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Strafrecht Besonderer Teil 1 - 1. Die Voraussetzungen des § 212

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Strafrecht Besonderer Teil 1

1. Die Voraussetzungen des § 212

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Zunächst muss wie bei § 212 auch der Täter durch irgendeine Handlung kausal und objektiv zurechenbar einen Erfolg herbeiführen.

Expertentipp

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Ein wesentlicher und problematischer Prüfungspunkt, dem Sie in der Klausur Ihre volle Aufmerksamkeit schenken sollen, ist die objektive Zurechnung. An dieser Stelle klären Sie die Frage, ob die Handlung des Täters eine täterschaftliche Handlung und damit grundsätzlich strafbar gem. § 216 oder aber nur eine straflose Unterstützungshandlung eines Teilnehmers an einem Suizid ist, der keine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat darstellt. Grundsätzlich gilt: ist der Tod das Ergebnis einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Rechtsgutsträgers, dann ist das Handeln des Täters eine straflose Unterstützung.

So einfach es sich anhört, so kompliziert kann es im Einzelfall werden. Dazu folgendes Beispiel:

Beispiel

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O leidet schon seit Jahren unter erheblichen körperlichen Einschränkungen, u.a. auch Diabetes und ist seit 2019 bettlägerig. Aufgrund der zunehmenden, schweren Schmerzen denkt er seit Monaten über einen Suizid nach. Seine Ehefrau E, eine ehemalige Krankenschwester, versorgt ihn und verabreicht ihm auch das Insulin, was A selbst aufgrund seiner zittrigen Hände nicht kann. Als der Zustand schließlich unerträglich wird, beschließt er am 07. August 2019, dass er nun sterben wolle. Gegen 23.00 Uhr bittet er E, ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben. Diese nimmt er zusammen mit einem Glas Wasser alsdann ein. Zudem bittet er E, ihm sämtliche Insulinspritzen zu verabreichen, damit er auch sicher den Tod findet. Dieser Bitte kommt E nach und verabreicht ihm insgesamt 6 Spritzen. Nach Setzen der Spritze ist A noch für einige Minuten bei Bewusstsein, bevor er einschläft. Gegen 3.30 Uhr stellt E den Tod fest. O verstirbt an der Überdosis Insulin, wäre aber auch an den Tabletten verstorben.

Hier könnte sich E gem. § 216 strafbar gemacht haben, indem sie O die Spritzen setzte. Die Handlung hat kausal zum Tod geführt. Unerheblich ist, dass der Tod auch infolge der Einnahme der Tabletten eingetreten wäre, denn es kommt nur auf den Erfolg „in seiner konkreten Gestalt“ an. Fraglich ist ober, ob E der Erfolg zugerechnet werden kann. Das wäre dann nicht der Fall, wenn es sich um eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des O handeln würde. Der Umstand, dass E die Spritzen gesetzt hat, weil O es nicht mehr konnte, scheint gegen eine Selbstgefährdung zu sprechen. Gleichwohl hat der BGHBGH NJW 2022, 3021 aufgrund einer normativen Betrachtung (dazu später mehr) diese Handlung der E nur zu einer teilnehmenden Handlung an einem eigenverantwortlichen Suizid umgedeutet und darauf hingewiesen, dass § 216 im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG verfassungskonform auszulegen sei:

„Der Senat neigt zu der Auffassung, dass die vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze auf § 216 Abs. 1 StGB übertragbar sind, weil diese Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreift…..Er hält es für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, wonach jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt..“

Bitte beachten Sie, dass der BGH bei Vorsatzdelikten nicht mit der „objektiven Zurechnung“ arbeitet, sondern die Probleme an anderen Stellen darstellt. Im obigen Beispielsfall hat er die Abgrenzung „eigenverantwortliche Selbsttötung oder einverständliche und damit grundsätzlich strafbare Fremdtötung“ bei der Tathandlung diskutiert, indem er nach der Täterqualität der Handlung gefragt hat. Beim Unterlassen von Rettungsmaßnahmen, mit denen wir uns unter Rn. 109. befassen werden, hat er danach gefragt, ob aus der Garantenstellung eine Garantenpflicht erwächst und bei der mittelbaren Täterschaft diskutiert er die Frage bei der Tatherrschaft. In allen Fällen dreht es sich aber um den zentralen Aspekt der „eigenverantwortlichen Selbstgefährdung“

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Schauen wir uns nun an, was eine zur Straflosigkeit eines Beteiligten führende, eigenverantwortliche Selbstgefährdung voraussetzt. Dies ist wie so oft streitig.

Die teilweise in der Literatur vertretene „Schuldlösung“Dölling Maiwald-FS S. 119; Roxin 140 Jahre GA-FS S. 177 begreift den Rechtsgutträger als „Täter gegen sich selbst“ und zieht die § 3 JGG, §§ 19, 20, 35 StGB analog heran und verweist darauf, dass aus den Exkulpationsregeln hervorgehe, bis zu welcher Grenze jeder für sein Verhalten einzustehen habe. Es liegt eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vor, wenn das Opfer, hätte es einen Dritten getötet, strafbar gewesen wäre. An der Eigenverantwortlichkeit fehlt es mithin, wenn das Opfer ein unmündiger Jugendlicher, geistig Kranker, seelisch Gestörter oder ein Lebensmüder ist, der sich in einer Notstandslage befindet.

