Inhaltsverzeichnis
6. Teil Wahlfeststellung
A. Überblick
215
Im deutschen Strafrecht gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“. Danach ist die Verurteilung des Angeklagten nur dann möglich, wenn zur Überzeugung des Gerichtes feststeht, dass der Täter die ihm vorgeworfene Straftat auch begangen hat. Sofern Zweifel verbleiben, muss von der für den Angeklagten günstigsten Möglichkeit ausgegangen werden.
Hinweis
Hinsichtlich der Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals muss nach dem „in dubio pro reo“ Grundsatz bei Unklarheiten davon ausgegangen werden, dass der Täter dieses Merkmal nicht verwirklicht hat. Ist z. B. tatsächlich nicht ermittelbar, ob der Täter mit der Möglichkeit der Verwirklichung eines objektiven Tatbestandsmerkmals gerechnet hat, dann muss zu seinen Gunsten davon ausgegangen werden, dass er nur fahrlässig gehandelt hat.
Das gleiche gilt auch bei Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen. Hier kann zugunsten des Täters angenommen werden müssen, dass er z.B. objektiv einem Angriff ausgesetzt war, auch wenn dies nicht sicher feststeht.
Bei uneingeschränkter Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ käme es allerdings in bestimmten Konstellationen zu Unbilligkeiten. Diese Unbilligkeit liegt z.B. vor, wenn nach Abschluss der mündlichen Verhandlung feststeht, dass der Täter einen Straftatbestand verwirklicht hat, auch wenn letztlich unklar geblieben ist, durch welche Handlung dies erfolgte. Würde man den „in dubio pro reo“ Grundsatz anwenden, so würde dies zu einem Freispruch des Täters führen.
Beispiel
A hat als Zeuge in zwei Verhandlungen völlig unterschiedlich zum selben Sachverhalt ausgesagt. Fest steht, dass er in einer der beiden Verhandlungen gelogen und sich gem. § 153 strafbar gemacht hat. Nicht ersichtlich ist jedoch, in welcher Verhandlung A die Unwahrheit gesagt hat, so dass letztlich, sofern man jede Aussage für sich betrachten würde, ein Freispruch des A erfolgen müsste, da jeweils nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ davon ausgegangen werden müsste, dass A in der jeweiligen Verhandlung die Wahrheit sagte.
Um diese Ungerechtigkeiten zu umgehen, wird von der herrschenden Meinung eine Wahlfeststellung vorgenommen. Demnach kann der Täter unter bestimmten Voraussetzungen wahlweise nach dem einen oder anderen Tatbestand (echte Wahlfeststellung) bzw. nach demselben Tatbestand wahlweise in der einen oder anderen Sachverhaltsalternative (unechte Wahlfeststellung) bestraft werden.Rengier Strafrecht AT § 47 Rn. 14. Darüber hinaus gibt es noch die Post- oder Präpendenz.
216
Bevor Sie sich aber in einer Klausur Gedanken über die Wahlfeststellung machen, müssen Sie unter Berücksichtigung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes prüfen, ob nicht eine mildere Bestrafung nach dem Stufenverhältnis in Betracht kommt. Unterscheiden Sie das logische Stufenverhältnis von dem normativen Stufenverhältnis.
Ein logisches Stufenverhältnis liegt vor, wenn von 2 Straftatbeständen der eine den anderen mitumfasst,Rengier Strafrecht AT § 57 Rn. 8; BGH NJW 2018, 1557. wie das der Fall ist bei
• | Versuch und Vollendung, |
• | Grunddelikt und (Erfolgs-)Qualifikation, |
• | Grunddelikt und Privilegierung. |
Ein normatives Stufenverhältnis liegt vor, wenn sich bei wertender Betrachtung ein „Weniger-Mehr-Verhältnis“Rengier Strafrecht AT § 57 Rn. 8; BGH NJW 2018, 1557. ergibt, wie das der Fall ist bei
• | Vorsatz und Fahrlässigkeit, |
• | Täterschaft und Teilnahme, |
• | Tun und unechtem Unterlassen. |
Beispiel
Kann also nicht festgestellt werden, ob die Handlung kausal war für den Erfolg, muss „in dubio pro reo“ die Kausalität und damit die Vollendung verneint und Versuch geprüft werden. Gleiches gilt, wenn nicht festgestellt werden kann, ob der Täter Tatherrschaft hatte, er jedenfalls aber die Tat gefördert hat. Er muss dann wegen Beihilfe bestraft werden.
