Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen

Rechtsstellung des Gemeinderatsvorsitzenden

3. Rechtsstellung des Ratsvorsitzenden

217

Die Kompetenzen des Bürgermeisters in seiner Funktion als Vorsitzender des Rates sind abzugrenzen von seinen Kompetenzen als Chef der Verwaltung (vgl. Schaubild in Rn. 202).

Hinweis

Regelungssystematisch kann man grob differenzieren zwischen den Regelungen über seine Stellung im Rat (als Vorsitzender und Mitglied kraft Gesetzes) in den §§ 40 ff. GO und seiner Stellung als Chef der Verwaltung in den §§ 62 ff. GO.

Zu seinen Kompetenzen als Ratsvorsitzender gehören insbesondere:

die Vertretung und Repräsentation des Rates (§ 40 Abs. 2 S. 3 GO – z.B. wenn der Rat einen Verwaltungsakt erlässt oder Kläger bzw. Beklagter in einem gerichtlichen Verfahren ist),

die Leitung der Ratssitzungen (§ 51 Abs. 1 GO),

die Handhabung der Ordnung in den Sitzungen,

die Einberufung des Rates mit der daraus folgenden ihm zustehenden Terminierungsbefugnis (§ 47 Abs. 1 S. 1 GO),

die Festsetzung und öffentliche Bekanntmachung der Tagesordnung (§ 48 Abs. 1 S. 1 und S. 4 GO) und

der Widerspruch gemeindewohlgefährdender (§ 54 Abs. 1 GO)

Dogmatisch wird insofern differenziert, als das Widerspruchsrecht der politischen Verantwortung des Bürgermeisters als Ratsvorsitzender und das Beanstandungsrecht seiner rechtlichen Verantwortung als Verwaltungschef zugeordnet wird, vgl. näher Hofmann/Theisen/Bätge 2.7.3.2/3 m.w.N..

Die Handhabung der rechtlichen Regelungen seiner Vorsitzendenstellung kann unmittelbare Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit der Ratsbeschlüsse nach sich ziehen.

Beispiel

Bürgermeister B versäumt es, die festgesetzte Tagesordnung nach § 48 Abs. 1 S. 4 GO rechtzeitig vorher öffentlich bekanntzumachen. Die in der Sitzung getroffenen Ratsbeschlüsse sind wegen des damit verbundenen Gesetzesverstoßes rechtswidrig und damit unwirksam (vgl. hierzu näher unter Rn. 276).

a) Leitung der Ratssitzungen und Handhabung der Ordnung, § 51 Abs. 1 GO

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Eine besonders wichtige und hervorgehobene Aufgabe in seiner Stellung als Vorsitzender des Rates kommt dem Bürgermeister bei der Leitung der Ratssitzungen und der Handhabung der Ordnung in den Sitzungen zu. Gesetzliche Leitlinie ist dabei § 51 Abs. 1 GO, wonach der Bürgermeister die Verhandlungen leitet, die Sitzungen eröffnet und schließt (Ausübung der Sitzungsgewalt) sowie das Hausrecht ausübt.

Diese sogenannte Sitzungsgewalt hat den Zweck, die Funktionsfähigkeit des Rates durch einen von inneren und äußeren Störungen unbeeinflussten Sitzungsverlauf sicherzustellen. Von der Sitzungsgewalt des § 51 Abs. 1 GO nicht umfasst sind deshalb Störungen des Verwaltungsbetriebes, die nicht im Zusammenhang mit der Ratssitzung stehen.

Beispiel

Als dem Bürger B nach Rücksprache im Rathaus sein Sozialleistungsantrag abgelehnt wird, beleidigt er die dortige Sachbearbeiterin und wirft verärgert einige Bücher von ihrem Schreibtisch. Am nächsten Tag erscheint er in der Ratssitzung und will in der Einwohnerfragestunde (§ 48 Abs. 1 S. 3 GO) sein Anliegen vortragen. Statt dort aber eine entsprechende Frage zu stellen, zieht er in verleumderischer Form über die Sachbearbeiterin des Sozialamtes her und lässt sich trotz mehrfacher Ermahnungen des Bürgermeisters nicht davon abbringen. In beiden Fällen will der Bürgermeister von seinem Hausrecht Gebrauch machen.

