machen Sie sich klar, dass zwischen dem Grundsatz effektiver Opposition einerseits und der Gefahr des Missbrauchs dieser Rechte andererseits ein Spannungsverhältnis besteht. Dieses hat das Grundgesetz durch die Einführung von Quoren aufgelöst. Die Einführung spezifischer, gerade und ausschließlich den Oppositionsfraktionen zustehender Minderheitenrechte verbietet sich aufgrund der Gleichheit aller Abgeordneten, welche verbürgt ist in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.