Inhaltsverzeichnis
3. Das Organstreitverfahren
219
Beim Organstreit gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG handelt sich um ein kontradiktorisches Streitverfahren, bei dem das BVerfG den Streit zwischen zwei Verfassungsorganen um ihre Rechte und Pflichten aus der Verfassung entscheidet. Dabei sind insbesondere Zuständigkeiten und Kompetenzen gegeneinander abzugrenzen. Das Gericht trifft hierbei nach § 67 BVerfGG eine feststellende Entscheidung.
Prüfungsschema
Wie prüft man: „Das Organstreitverfahren hat Erfolg, falls der Antrag zulässig und begründet ist.“
A. | Zulässigkeit |
| ||
| I. | Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts |
| |
|
|
| „Die Zuständigkeit des BVerfG für das Organstreitverfahren ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG.“ |
|
| II. | Parteifähigkeit von Antragsteller und Antragsgegner, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG |
| |
| III. | Streitgegenstand, § 64 Abs. 1 BVerfGG |
| |
|
|
| Maßnahme oder Unterlassung |
|
| IV. | Antragsbefugnis, § 64 Abs. 1 BVerfGG |
| |
|
|
| Geltendmachung der Verletzung von Rechten und Pflichten, die durch das Grundgesetz übertragen sind |
|
|
|
| Prozessstandschaft im Organstreit | Rn. 222 |
| V. | Rechtsschutzbedürfnis |
| |
| VI. | Antragsform, §§ 23 Abs. 1, 64 Abs. 2 BVerfGG |
| |
|
| 1. | Schriftliche Begründung |
|
|
| 2. | Bezeichnung der Bestimmung des Grundgesetzes |
|
| VII. | Frist, § 64 Abs. 3 BVerfGG |
| |
|
|
| 6 Monate ab Bekanntwerden der Maßnahme oder Unterlassung |
|
B. | Begründetheit |
| ||
|
| „Das Organstreitverfahren ist begründet, wenn die beanstandete Maßnahme des Antragsgegners gegen Normen der Verfassung verstößt, auf die der Antragsteller sich berufen kann.“ |
| |
C. | Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, § 67 BVerfGG |
| ||
|
| Feststellungsurteil |
|
a) Die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits
aa) Parteifähigkeit
220
Parteifähig sind zunächst alle obersten Bundesorgane. Dies sind jene Organe, die im organisch hierarchischen Sinn keinem anderen Organ untergeordnet sind und denen vom Grundgesetz die Wahrnehmung eigenständiger Aufgaben im Bereich der politischen Staatsleitung zugewiesen ist. Hierzu zählen: der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung sowie die BundesversammlungBVerfGE 136, 277. und der Gemeinsame Ausschuss.
Zudem sind „andere Beteiligte“ parteifähig, sofern sie durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Als andere Beteiligte kommen nur solche Inhaber von Staatsgewalt in Betracht, die nach Rang und Funktion den obersten Bundesorganen gleichstehen.
Beispiel
Fraktionen des Bundestages, da diese durch die GOBT mit eigenen Rechten ausgestattet sind; die Gruppe im Bundestag, da ihr durch § 10 Abs. 4 GOBT eigene Rechte verliehen werden; Ausschüsse des Bundestags und des Bundesrats, auch der Vermittlungsausschuss; der Bundestagspräsident, dem § 7 GOBT Rechte verleiht, sowie der Bundesratspräsident; der Bundeskanzler sowie einzelne Bundesminister, da diese als Teil des Organs Bundesregierung durch Art. 65 GG mit eigenen Rechten ausgestattet sind.