Im Falle der Hausrechtsausübung in den Räumen des Sozialamtes ist die Ermächtigungsgrundlage nicht etwa § 51 Abs. 1 GO, weil die Störung nicht im Zusammenhang mit einer Ratssitzung erfolgt ist. Vielmehr greift die allgemeine Zuständigkeit für die Ausübung des Hausrechts für die Räume der Gemeindeverwaltung als Annexkompetenz zu § 62 Abs. 1 S. 2 GO aufgrund seiner Stellung als Chef der Verwaltung. Die Hausrechtsausübung im Rahmen der Ratssitzung kann demgegenüber auf § 51 Abs. 1 GO gestützt werden.

Adressaten der Sitzungsgewalt des Bürgermeisters können sowohl Ratsmitglieder als auch Dritte wie z.B. Medienvertreter oder sonstige Zuhörer sein. Tatbestandsvoraussetzung für ein Einschreiten ist in beiden Fällen eine Störung der Ordnung, die die Funktionsfähigkeit des Rates beeinträchtigt.

Definition

Definition: Ordnung

Unter der Ordnung sind alle Regelungen der Gemeindeordnung und der Geschäftsordnung sowie der Gesamtbestand der nach dem Demokratieprinzip anerkannten innerorganisatorischen Verhaltensregelungen zu verstehen, die für einen reibungslosen Geschäftsablauf notwendig sind und einen störungsfreien Beratungshergang und Sitzungsablauf gewährleisten.Vgl. hierzu auch schon OVG NRW Urteil vom 27.7.1990 – 15 A 709/88 –, juris, Rn. 10 ff.

Die Sitzungsordnung für die Mitglieder des Rates ergibt sich in erster Linie aus der Geschäftsordnung des Rates, denn in dieser regelt der Rat seine eigene Geschäftsführung (§ 47 Abs. 2 S. 1 GO). Verstöße hiergegen, die die Funktionsfähigkeit des Rates stören, können zu sitzungsleitenden Maßnahmen des Vorsitzenden führen. Als sitzungsleitende Maßnahmen stehen dem Bürgermeister die in der Geschäftsordnung des Rats normierten Mittel zur Verfügung. Er kann Ratsmitglieder bei erheblichen Störungen zur Ordnung rufen, mahnen oder ihnen das Wort entziehen. Insbesondere bei provokativen Äußerungen von Ratsmitgliedern kann ein Spannungsverhältnis zwischen der Sitzungsgewalt des Vorsitzenden nach § 51 Abs. 1 GO und dem statusrechtlich durch § 43 Abs. 1 GO geschützten Rederecht des Ratsmitglieds bestehen.

Der Vorsitzende kann gegen eine provokative Äußerung sitzungsleitend intervenieren, wenn diese die Funktionsfähigkeit des Rates stört. Hierbei ist zu berücksichtigten, dass die Ordnungsgewalt des Vorsitzenden in Anbetracht der Bedeutung des Rederechts kein Instrument zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der Debatte sein darf. Vielmehr ist der Rat das Forum des Austragens inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten. Die Ausübung der Sitzungsgewalt darf deshalb nicht der Sicherstellung der Korrektheit politischer Inhalte oder der Sicherung eines gesellschaftlichen Konsenses dienen. Die Grenze zur Verletzung der Ordnung im Rat ist erst dort erreicht, wo es sich nicht mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung handelt, sondern eine bloße Provokation im Vordergrund steht oder wo es um die schiere Herabwürdigung anderer oder die Verletzung von Rechtsgütern Dritter geht.OVG NRW Beschluss vom 16.5.2013 – 15 A 785/12 –, juris und Urteil vom 14.9.2017 – 15 A 2785/15 –, KommJur 2017, 465.

Beispiel

In der kreisfreien Stadt K ist vom Rat nach § 71 Abs. 1 S. 3 GO ein Beigeordneter zu wählen. In der Sitzung äußert sich Ratsmitglied R zum Auswahlverfahren und bezeichnet „resümierend“ den von den Fraktionen A und B vorgeschlagenen Bewerber C als „erneuten Klüngelkandidaten“. Hintergrund seiner Äußerung war das vorangegangene Scheitern einer anderen Beigeordnetenwahl, weil die Ernennung des seinerzeit ebenfalls von den Fraktionen A und B vorgeschlagenen Bewerbers von der zuständigen Aufsichtsbehörde (Bezirksregierung) wegen mangelnder Eignung beanstandet worden war (§ 16 Abs. 2 S. 2 LBG NRW). Oberbürgermeister O erteilt dem Ratsmitglied daraufhin einen auf die Geschäftsordnung gestützten Ordnungsruf wegen einer „ungebührlichen Äußerung“.