Liegt ein Stufenverhältnis nicht vor, dann muss zu guter Letzt überprüft werden, ob ein Auffangtatbestand in Betracht kommt.BGH NJW 2018, 1557.
Beispiel
Lässt sich nicht feststellen, ob die ec-Karte, die der Täter gefunden und anschließend verwendet hat, noch im Gewahrsam des ursprünglichen Gewahrsamsinhabers stand oder bereits gewahrsamslos war, dann kommt der ansonsten subsidiäre § 246 Abs. 1 als Auffangtatbestand in Betracht.
Erst wenn der „in dubio pro reo“ Grundsatz in der dargestellten Weise nicht berücksichtigt werden kann, kommen Sie zu der Möglichkeit der Wahlfeststellung.
B. Echte Wahlfeststellung
217
Voraussetzung der echten Wahlfeststellung ist zunächst eine auch durch Ausschöpfung sämtlicher prozessualer Erkenntnismittel nicht zu beseitigende Unsicherheit im Sachverhalt. Wichtig ist, dass bei jeder der in Frage kommenden Konstellationen die Möglichkeit der Verletzung eines Strafgesetzes besteht.BGHSt 12, 386. Sofern die in Betracht kommenden Verhaltensweisen rechtsethisch und psychologisch vergleichbar und gleichwertig sind, ist eine echte Wahlfeststellung möglich. Für eine Wahlfeststellung ist jedoch dann kein Raum, wenn die in Betracht kommenden Varianten in einem Stufenverhältnis zueinander stehen. In diesem Fall ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ anzuwenden mit der Folge, dass der Täter nach dem minder schweren Delikt zu bestrafen ist.
Beispiel
Steht nicht genau fest, ob A bei der Körperverletzung einen Schlagring und damit ein gefährliches Werkzeug bei sich geführt hat, so ist er nur wegen § 223 und nicht wegen § 224 Abs. 1 Nr. 2 zu bestrafen.
Gleiches gilt, wenn nicht sicher feststeht, ob Täterschaft oder Teilnahme, Vorsatz oder Fahrlässigkeitsdelikt anzuwenden ist. In diesen Fällen ist die Fahrlässigkeitstat bzw. die Teilnahme zugunsten des Täters zu unterstellen.BGHSt 23, 203.
Unter rechtsethischer Vergleichbarkeit ist eine nach dem allgemeinen Rechtsempfinden sittlich und rechtlich vergleichbare Bewertung und damit annähernd gleiche Schwere der Schuldvorwürfe zu verstehen. Dies liegt vor, wenn durch die Verhaltensweisen dieselben oder aber in ihrem Wesen ähnliche Rechtsgüter verletzt wurden.BGH wistra 1985, 67.
Die psychologische Vergleichbarkeit wird angenommen bei einer gleich gearteten seelischen Beziehung des Täters zu den in Frage stehenden Verhaltensweisen, was bedeutet, dass die Einstellung des Täters zu den Rechtsgütern und seine Motivationslage ähnlich sein müssen.OLG Saarbrücken NJW 1976, 65.
Beispiel
Polizeibeamtin P findet bei A Diebesgut aus einem der P bekannten, vor drei Wochen begangenen Einbruch bei J. Es lässt sich im Nachhinein nicht mehr aufklären, ob A Täter eines Diebstahls oder Täter einer Hehlerei ist. Würde man den „in dubio pro reo“-Grundsatz anwenden, müsste bei § 242 davon ausgegangen werden, dass A das Diebesgut nicht weggenommen hat. Bei § 259 hingegen müsste man zu seinen Gunsten davon ausgehen, dass er nunmehr Täter des Diebstahls war, da es sich in diesem Fall nicht um eine Sache handelt, die aus der Vortat eines anderen stammt. Da jedoch fest steht, dass A jedenfalls eine der beiden Straftaten begangen hat, wäre ein Freispruch unbillig.
