I. Das Strafrecht
1. Aufgabe des Strafrechts
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Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt ist, wird im deutschen Recht unterschieden zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Das öffentliche Recht regelt das Verhältnis des Staates zum Bürger, das Privatrecht jenes der Bürger untereinander. Das Strafrecht ist Teil des öffentlichen Rechtes und dient dem Rechtsgüterschutz, welcher allein durch das Privatrecht und das sonstige öffentliche Recht nicht ausreichend gewährleistet ist. Im Interesse der Bewahrung der Grundwerte und des damit einhergehenden Rechtsfriedens innerhalb einer Gemeinschaft müssen Verhaltensweisen, die diesen Interessen zuwider laufen, bei Strafe verboten werden.BVerfGE 51, 324, 343; 88, 203, 257; lesen Sie hierzu auch die erhellenden Ausführungen von Winfried Hassemer „Warum Strafe sein muss – ein Plädoyer“.
Beispiel
Die sehr vermögende Landwirtin A möchte zur Steigerung ihrer Produktivität den angrenzenden Hof des Landwirts B übernehmen. B weigert sich jedoch standhaft, an A zu verkaufen. A vergiftet daraufhin den Brunnen des B, aus welchem dieser sein Trinkwasser schöpft mit der Folge, dass B nach einiger Zeit verstirbt.
Selbstverständlich ist nunmehr A aufgrund der im Privatrecht getroffenen Regelungen z.B. gegenüber den hinterbliebenen Kindern zum Schadensersatz verpflichtet (unter anderem Ersatz des Unterhaltsschadens). Darüber hinaus ist A aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften (BImSchG) verpflichtet, die infolge ihres Handelns entstandenen Verunreinigungen des Wassers und gegebenenfalls des Bodens zu beseitigen. Da es sich aber bei A um eine sehr vermögende Landwirtin handelt, werden sie diese finanziellen Belastungen nicht sonderlich beeinträchtigen. Beeindrucken wird sie jedoch die im § 211 angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe. Aufgabe des § 211 ist mithin die Sicherung des gedeihlichen Zusammenlebens.
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Unter Rechtsgütern versteht man die rechtlich anerkannten Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit, die für diese von besonderer Bedeutung sind. Rechtsgüter des Einzelnen sind z.B. das in § 211 geschützte Leben, die in § 223 geschützte körperliche Unversehrtheit, die in § 239 geschützte persönliche Freiheit, das in § 242 geschützte Eigentum sowie das in § 263 geschützte Vermögen (sog. Individualrechtsgüter). Rechtsgüter der Allgemeinheit sind z.B. die im §§ 331 ff. geschützte Unbestechlichkeit der Amtsträger, die in § 315c geschützte Sicherheit des Straßenverkehrs sowie die in § 267 geschützte Zuverlässigkeit von Urkunden im Rechtsverkehr (sog. Universalrechtsgüter).Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT Rn. 11.
Hinweis
Die Kenntnis des geschützten Rechtsguts ist für die Klausur von großer Wichtigkeit. So wird das von der jeweiligen Norm geschützte Rechtsgut relevant für die rechtfertigende Einwilligung. Das von der Tat betroffene Opfer kann nur in die Verletzung seiner eigenen Rechtsgüter, nicht aber in jene der Allgemeinheit einwilligen. Außerdem müssen die Definitionen der Tatbestandsmerkmale durch Auslegung ermittelt werden. Eine der wichtigsten Auslegungsmethoden ist im Strafrecht die teleologische, also am Zweck der Norm und damit auch am geschützten Rechtsgut orientierte Auslegung.
2. Geltungsbereich des Strafrechts
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Gelegentlich muss in einer Klausur die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts diskutiert werden. Sofern der Täter in der Bundesrepublik Deutschland eine Straftat begeht, ist unproblematisch deutsches Strafrecht anwendbar. Problematisch wird es jedoch, wenn die Tat im Ausland begangen wurde.
Beispiel
Der Direktor des „Adelaide Institutes“ in Australien (A) hat selbst verfasste Rundbriefe und Artikel auf einem australischen Server auf die Homepage des Institutes eingestellt. Auf der Homepage konnte man u.a. folgendes lesen:
„In diesem ersten Monat des vorletzten Jahres der Jahrtausendwende können wir auf eine 5-jährige Arbeit zurückblicken und mit Sicherheit feststellen: Die Deutschen haben niemals europäische Juden in todbringenden Gaskammern im Konzentrationslager Auschwitz oder an anderen Orten vernichtet. Daher können alle Deutschen (. . .) ohne den aufgezwungenen Schuldkomplex leben, mit dem sie eine bösartige Denkweise ein halbes Jahrhundert lang versklavt hat.“
Anlässlich eines Deutschlandbesuchs wird A verhaftet.BGH Entscheidung vom 12.12.2000, 1 StR 184/00 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de.
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Expertentipp
Lesen Sie zunächst die §§ 3–7 und 9 und verschaffen Sie sich einen Überblick.
Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bestimmt sich nach den §§ 3–7, 9. Zu unterscheiden sind verschiedene Anknüpfungspunkte:
• | Nach dem in § 3 zugrunde gelegten Territorialitätsprinzip gilt das deutsche Strafrecht für alle Straftaten, die im Inland begangen werden, unabhängig davon, wer sie begeht und wer Opfer dieser Straftat ist. § 9 trifft ergänzend Bestimmungen zum Begehungsort. Danach ist die Tat an dem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an welchem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters hätte eintreten sollen. |
• | Nach dem in § 4 niedergelegten Flaggenprinzip gilt das deutsche Strafrecht für alle Taten, die auf einem Schiff oder in einem Luftfahrzeug begangen wurden, welches berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen zu führen. |
• | Das den Regelungen in § 5 zugrunde liegende Schutzprinzip gestattet die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf Taten, die im Ausland begangen werden, jedoch inländische Individual- und Universalrechtsgüter betreffen. |
• | § 6 unterwirft solche Taten dem deutschen Strafrecht, die im Ausland begangen werden, sich jedoch gegen international geschützte Kulturwerte und Rechtsgüter richten (Weltrechtsgrundsatz). |
• | § 7 ergänzt die Regelungen der §§ 5 und 6. Das deutsche Strafrecht gilt danach für Auslandstaten, die sich gegen einen Deutschen richten. Es gilt auch, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war oder nach der Tat wurde oder, wenn der Täter zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen wird und aus den in der Vorschrift genannten Gründen von der Auslieferung verschont bleibt (Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege). |
Beispiel
Der BGHEntscheidung vom 12.12.2000, 1 StR 184/00 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de. hat im obigen Beispiel die verwirklichten Taten gem. §§ 185, 189 und 130 als Inlandstat gem. §§ 3, 9 angesehen und die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bejaht. Er hat dazu ausgeführt, dass der zu den Tatbeständen gehörende Erfolg gem. § 9 nicht als tatbestandlicher Erfolg im engeren Sinne, sondern als Verletzung des geschützten Rechtsguts angesehen werde. Diese Verletzung sei aber aufgrund der Möglichkeit, den Inhalt der Homepage in Deutschland wahrzunehmen, auch in Deutschland eingetreten.
Expertentipp
In Prüfungsarbeiten ist die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechtes bei jedem Strafrechtstatbestand vor Eintritt in die Tatbestandsprüfung zu diskutieren, aber nur, wenn der Sachverhalt Auslandsbezug aufweist!