Das OVG NRW hielt die vom Ratsmitglied hiergegen im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits erhobene (Feststellungs-)Klage in der Sache für begründet. Der auf § 51 Abs. 1 GO in Verbindung mit der Geschäftsordnung gestützte Ordnungsruf beträfe bereits tatbestandlich keine „ungebührliche Äußerung“. Die vom Ratsmitglied verwandte Formulierung sei als politische Stellungnahme noch vom freien Rederecht nach § 43 Abs. 1 GO gedeckt. Sie sei im weiteren Kontext des Redebeitrags zu sehen, der sich bei gebotener Gesamtwürdigung damit auseinandersetze, dass – aus Sicht des zur Ordnung gerufenen Ratsmitglieds – das gesamte Auswahlverfahren bei der Beigeordnetenwahl nicht sachgerecht erfolgt gewesen sein soll. Die Äußerung sei daher eingebettet in den Zusammenhang einer inhaltlichen politischen Stellungnahme. Selbst wenn das Ratsmitglied sie mit Fehldeutungen verbunden oder auf unrichtige Tatsachenannahmen gestützt haben sollte, ändere dies nichts an dem Vorliegen einer inhaltlichen politischen Stellungnahme, die von der Mandatsausübungsfreiheit nach § 43 Abs. 1 GO noch gedeckt sei.

Beispiel

Auch im zugrundeliegenden Tatbestand einer Entscheidung des OVG NRW klagte in einer kreisfreien Stadt ein Ratsmitglied gegen einen Ordnungsruf des Oberbürgermeisters. Laut Sitzungsniederschrift ging es dabei um die Sanktionierung der folgenden Äußerung des Ratsmitgliedes im Zusammenhang mit der Wiedereinführung einer wahlrechtlichen Sperrklausel: „ja, da haben wir es ja endlich das wahlpolitische Ermächtigungsgesetz der Altparteien, die vor allem auf der Verteidigung ihrer Pfründe bedacht sind.“

Wie im vorhergehenden Beispielsfall hat das OVG NRW den auf § 51 Abs. 1 GO gestützten Ordnungsruf für rechtswidrig erachtet und eine Verletzung des freien Mandatsausübungsrechts des Ratsmitglieds (§ 43 Abs. 1 GO) ausgeschlossen. Es handele sich im maßgeblichen Gesamtkontext nicht um eine „ungebührliche Äußerung“. Zwar stelle der vom Ratsmitglied verwendete Begriff des „Ermächtigungsgesetzes“ erkennbar einen Bezug zum „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24.3.1933 her. Dieses diente der Aushebelung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien durch die Nationalsozialisten. Allerdings liege die Annahme fern, das Ratsmitglied habe den Befürwortern der wahlrechtlichen Sperrklausel unterstellt, die freiheitlich demokratische Grundordnung abschaffen zu wollen. Vielmehr habe das Ratsmitglied bei objektiver Lesart im Gesamtkontext seiner Wortmeldung in der Sache deutlich gemacht, dass er eine – wenn auch zugespitzte und polemische – Kritik an der Einführung einer Sperrklausel für Kommunalwahlen vorzubringen beabsichtige. Der sachlich-politische Bezug des Wortbeitrages sei vom Ratsmitglied erzeugt worden, in dem er dem Wort „Ermächtigungsgesetz“ das Adjektiv „wahlpolitisch“ vorangestellt habe. Auch der zur Unterstreichung seiner Kritik angeführte abwertende Zusatz, eigentlicher Hintergrund der Sperrklausel sei die „Verteidigung der Pfründe… der Altparteien“ sei noch ein von Rechts wegen hinzunehmender Bestandteil des politischen Streits im Rat.Nach OVG NRW Urteil vom 14.9.2017 – 15 A 2785/15 –, KommJur 2017, 465.

