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Staatsorganisationsrecht - 4. Formelle Verfassungsgemäßheit von Bundestagsbeschlüssen

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Staatsorganisationsrecht

4. Formelle Verfassungsgemäßheit von Bundestagsbeschlüssen

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Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Beschlussverfahren ergeben sich zunächst aus den Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG, die eine demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen entsprechende Sitzungsvorbereitung und -durchführung erfordern. Die näheren Einzelheiten der Sitzungsorganisation finden sich in der nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG erlassenden Geschäftsordnung des Bundestages.

Beispiel

Auch wenn es nicht ausdrücklich in der Verfassung steht, muss aufgrund demokratischer und rechtsstaatlicher Mindestanforderungen an Sitzungen von Volksvertretungen eine entsprechende Tagesordnung für die Sitzung bestehen, die den Abgeordneten rechtzeitig vor der Sitzung mitgeteilt wird. Die Geschäftsordnung des Bundestages hat dies in § 20 näher konkretisiert. 

Für die Modalitäten der Beschlussfassung sind in Art. 42 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 GG auch ausdrückliche Regelungen vorhanden, wonach diese nach öffentlicher Verhandlung grundsätzlich durch die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erfolgt. 

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Das Öffentlichkeitsprinzip des Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG ergibt sich als Transparenzgebot des Willensbildungsprozesses repräsentativer Volksvertretungen auch als Ausprägung des Demokratieprinzips. Die Bürger erhalten durch Inaugenscheinnahme der Sitzungen die Gelegenheit, das politische Handeln der Abgeordneten zu beobachten und ihre Wahlentscheidung danach auszurichten. Durch die Sitzungsöffentlichkeit der Verhandlungen im Plenum wird auch die Kontrollfunktion der Bürger und der Presse ermöglicht; letztere ist über Art. 42 Abs. 3 GG (freie Berichterstattung) zusätzlich abgesichert.

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Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG ist eine Ausprägung des demokratischen Mehrheitsprinzips. Bei den Mehrheiten im Bundestag wird allgemein unterschieden

einerseits zwischen der Mehrheit der Stimmen der Anwesenden und der Mehrheit der Stimmen der gesetzlichen Mitglieder und

andererseits zwischen einfacher und qualifizierter Mehrheit.

Bei der Mehrheit der Anwesenden (einfache Mehrheit) reicht das Überwiegen der abgegebenen Ja-Stimmen gegenüber der Nein-Stimmen.

Für die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl (absolute Mehrheit) muss hingegen die Anzahl der Ja-Stimmen mehr als die Hälfte der gesetzlich vorgesehenen Mitgliederzahl betragen. Die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages ist in Art. 121 GG normiert. Die konkrete Anzahl ergibt sich aus dem Bundeswahlgesetz: Sie umfasst neben den 598 Abgeordneten aus § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG auch die Überhang- und Ausgleichsmandate nach § 6 Abs. 4-6 BWahlG.

Beispiel

Der 19. Bundestag bestand inklusive der Überhang- und Ausgleichsmandate aus insgesamt 709 Abgeordneten. Sofern es für einen Beschluss der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl (absolute Mehrheit) bedurfte, mussten hierfür mindestens 355 Abgeordneten zustimmen. 

Für besondere Abstimmungen ist eine qualifizierte Mehrheit vorgesehen, die ein besonderes Quorum vorschreibt.

Zu einem Beschluss des Bundestages ist damit nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG

grundsätzlich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, aber auch ausreichend (Regelfall der einfachen Mehrheit),

sofern das Grundgesetz nichts anderes bestimmt (Ausnahmefälle der absoluten und qualifizierten Mehrheit).

Beispiel

Bei einem Beschluss über ein einfaches Bundesgesetz reicht nach Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG die einfache Mehrheit der Anwesenden.

Handelt es sich aber um einen Beschluss über ein Änderungsgesetz zum Grundgesetz, dann ist nach Art. 79 Abs. 2 GG eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich. Die Mitgliederzahl des Bundestages ist in Art. 121 GG normiert und als gesetzliche Mitgliederzahl im Sinne der § 1 Abs. 1 i.V.m. § 6 BWahlG (598 Abgeordnete zzgl. Überhang- und Ausgleichsmandate) zu verstehen. Hiervon müssten zwei Drittel dem Gesetz zustimmen.