„Andere Beteiligte“ außerhalb des Kreises der Organteile sind, wenn und soweit sie um Rechte kämpfen, die sich aus ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status ergeben und diese Rechte gegenüber einem anderen Verfassungsorgan geltend gemacht werden:
• | der einzelne Abgeordnete. Dieser ist gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG mit eigenen Rechten ausgestattet. Er kann jedoch keine Grundrechtsverletzung geltend machen. |
• | Politische Parteien, wenn es um ihre verfassungsrechtliche Funktion gem. Art. 21 GG geht, nicht jedoch, wenn sie eine Grundrechtsverletzung gelten machen. |
Beispiel
Nicht parteifähig ist die sogenannte „G 10-Kommission“, die der Bundestag als Kontrollorgan eigener Art auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG errichtet hat. Im Wege des Organstreitverfahrens begehrte sie die Herausgabe von Listen des National Security Agency (NSA), die sich bei der Bundesregierung befanden, um eventuelle Verstöße gegen Art. 10 GG („Fernmeldegeheimnis“) festzustellen. Die G-10-Kommission ist aber kein oberstes Bundesorgan und wird nicht von der Verfassung in Existenz, Status und wesentlichen Kompetenzen konstituiert. Auch ist sie kein durch das Grundgesetz oder durch die GOBT mit eigenen Rechten ausgestatteter Teil des Bundestages. Sie wird vielmehr lediglich im Funktionsbereich der Exekutive tätig, in dem sie über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von konkreten Beschränkungsmaßnahmen entscheidet.BVerfGE 143, 1.
bb) Streitgegenstand
221
Streitgegenstand kann eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners sein, die den Antragsteller in seinen Rechten und Pflichten aus dem Grundgesetz verletzt oder unmittelbar gefährdet. Die Maßnahme oder Unterlassung muss rechtserheblich sein.BVerfGE 60, 374, 381.
Beispiel
Erlass und Unterlassen eines Gesetzes,BVerfGE 73, 40, 65. Erlass oder Anwendung der Geschäftsordnungen,BVerfGE 80, 188, 209. Besetzung der Ausschüsse durch den Bundestag, die Nichtzuerkennung des Fraktionsstatus, Entzug des Wortes (§ 36 Abs. 2 GO BT) bzw. Ordnungsruf (§ 36 Abs. 1 GO BT) gegenüber einem Abgeordneten durch den Bundestagspräsidenten;
Nicht jedoch eine parlamentarische Rüge des Bundestagspräsidenten gegenüber einem Abgeordneten und Handlungen, die einen vorbereitenden Charakter haben: bloße Gesetzentwürfe oder die Beantwortung einer mündlichen Anfrage im Bundestag.
Da das Bundesverfassungsgericht gemäß § 67 BVerfGG nur die Feststellung treffen kann, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen das Grundgesetz verstößt, darf der Streitgegenstand nicht rechtsgestaltender Art sein.
Beispiel
Aus diesem Grund wurde vom BVerfG der Antrag eines Mitglieds der Bundesversammlung, die Wahl des Bundespräsidenten für ungültig zu erklären und eine Wiederholungswahl anzuordnen, für unzulässig erachtet.BVerfGE 136, 277.
Expertentipp
Unterscheiden Sie: Vorschriften der Geschäftsordnungen können rechtserhebliche Maßnahmen sein (z.B. Wortentzug eines Abgeordneten nach § 36 Abs. 2 GO BT). Die jeweilige Vorschrift muss aber Rechte und Pflichten aus dem Grundgesetz verletzen (z.B. Recht des Abgeordneten auf freie Mandatsausübung nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Eine Verletzung von Rechten aus der Geschäftsordnung, die sich nicht auf das Grundgesetz zurückführen lassen, reicht nicht aus.
cc) Antragsbefugnis
222
Der Antragsteller muss geltend machen, durch die angegriffene Maßnahme in seinen verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten oder in denjenigen des Organs, dem er angehört, verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein.
Hinweis
Dabei kann es immer nur um organschaftliche Rechte gehen, nicht aber um subjektiv-rechtliche Positionen wie z.B. Grundrechte.
Der Sachvortrag muss die Verletzung oder Gefährdung der durch das Grundgesetz übertragenen organschaftlichen Rechte und Pflichten als möglich erscheinen lassen (Möglichkeitsformel).