Die von der herrschenden Meinung vertretene „Einwilligungslösung“Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT I Rn. 117; Lackner/Kühl Vor § 211 rn.13a; BGH NJW 2022, 3021 begreift den Rechtsgutträger als „Opfer seiner selbst“ und orientiert sich an den Regeln der rechtfertigenden Einwilligung. Danach sollen die Anforderungen, die an eine Verfügung über das eigene Leben zu stellen sind, nicht geringer sein als bei einer Verfügung beispielsweise über die körperliche Integrität. Besondere Beachtung findet hier im Gegensatz zur Schuldlösung auch die Frage, inwieweit der Wille des Sterbenden unter Willensmängel leidet. Voraussetzung der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung ist mithin,

  • dass das Opfer verantwortungsfähig ist, was der Fall ist, wenn es aufgrund seiner geistigen und sittlichen Reife in der Lage ist, die Tragweite seines Handelns zu erkennen und entsprechend zu handeln, und
  • dass die Entscheidung keine wesentlichen Willensmängel aufweist, was zu bejahen ist, wenn sie weder durch Täuschung noch durch Drohung oder Zwang zustande gekommen ist. Umstritten ist, ob ein Irrtum, der nicht rechtsgutsbezogen ist, Auswirkungen hat auf die Eigenverantwortlichkeit (dazu ausführlich „Strafrecht AT I“ Rn. 211).

Hinweis

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Die Einwilligungslösung schützt den Rechtsgutträger anders als die Schuldlösung auch vor täuschungsbedingten Manipulationen. Erklärt ein Täter dem Opfer wahrheitswidrig, es sei unheilbar krank und werde schmerzvoll sterben um es zu einer Selbsttötung zu motivieren, dann war die Entscheidung des Opfers nicht „frei von Täuschung“, und seine Entscheidung mithin nicht „eigenverantwortlich“.

Neben der in dieser Weise zu prüfenden Eigenverantwortlichkeit muss darüber hinaus auch eine nach den Regeln der Tatherrschaft zu bestimmende „Selbstgefährdung“ vorliegen. BGH und h. Lit. fragen danach, wer den unmittelbar lebensbeendenden Akt beherrscht.Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT I Rn. 121 ff; nach anderer Auflassung ist auch schon derjenige Täter, der bei einer wertenden Gesamtbetrachtung als Mittäter angesehen werden kann: Herzberg NStZ 2004, 1 Beherrscht der Rechtsgutträger die letzte zum Tode führende Bedingung, dann handelt es sich um eine Selbstgefährdung. Im obigen Beispiel hätte das bedeutet, dass E die Tatherrschaft inne hatte, da O nicht in der Lage war, sich die Spritzen zu setzen. Mithin hätte eine Selbstgefährdung abgelehnt und eine Fremdgefährdung bejaht werden müssen. Der BGHBGH NJW 2022, 3021 hat das Geschehen aber normativ umgedeutet und folgendes ausgeführt:

„Danach beherrschte nicht die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen, sondern ihr Ehemann. Dem steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihm das todesursächliche Insulin durch aktives Tun verabreichte. Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich … (das Opfer) in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls „als Zombie zurückkehren“. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein … (das Opfer) bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulin-spritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass … (das Opfer) sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. Dies gilt umso mehr, als … (das Opfer) das zu seinem Tod führende Geschehen auch noch beherrschte, nachdem die Angeklagte ihm das Insulin injiziert und ihren aktiven Beitrag damit abgeschlossen hatte. Er blieb anschließend noch eine gewisse Zeit lang bei Bewusstsein und sah eigenverantwortlich davon ab, Gegenmaßnahmen einzuleiten, etwa die Angeklagte aufzufordern, den Rettungsdienst zu alarmieren. Er ließ sich im Gegenteil von ihr versichern, dass sie ihm „alle vorrätigen Spritzen“ gesetzt hatte."

Wesentlich für die Bejahung der Selbstgefährdung ist für den BGH mithin auch der Umstand, dass das Opfer nach Vornahme der Tathandlung durch den Beteiligten noch die Möglichkeit der Einflussnahme hatte. Fraglich ist, wie die Entscheidung des BGH ausgefallen wäre, wäre die Bewusstlosigkeit unmittelbar nach dem Setzen der Spritze eingetreten.

Beispiel

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Der an einer aufsteigenden Muskellähmung erkrankte O möchte seinem Leben ein Ende setzen. A ist einwilligungsfähig und hat seine Entscheidung frei von Willensmängeln getroffen. Er ist aber nicht in der Lage, die Handlung auszuführen, weswegen A die in wenigen Sekunden wirkende, tödliche Spitze setzt.

Bislang wäre das eine gem. § 216 verbotene, aktive Sterbehilfe gewesen. Da der BGH aber die bereits erwähnte verfassungskonforme Auslegung des § 216 in den Fällen anmahnt, in denen der Sterbewillige sich nicht selbst helfen kann, könnte es unter diesen Voraussetzungen auch insoweit zu einer Straflosigkeit kommen.

Auch in der Literatur wird die Straflosigkeit einer aktiven Sterbehilfe in Ausnahmefällen diskutiert. Sie Straflosigkeit soll wie bei der indirekten Sterbehilfe (dazu mehr unter Rn. 96) entweder über eine teleologische Restriktion des Tatbestands oder aber über § 34 analog erreicht werden.Zum Meinungsstand seihe Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT I Rn. 143

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