Bei der Wahl eines Richters am Bundesverfassungsgericht durch den Bundestag reicht nach Art. 94 GG i.V.m. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG die einfache Mehrheit der Anwesenden.

Hingegen ist bei der Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 Abs. 2 GG die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (gesetzliche Mitgliederzahl) erforderlich; also eine absolute Mehrheit, die deshalb auch als „Kanzlermehrheit“ bekannt ist.

Das Mehrheitsprinzip ist eine wichtige Ausprägung des Demokratieprinzips und unter Rn. 20 bereits ausgeführt.

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Die Frage der Beschlussfähigkeit des Bundestages ist hingegen nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt. Sie unterfällt der allgemeinen Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG. Das Plenum ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend sind (§ 45 Abs. 1 GOBT). Sind weniger Abgeordnete anwesend, kann das Plenum dennoch beschließen, es sei denn, die Beschlussunfähigkeit wird ausdrücklich bezweifelt und nachfolgend festgestellt, § 45 Abs. 2, 3 GOBT. Im Einzelnen kommt eine Beschlussunfähigkeit nur in Betracht, wenn eine Fraktion oder anwesende fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages die Beschlussfähigkeit bezweifeln und der Sitzungsvorstand sie nicht einmütig bejaht.

Hinweis

Die Beschlussfähigkeit oder Beschlussunfähigkeit wird durch Zählung der Stimmen im sog. Hammelsprungverfahren nach § 51 Abs. 2 GOBT festgestellt. Dabei müssen alle Abgeordneten den Plenarsaal verlassen und durch drei getrennte Eingänge – für Ja, Nein und Enthaltung stehend – wieder betreten. 

Das Bundesverfassungsgericht hält die Regelung des § 45 GO BT grundsätzlich für verfassungsgemäß, insbesondere mit dem Prinzip der repräsentativen Demokratie aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG vereinbar.BVerfGE 44, 308; 123, 39, 67; vgl. zum Ganzen Pracht/Ehmer Die Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestags, JuS 2019, 531. Dieses erfordere zwar dem Geiste des Parlamentarismus nach am ehesten eine Präsenz aller Abgeordneten. Es dürfe aber nicht übersehen werden, dass ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit außerhalb des Plenums in Ausschuss- und Fraktionssitzungen erfolge, an denen die Abgeordneten beteiligt seien. Die Schlussabstimmung im Plenum bilde deshalb zwar einen rechtlich notwendigen, aber in seiner politischen Bedeutung geminderten letzten Teilakt der politischen Mitwirkung, während die Entscheidung in aller Regel bereits in den Ausschüssen und Fraktion gefallen sei. Deshalb seien die Regelungen des § 45 GO BT grundsätzlich verfassungsgemäß, sofern nicht ausnahmsweise aus tatsächlichen Gründen eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages nicht im Plenum erscheinen konnte, nachdem auch eine Erörterung der Beschlussvorlage in den Ausschuss- und Fraktionssitzungen unterblieben ist oder dort keine Übereinstimmungen zu der Vorlage erreicht werden konnten.  

Beispiel

Bei der maßgeblichen Schlussabstimmung des Bundestages nach Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG über ein Bundesgesetz, sind im Plenum nur 36 von 709 Mitgliedern des Bundestages anwesend. Der Gesetzentwurf ist bereits Gegenstand von Ausschuss- und Fraktionssitzungen gewesen, bei denen Übereinstimmungen erzielt werden konnten. Lediglich ein Abgeordneter zweifelt bei der Schlussabstimmung die Beschlussfähigkeit an. Der Bundestag beschließt – ohne auf die Anzweiflung einzugehen – sodann das Gesetz mehrheitlich.

Es liegt ein wirksamer Gesetzesbeschluss des Bundestages vor, da der Bundestag im Sinne des verfassungsgemäßen § 45 Abs. 2 GO BT beschlussfähig war. Zwar waren weniger als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal im Sinne des § 45 Abs. 1 GO BT anwesend, allerdings ist ein Anzweifeln der Beschlussfähigkeit nicht von einer Fraktion oder von anwesenden 5% der Mitglieder erfolgt. Der Bundestag gilt damit als beschlussfähig, zumal der Gesetzentwurf bereits Gegenstand von Ausschuss- und Fraktionssitzungen gewesen ist, bei denen Übereinstimmungen erzielt werden konnten.

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