Abhängig vom Adressaten ist die Rechtsnatur entsprechender störungsbeseitigender Ordnungsmaßnahmen des Bürgermeisters zu beurteilen. Ergeht die sitzungsleitende Ordnungsmaßnahme gegenüber einem störenden Ratsmitglied, so fehlt ihr die für einen Verwaltungsakt nach § 35 S. 1 VwVfG NRW erforderliche Außenwirkung. Sofern allerdings ein Zuhörer betroffen ist, kann die vom Bürgermeister getroffene Einzelfallregelung den Rechtscharakter eines mündlich erlassenen Verwaltungsaktes haben.

Beispiel

Bürgermeister B erhält vom Schriftführer den Hinweis, dass der auf der Zuhörerbank sitzende Rundfunkreporter R ohne Genehmigung des Rates mit seinem Smartphone heimlich die Wortmeldungen aufnimmt. Er fordert R daraufhin auf, dies unverzüglich zu unterlassen. Diese Aufforderung erfüllt als Einzelfallregelung mit Außenwirkung den Charakter eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 35 S. 1 VwVfG NRW. Würde R dieser Aufforderung trotz Androhung eines Verweises aus dem Sitzungssaal nicht Folge leisten, könnte der Bürgermeister den Verwaltungsakt als ultima ratio zwangsweise durchsetzen. Der Verweis von störenden Zuhörern aus dem Sitzungssaal und zwangsweiser Wegführung durch gemeindliche Bedienstete stellt den Vollzug eines Verwaltungsaktes mit Zwangsmitteln dar.

Sofern das gleiche Verhalten von Ratsmitglied S während der Sitzung an den Tag gelegt wird, wäre eine entsprechende Aufforderung des Bürgermeisters B mangels Außenwirkung nicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren. Vielmehr sind sowohl S als Mitglied des Rates als auch B als Vorsitzender des Rates Teile des Gemeindeorgans Rat. Es handelt sich deshalb rechtlich um eine interne sitzungsleitende Maßnahme des Bürgermeisters.

Die Ausübung der Sitzungsgewalt nach § 51 Abs. 1 GO hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen und ist demgemäß gerichtlich auf Ermessensfehler hin überprüfbar (§ 114 VwGO). Der Bürgermeister hat dabei die vom Rat nach § 47 Abs. 2 GO erlassene Geschäftsordnung zu beachten. Es gilt für alle seine sitzungsleitenden Maßnahmen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

b) Widerspruch und Beanstandung, § 54 GO

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Grundsätzlich hat der Bürgermeister in seiner Funktion als „Chef der Verwaltung“ die Beschlüsse des Rates nach § 62 Abs. 2 S. 2 GO durchzuführen. Dies gilt auch dann, wenn er politisch anderer Auffassung als die Ratsmehrheit ist und selbst als Mitglied des Rates gegen den Beschluss gestimmt hat. Der Bürgermeister darf auch den Inhalt der durchzuführenden Beschlüsse nicht ändern.

Handelt es sich um einen rechtswidrigen Beschluss, so ist dieser vom Bürgermeister nach § 54 Abs. 2 S. 1 GO zu beanstanden. Sofern er den Beschluss (nur) für zweckwidrig hält, so kann er dem Beschluss spätestens am dritten Tag nach Beschlussfassung widersprechen (§ 54 Abs. 1 S. 1 GO). Ist ein Beschluss weder beanstandet noch von ihm widersprochen worden, so muss er durchgeführt werden. Der Rat überwacht die Durchführung und kann sie gegebenenfalls im Wege des Kommunalverfassungsstreits gerichtlich durchsetzen.

Expertentipp

Nicht selten wird in der Klausur ein Ratsbeschluss dargestellt und danach gefragt, was der Bürgermeister hiermit zu veranlassen hat. Dies hängt dann davon ab, ob der Ratsbeschluss rechtmäßig oder rechtswidrig ist, was näher zu prüfen ist. Ist er rechtmäßig, so hat der Bürgermeister ihn nach § 62 Abs. 2 S. 2 GO durchzuführen, im Falle seiner Rechtswidrigkeit muss der Bürgermeister ihn gemäß § 54 Abs. 2 S. 1 GO beanstanden.

aa) Beanstandung

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Die Beanstandung des Bürgermeisters nach § 54 Abs. 2 S. 1 GO hat in materieller Hinsicht die Rechtswidrigkeit des Ratsbeschlusses zur Voraussetzung. Wenn der Beschluss des Rates rechtswidrig ist, so besteht eine Pflicht zur Beanstandung. Der Bürgermeister würde deshalb eine Dienstpflichtverletzung begehen, wenn er den Beschluss in diesem Falle nicht beanstandet. Daran können sich bei Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) zum einen disziplinarrechtliche Folgen ergeben und zum anderen haftungsrechtliche Folgen anknüpfen.

