Inhaltsverzeichnis
A. Allgemeines zu dem Verfahren vor dem EuGH
I. Die Auslegungsregeln
1. Die klassischen Auslegungsmethoden
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Wie im nationalen Recht werden auch von den europäischen Gerichten
Mit den europäischen Gerichten sind der EuGH, das Gericht und das EuGD gemeint. die klassischen Auslegungsmethoden nach dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, der Systematik und dem Zweck der Norm eingesetzt.Arndt/Fischer/Fetzer Europarecht S. 68. Die Bedeutung dieser Auslegungsmethoden ist allerdings wegen des immer enger werdenden Zusammenschlusses der europäischen Völker als Ziel der Europäischen Union unterschiedlich groß. Allgemein bevorzugen die europäischen Gerichte diejenigen Interpretationsmethoden, die die Verwirklichung der Vertragsziele am meisten fördern und die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union sichern. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze wurden durch die wertende Rechtsvergleichung gewonnen.Thiele Europarecht S. 93 f.
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Bei der systematischen Auslegung wird die Bedeutung einer Norm an der Stellung im Gemeinschaftsrechtsgefüge festgemacht. Hieraus wurde abgeleitet, dass Grundsatzregelungen weit und Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind.
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Die Auslegung nach dem Wortlaut hat eine geringere Bedeutung, da das Unionsrecht in allen dreiundzwanzig Amtssprachen abgefasst wird. Zwar sollen alle Sprachfassungen verbindlich sein, aber bei dieser Vielfalt von Sprachfassungen kommt es auch zu sprachlichen Abweichungen. Als Interpretationsmethode muss dann die Auslegung nach dem Normzweck hinzutreten.
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Bei dieser teleologischen Auslegung nach dem Normzweck werden die unbestimmten und interpretationsbedürftigen Sekundärrechtsbestimmungen des Unionsrechts im Lichte der Ziele des EUV und des AEUV betrachtet. Zur normzweckorientierten Auslegung gehört auch diejenige nach dem effet utile. Hierbei werden Unionsrechtsnormen nach dem Gedanken der praktischen Wirksamkeit ausgelegt. Es ist möglichst die Auslegung zu wählen, die den Zweck einer Norm am Effektivsten verwirklicht.
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Die historische Auslegung nach der Entstehungsgeschichte hat einen geringeren Stellenwert, da Protokollerklärungen der am Rechtsetzungsverfahren beteiligten Gemeinschaftsorgane – mit Ausnahme der Stellungnahme des Europäischen Parlamentes – und der Mitgliedstaaten oftmals vertraulich behandelt werden.
Arndt/Fischer/Fetzer Europarecht S. 68.220
Schließlich soll noch die autonome Auslegung genannt werden. Die unionsrechtlichen Begriffe werden autonom vom nationalen Recht der Mitgliedstaaten ausgelegt. Nur dadurch kann eine einheitliche Interpretation der Unionsrechtsbegriffe gewährleistet werden.
2. Die Rechtsfortbildung durch die europäischen Gerichte
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Expertentipp
Wiederholen Sie an dieser Stelle die Darstellung zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie in Rn. 101.
Das Unionsrecht bedarf der Rechtsfortbildung im besonderen Maße. Insbesondere die Gründungsverträge in ihrer heutigen Fassung enthalten als Grundlage für eine Rechtsordnung der neu gegründeten europäischen Gemeinschaften zwangsläufig viele Lücken, die aus rechtsstaatlichen Gründen zu schließen sind. Zwar ist es primär die Aufgabe der an der Rechtsetzung beteiligten Unionsorgane, die unionsrechtlichen Lücken zu füllen. Werden diese aber nicht tätig, so sollen die europäischen Gerichte in ihrer Rechtsprechung diese Lücken rechtsfortbildend füllen können.
Streinz Europarecht Rn. 623 f.222
Die unmittelbare Anwendbarkeit von nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinien in säumigen Mitgliedstaaten ist unter engen Voraussetzungen vom EuGH im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt worden, weil die Wirksamkeit der Unionsrechtsordnung dieses Mechanismus bedarf. Ohne die unmittelbare Wirkung nicht rechtzeitig umgesetzter Richtlinien hätte es für die jeweiligen säumigen Mitgliedstaaten keine Konsequenzen, wenn sie die mehrheitlich im Rat beschlossenen Richtlinien nicht rechtzeitig oder nicht vollständig in nationales Recht umsetzen. Die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV gegen einen säumigen Mitgliedstaat einzuleiten, ist zur Sicherung eines einheitlich geltenden Unionsrechts nicht ausreichend. Durch die Klageerhebung wird die Verzögerung bei der Richtlinienumsetzung in nationales Recht nicht verhindert. Der EuGH erlässt nur ein Feststellungsurteil. Die Umsetzung bleibt weiterhin in der Verantwortung des säumigen Mitgliedstaates.
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Der EuGH hatte den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch des Bürgers gegen den Mitgliedstaat nach nationalem Staatshaftungsrecht in der Francovich-Entscheidung
Sie finden die Francovich-Entscheidung in Rn. 102–103. entwickelt, der nicht fristgemäß eine Richtlinie umgesetzt hatte. Aber schon in dieser Entscheidung hatte der EuGH den Staatshaftungsanspruch als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts bezeichnet, der auch bei anderen Verstößen geltend gemacht werden könne. Dieser allgemeine Staatshaftungsanspruch dient dem Zweck, die volle Wirksamkeit und die nützliche Wirkung der Unionsrechtsordnung zu sichern.224
Expertentipp
Wiederholen Sie an dieser Stelle die Ausführungen zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Rn. 191–192.
Gem. Art. 5 Abs. 2 EUV wird die Union innerhalb der Grenzen der in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. Die Unionsorgane wenden gem. Art. 5 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an.
Hinweis
In dem Umfang, in dem die europäischen Gerichte, überwiegend der EuGH selbst, Rechtsfortbildung betreiben, gibt es hierzu in der Regel keine diese rechtfertigende Kompetenznorm in den Unionsverträgen.
II. Die fünf Verfahrensabschnitte
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Die Verfahren vor den europäischen Gerichten lassen sich in die folgenden fünf Verfahrensabschnitte einteilen.
Natürliche und juristische Personen müssen sich vor den europäischen Gerichten von einem Rechtsanwalt vertreten lassen.
Art. 19 Abs. 3 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs vom 26.2.2001, ABl. Nr. C 80, 53; BGBl. 2006 II, 1146. Die Mitgliedstaaten sowie die Unionsorgane werden vor dem EuGH durch einen Bevollmächtigten vertreten, der für jede Sache bestellt wird. Der Bevollmächtigte kann sich der Hilfe eines Rechtsbeistandes oder eines Rechtsanwalts bedienen.Art. 19 Abs. 1 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs vom 26.2.2001, ABl. Nr. C 80, 53; BGBl. 2006 II, 1146.