Hier kann durch echte Wahlfeststellung eine Verurteilung entweder aus Diebstahl oder Hehlerei erfolgen. Beide Tatbestände stehen nicht in einem Stufenverhältnis zueinander. Sie sind aber ethisch und psychologisch vergleichbar, da sie sich in ihrem Wesen ähneln, dieselben Rechtsgüter verletzen und denselben Strafrahmen haben.
Der Schuldspruch bei einer echten Wahlfeststellung sieht eine Verurteilung entweder aus dem einen oder aus dem anderen Delikt vor. Beide Delikte sind im Urteilsspruch zu benennen.
Expertentipp
In der Klausur beginnen Sie mit der Tathandlung des ersten Delikts, welches sie prüfen – z.B. § 242 – und machen dort deutlich, dass nicht sicher feststeht, ob der Täter diese Handlung begangen hat. Sie fahren dann mit der Prüfung des nächsten Delikts fort und gelangen an derselben Stelle zu derselben Problematik. Sie können nun die Frage nach der Möglichkeit einer Wahlfeststellung aufwerfen und beantworten. Für den Fall der Bejahung müssen dann die übrigen Voraussetzungen der Delikte geprüft werden.
Hinweis
Nach Auffassung des 2. Senats am BGHBGH Beschluss vom 2.11.2016 – 2 StR 495/12 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de. verstößt die echte Wahlfeststellung gegen Art. 103 Abs. 2 GG: „Schließen sich die in Betracht kommenden Tatbestände gegenseitig aus …. (erfolgt die) wahldeutige Verurteilung … nur aufgrund eines „Rumpftatbestands“. Dies läuft auf eine „Entgrenzung“ von Tatbeständen oder auf „Verschleifung“ zweier Straftatbestände durch alternative Vereinigung der Einzelvoraussetzungen hinaus, die über die Verschleifung von verschiedenen Tatbestandsmerkmalen einer einzigen Strafnorm noch weit hinausgeht. Die Verurteilung beruht nämlich praktisch auf einer ungeschriebenen dritten Norm, die angeblich übereinstimmende Unrechtselemente der beiden gerade nicht zur Anwendung gelangenden Normen in sich vereinigen soll. Da es an einem gemeinsamen Tatbestandsmerkmal fehlt, wird dies in Gestalt einer angeblichen rechtsethischen „Vergleichbarkeit“ fiktiv ergänzt.“
Da die anderen Senate an der bisherigen Rechtsprechung festhalten wollen, wurde die Frage im November 2016 (erneut) dem Großen Senat vorgelegt.
C. Unechte Wahlfeststellung
218
Von der echten Wahlfeststellung unterscheidet sich die unechte Wahlfeststellung dadurch, dass bei letzterer die verwirklichte Strafnorm feststeht, allerdings unklar ist, durch welche Handlung der Täter diesen Straftatbestand verwirklicht hat.
Beispiel
Eine unechte Wahlfeststellung ist möglich in oben genanntem Beispielsfall (Rn. 215), bei welchem feststeht, dass A in einer der Gerichtsverhandlungen gelogen hat. Hier ist die Strafnorm des § 153 gewiss, ungewiss ist jedoch die Handlung, durch welche diese Strafnorm verwirklicht wurde.
D. Post- und Präpendenz
219
Von der Wahlfeststellung ist nach herrschender Meinung die Post- und Präpendenz abzugrenzen. Von einer Postpendenz spricht man, wenn bei zwei Sachverhalten nur der zeitlich frühere in tatsächlicher Hinsicht ungeklärt bleibt, während der zweite, zeitlich spätere Sachverhalt sicher feststeht. Von einer Präpendenz spricht man im umgekehrten Fall, d.h. der zeitlich frühere Sachverhalt steht sicher fest, wohin gegen der zeitlich spätere Sachverhalt ungewiss ist.
Beispiel
Es wurde sicher festgestellt, dass A gestohlenen Schmuck an den gutgläubigen C verkauft hat. Insoweit ist eine Hehlerei verwirklicht. Fraglich ist jedoch, ob A daneben nicht auch Mittäter dieses Diebstahls war. Sollte dies so sein, käme eine Bestrafung wegen Hehlerei gem. § 259 nicht mehr in Betracht.