Beispiel

Die kreisangehörige Stadt N hat ein größeres Grundstück, welches einem Investor für den Bau und Betrieb einer Skihalle zur Verfügung gestellt werden soll. Nachdem bereits Einigkeit mit dem Investor erzielt worden ist, fällt auf, dass das Liegenschaftsamt der Stadt N sich um 100 qm vermessen hat, die statt der Stadt einem Landwirt gehören. Da eine Enteignung des Landwirtes für das private Investitionsvorhaben rechtlich ausscheidet und um das Investitionsvorhaben nicht zu gefährden, ist die Stadt N bereit, an den Landwirt das Fünfzigfache des Verkehrswertes für die Fläche zu zahlen. Von dem sich anbahnenden Geschäft erfährt der Landrat als untere Verwaltungsbehörde (Aufsichtsbehörde der Stadt N) und bittet den Bürgermeister der Stadt N schriftlich um einen Bericht. Hierbei weist der Landrat vorsorglich darauf hin, dass die Vereinbarung eines solchen Grundstückskaufvertrages seiner Rechtsansicht nach gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 75 Abs. 1 S. 2 GO verstoßen dürfte und zu unterlassen sei. Der Bürgermeister sieht das Investitionsvorhaben durch die drohende Intervention der Aufsichtsbehörde als gefährdet an und legt den Rat in einer Sondersitzung den Kaufvertrag vor. Dieser wird auch inhaltlich unverändert beschlossen und direkt im Anschluss an die Sitzung notariell beurkundet. Da mit der notariellen Beurkundung der Kaufvertrag wirksam abgeschlossen worden ist und der Vollzug damit nicht mehr aufsichtsrechtlich verhindert werden kann, fragt der Landrat, auf welchen Weg er jetzt noch gegen den Bürgermeister vorgehen kann?

Sofern man den Ratsbeschluss wegen Verstoßes gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 75 Abs. 1 S. 2 GO als rechtswidrig ansähe, wäre der Bürgermeister seiner Beanstandungspflicht nach § 54 Abs. 2 S. 1 GO nicht nachgekommen. Da dies in Kenntnis der rechtlichen Bedenken durch den Landrat geschehen ist, kann man auch von einer schuldhaften, zumindest fahrlässigen Verursachung sprechen. Berücksichtigt man bei einer solchen Annahme des Weiteren, dass der Stadt N ein Schaden entstanden sein könnte in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem gerade noch angemessenen Grundstückswertes im Vergleich zu dem zu zahlenden fünfzigfachen Verkehrswert, so kommen für den Landrat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens zwei Handlungsoptionen in Betracht:

Zum einen könnte er den allgemeinen Vertreter des Bürgermeisters nach § 123 Abs. 1 GO i.V.m. § 53 Abs. 2 Buchstabe a GO anweisen, zu prüfen, ob der Stadt N gegen ihren Bürgermeister wegen grob fahrlässiger bzw. vorsätzlicher Verletzung seiner Dienstpflicht aus § 54 Abs. 2 S. 1 GO ein beamtenrechtlicher Regressanspruch nach § 48 S. 1 BeamStG zusteht und diesen bejahendenfalls geltend machen.

Des Weiteren könnte der Landrat als zuständige Disziplinarbehörde gegen den Bürgermeister wegen schuldhafter Dienstpflichtverletzung ein Disziplinarverfahren eröffnen.

In beiden Verfahren kommt es also maßgeblich darauf an, ob der Ratsbeschluss auch in Ansehung der „Rettung des Gesamtinvestitionsvorhabens“ und unter Berücksichtigung der geringen Fläche von nur 100 qm tatsächlich gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 75 Abs. 1 S. 2 GO verstoßen hat und ob von einem schadenbegründenden Verschulden des Bürgermeisters ausgegangen werden kann. Für beide Fragestellungen bedarf es einer weiteren Ermittlung und Prüfung des zugrundeliegenden Sachverhaltes. Es ist hierbei zugunsten des Bürgermeisters zu berücksichtigen, dass der Stadt bei der Anwendung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit im Einzelfall ein weitgehender Entscheidungsspielraum zuzubilligen ist. Unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ist eine Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie mit den Grundsätzen vernünftiger Wirtschaft schlechthin unvereinbar bzw. nicht mehr vertretbar ist. Unter Berücksichtigung einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung dürfte der für sich genommen sicher überteuerte Grundstückkauf nach den derzeitigen Sachverhaltsermittlungen diese Rechtswidrigkeitsschwelle (der fehlenden Vertretbarkeit) noch nicht überschritten haben.

