Inhaltsverzeichnis
2. Vorbehaltlos gewährleistete Freiheitsrechte
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Im Gegensatz zu den unter Gesetzesvorbehalt stehenden Freiheitsrechten werden einige Freiheitsrechte nach ihrem Wortlaut vorbehaltlos gewährleistet (z.B. Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorbehaltlos verbürgten Freiheitsrechte schrankenlos garantiert sind. Eine generelle Beschränkungsmöglichkeit von Grundrechten gebietet bereits der Grundsatz der Einheit der Verfassung.
Vgl. Manssen Staatsrecht II Rn. 166. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre unterliegen die vorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsrechte verfassungsimmanenten Schranken in Gestalt anderer verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen.Vgl. BVerfGE 28, 243; vgl. auch Hufen Staatsrecht II § 9 Rn. 30 ff. Das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht kann somit durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Dies gilt jedoch nicht für die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Sie ist das einzige Grundrecht, das auch nicht durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar ist. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG („unantastbar“).157
Als kollidierendes Verfassungsrecht kommen insbesondere Grundrechte Dritter und sonstige Rechtsgüter von Verfassungsrang in Betracht. Zu letzteren gehören z.B. Verfassungsgrundsätze (etwa die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Art. 20 Abs. 1 GG) oder Staatszielbestimmungen (etwa der Tierschutz in Art. 20a GG) und nach nicht unbestrittener Ansicht des Bundesverfassungsgerichts
Vgl. BVerfGE 53, 30. auch reine Kompetenznormen (z.B. Art. 70 ff. GG). Ein weiteres, wichtiges und prüfungsrelevantes Beispiel für kollidierendes Verfassungsrecht ist Art. 7 Abs. 1 GG. Diese Bestimmung garantiert die Schulhoheit des Staates. Sie berechtigt die öffentliche Gewalt u.a., die Ausbildungs- und Unterrichtsziele sowie die Ausbildungs- und Unterrichtsinhalte festzulegen.Beispiel
Ein Landesgesetzgeber ergänzt sein Schulgesetz um eine Bestimmung, nach der Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen nur anlässlich religiöser Feiertage vom Unterricht befreit werden dürfen. Diese Befreiung darf nicht für mehr als zwei Kalendertage pro Schuljahr erteilt werden. Mit dieser neuen Regelung soll insbesondere die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gefördert werden. – Das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit kann nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Als solches kommt die in Art. 7 Abs. 1 GG gewährleistete staatliche Schulhoheit des Staates in Betracht.
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Zwischen den widerstreitenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen ist im Wege der praktischen Konkordanz ein gerechter Ausgleich herzustellen mit dem Ziel, die widerstreitenden Verfassungsrechtsgüter zur jeweils optimalen Wirksamkeit zu bringen. In unserem Beispiel oben (Rn. 157) könnte die in Art. 7 Abs. 1 GG gewährleistete staatliche Schulhoheit die Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler einschränken. Der Staat ist kraft seiner Schulhoheit u.a. berechtigt, die Ausbildungs- und Unterrichtsziele und die Ausbildungs- und Unterrichtsinhalte festzulegen sowie das Unterrichtswesen zu organisieren. Hierunter fällt auch die Befugnis, zur Sicherstellung eines geregelten Schulablaufs und zur besseren Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund Regelungen zu treffen, wann Unterrichtsbefreiungen aus religiösen Gründen erteilt werden dürfen. Dieser Befugnis des Staates steht das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit gegenüber. Dieses garantiert den Schülerinnen und Schülern, einen Glauben zu haben, ihn zu bekennen und nach ihm zu leben. Daher kann ihre Grundrechtsausübung die Befreiung von bestimmten verpflichtenden Schulveranstaltungen erforderlich machen. Diese verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter sind im Wege der praktischen Konkordanz in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Der grundrechtlichen Gewährleistung der Glaubensfreiheit als einem sehr persönlichen, der Menschenwürde nahestehenden Grundrecht wird nicht Genüge getan, wenn Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen allein anlässlich religiöser Feiertage vom Unterricht befreit werden können. Die Schulhoheit muss gegenüber der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen Glaubensfreiheit zurücktreten. Das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit wird somit durch die staatliche Schulhoheit unangemessen eingeschränkt und demnach verletzt.