Ein Beschluss des Rates ist rechtswidrig, wenn er das geltende Recht verletzt. Zum geltenden Recht gehört nicht nur das gesamte Bundes- und Landesrecht einschließlich des Privatrechts, sondern auch das von der Gemeinde selbst gesetzte Recht.Vgl. im Einzelnen Bätge in Bogner, 9.3.1.1.

Beispiel

Aufgrund zahlreicher Einwohnerproteste gegen die Heranziehung der Anlieger zu Ausbaubeiträgen überlegt der Rat, die geltende Beitragssatzung für ein konkretes Ausbauvorhaben trotz Eingreifens aller satzungsmäßigen Tatbestandsmerkmale „einmalig nicht anzuwenden“. Der Rat ist aber nicht berechtigt, durch einen einfachen „Nichtanwendungsbeschluss“ eine Beitragssatzung nicht zur rechtlichen Entfaltung kommen zu lassen (zum Beispiel hinsichtlich der Erhebung von Ausbaubeiträgen). Zudem liegt ein Verstoß gegen § 77 Abs. 2 GO vor, wonach die Gemeinde den zur Aufgabenwahrnehmung zu finanzierenden Aufwand zunächst über selbst zu bestimmende Entgelte und erst dann aus Steuern finanzieren darf. Der Bürgermeister müsste also einen solchen Beschluss beanstanden.

Da bei Ermessensentscheidungen eine Rechtspflicht zur pflichtgemäßen Ermessensausübung besteht und Ermessensfehler zur Rechtswidrigkeit des Beschlusses führen, erstreckt sich die Beanstandungspflicht auch auf diese.

Beispiel

Wenn die Ermessensentscheidung der Umbenennung einer Straße gegen Grundrechte der Anwohner verstößt, führt dies zur Rechtswidrigkeit des Beschlusses und damit zur Beanstandungspflicht des Bürgermeisters.

Für Ratsbeschlüsse, die an einer rechtswidrigen Mitwirkung Befangener (§§ 50 Abs. 6, 43 Abs. 2 i.V.m. § 31 GO) leiden, sind zwei Sonderregelungen zu beachten:

1.

Wegen der Vorschrift des § 31 Abs. 6 GO sind solche Beschlüsse zwar verfahrensfehlerhaft, aber nur dann rechtswidrig, wenn die Mitwirkung des Befangenen für das Abstimmungsergebnis entscheidend war. Ist dies nicht der Fall und bleibt der Beschluss damit wirksam, so besteht nach zu bevorzugender Meinung auch keine Beanstandungspflicht des Bürgermeisters.Vgl. Wansleben in Held/Winkel/Wansleben, Kommunalverfassungsrecht NRW, § 31 Erl. 8.1b a.A. Smith in Kleerbaum/Palmen, § 31 Erl. IX mit weiteren Nachweisen für beide Auffassungen. Dies folgt bereits daraus, dass § 31 Abs. 6 GO seine Rechtssicherheit stiftende Funktion weitgehend einbüßen würde, wenn der Bürgermeister immer beanstanden müsste, sobald ein befangenes Ratsmitglied – auch ohne Entscheidungsrelevanz – an einem Ratsbeschluss mitgewirkt hätte. Demgegenüber muss die „erzieherische Wirkung“ der Beanstandung zurückstehen.     

Beispiel

Der Rat beschließt einstimmig mit 51 Ja-Stimmen den Erlass eines Bebauungsplans. Kurz nach der Ratssitzung erfährt der Bürgermeister, dass Ratsmitglied R in dem Gebiet ein Grundstück hat und deshalb befangen ist (§ 43 Abs. 2 i.V.m. § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GO). Da die Mitwirkung des R nicht für das Abstimmungsergebnis entscheidend ist, muss der Bürgermeister den Ratsbeschluss nicht beanstanden.

2.

Selbst wenn § 31 Abs. 6 GO aber einschlägig sein sollte – also die Mitwirkung des befangenen Ratsmitgliedes für das Abstimmungsergebnis entscheidend war – so kann der Bürgermeister nach Ablauf der in § 54 Abs. 4 GO normierten besonderen Ausschlussfristen die Beanstandung aus Rechtssicherheitsgründen nicht mehr vornehmen.

Die Beanstandung muss in formeller Hinsicht schriftlich in Form einer begründeten Darlegung erfolgen. Adressat der Beanstandung ist der Rat. Anders als bei beim Widerspruchsrecht ist für die Beanstandung keine Ausübungsfrist vorsehen. Die Aussetzungsentscheidung hat nach § 54 Abs. 2 S. 2 GO aufschiebende Wirkung. Es ist sodann eine erneute Beschlussfassung des Rates herbeizuführen. Bleibt der Rat bei seinem Beschluss, ist eine Entscheidung der Aufsichtsbehörde herbeizuführen. Hält die Aufsichtsbehörde die Beanstandung für rechtmäßig, den Beschluss mithin für rechtswidrig, so kann sie ihn nach § 122 Abs. 1 S. 2 GO aufheben. Hält die Aufsichtsbehörde den Beschluss des Rates für rechtmäßig, hat sie die Beanstandung zurückzuweisen. In diesem Fall entfällt die aufschiebende Wirkung und der Bürgermeister ist verpflichtet, den Beschluss durchzuführen. Er kann hiergegen kein Rechtsmittel einlegen. Der Bürgermeister ist seinen kommunal- und beamtenrechtlichen Pflichten nachgekommen und kann deshalb in einem solchen Fall nicht mehr haftungs- und disziplinarrechtlich belangt werden.

bb) Widerspruch

221

Nach § 54 Abs. 1 S. 1 GO ist im Wege des Widerspruchs eine Aussetzung des Beschlusses durch den Bürgermeister auch unterhalb der Schwelle seiner Rechtswidrigkeit möglich. Anders als bei rechtswidrigen Beschlüssen, bei denen eine Pflicht des Bürgermeisters zur Beanstandung besteht, steht seine Entscheidung, dem Beschluss zu widersprechen, in seinem Ermessen. Einzige materielle Voraussetzung ist hierfür, dass er subjektiv der Ansicht ist, eine Gefährdung des Wohls der Gemeinde sei gegeben. Beharrt der Rat auf seine Entscheidung, so hat es damit – anders als bei der Beanstandung – sein Bewenden.

Beispiel

Der Rat der im Bergischen Land gelegenen Wintersportgemeinde W beschließt die Errichtung und den Betrieb eines weiteren gemeindlichen Skilifts. Zwar verstößt der Beschluss unter Berücksichtigung der konkreten Einzelumstände nicht gegen haushaltsrechtliche Vorschriften bzw. gegen die gesetzlichen Marktzutrittsbeschränkungen der wirtschaftlichen Gemeindetätigkeit nach den §§ 107 ff. GO. Der Bürgermeister meint aber, dass ein weiterer Skilift „überdimensioniert“ sei und nicht hinreichend ausgelastet werde, so dass die Gemeinde auf den „Kosten teilweise sitzen“ bleibe. Er hat deshalb nicht nur gegen die Ratsmehrheit gestimmt, sondern auch dem Ratsbeschluss formal widersprochen.

Der Widerspruch bedarf wie die Beanstandung einer schriftlichen Begründung. Damit das Gebot der zügigen Umsetzung rechtmäßiger Beschlüsse der Kommunalvertretung durch den Hauptverwaltungsbeamten gewahrt bleibt, ist das Widerspruchsrecht nur innerhalb von drei Tagen nach der Beschlussfassung möglich (§ 54 Abs. 1 S. 1 GO). Adressat des Widerspruchs ist der Rat. Ebenso wie die Beanstandung führt auch der frist- und formgerechte Widerspruch zu einer aufschiebenden Wirkung des Beschlusses. Eine dauerhafte Blockade der Entscheidung des Rates ist damit aber nicht möglich. Der Rat hat vielmehr die Möglichkeit, innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach dem Widerspruch durch erneuten Beschluss den Widerspruch zu überwinden. Mit dem zweiten (bestätigenden) Beschluss endet die aufschiebende Wirkung des Widerspruches. Der Bürgermeister ist danach verpflichtet, den Ratsbeschluss auszuführen.

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