Beispiel
Die Bundesregierung trifft die Entscheidung, Drittstaatangehörigen, die in Deutschland um Schutz nachsuchen, nicht an der Grenze zurückzuweisen. Die A-Bundestagsfraktion begehrt mit ihrem Antrag im Organstreitverfahren, festzustellen, dass die Bundesregierung durch die Duldung der Einreise von Asylbewerbern die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Bundestages verletzt habe. Sie ist der Auffassung, die Bundesregierung habe hierfür einer gesetzlichen Grundlage bedurft; kündigt indes zugleich an, an deren Initiierung im Bundestag nicht mitwirken zu wollen.
Das BVerfG hält die Antragsbefugnis der A-Bundestagsfraktion nicht für gegeben, da es ihr nicht um die Durchsetzung eigener oder dem Bundestag zustehender (Beteiligungs-)Rechte gehe, sondern um die Unterbindung eines bestimmten Regierungshandelns. Sie erstrebe keine Befassung des Bundestages zum Zwecke der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, sondern die Kontrolle eines bestimmten Verhaltens der Bundesregierung.BVerfGE Beschluss vom 11.12.2018 – 2 BvE 1/18 –, juris.
Wie schon beim Streitgegenstand muss auch bei der Antragsbefugnis ein Bezug zum Grundgesetz bestehen. Rechte nur aus der Geschäftsordnung oder aus einfachen Gesetzen sind für die Antragsbefugnis nicht ausreichend. Die gegenseitigen Rechte und Pflichten müssen sich aus einem „verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis“ ergeben,BVerfGE 73, 1, 30. also aus einem vom Grundgesetz geordneten Rechtsverhältnis zwischen Antragsteller und Antragsgegner.
Beispiel
Diese Möglichkeit ist dann ausgeschlossen, wenn der Antragsteller Rechte anführt, die offenkundig weder ihm noch dem Organ zustehen, dem er angehört.
Prozessstandschaft im Organstreit: Grundsätzlich ist prozessführungsbefugt nur, wer eigene Rechte wahren will. Ausnahmsweise gestattet § 64 Abs. 1 BVerfGG („oder das Organ, dem er angehört“) die Prozessstandschaft des Organteils für sein Organ. Dies bedeutet, dass der Antragsteller i.S.d. § 64 Abs. 1 BVerfGG verfassungsrechtliche Rechte des Organs, dem er angehört, in eigenem Namen geltend macht. Hier ist zunächst zu prüfen, ob dem Organ die behaupteten Rechte aus dem Grundgesetz zustehen. Darüber hinaus setzt eine solche Prozessstandschaft voraus, dass das betreffende Organ selbst parteifähig ist und dass der Organteil eine ständige, organisierte Gliederung des betreffenden Organs ist. So können etwa Fraktionen, nicht aber einzelne Abgeordnete Rechte des Gesamtorgans Bundestag geltend machen. Dass z.B. die Mehrheit des betreffenden Organs seine Rechte nicht verletzt sieht, steht der Antragsbefugnis aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht entgegen.
dd) Rechtsschutzbedürfnis
223
Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis besteht nur dann, wenn der Antragsteller die dargelegte Rechtsverletzung nicht durch eigenes Handeln wirkungsgleich vermeiden kann. Ein gesondertes Rechtsschutzinteresse ist lediglich dann zu prüfen, wenn sich für sein Fehlen konkrete Anhaltspunkte ergeben.
Beispiel
Die X-Fraktion sieht in einem gegen die Bundesregierung gerichteten Organstreitverfahren die Rechte des Bundestages verletzt. Nach Auffassung der X-Fraktion hätte der Bundestag dem durch die Bundesregierung angeordneten Auslandseinsatz einer bewaffneten Spezialeinheit der Bundeswehr vorher zustimmen müssen. Es werden Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis geäußert, da die X-Fraktion mit zwei anderen Fraktionen die Regierungskoalition stellt und ihr damit möglicherweise andere (politische) Wege zur Verfügung stehen, ihre Auffassung durchzusetzen. Das BVerfGBVerfGE 90. 286, 339. bejahte trotzdem das Rechtsschutzbedürfnis, da die geltend gemachten Rechte des Bundestages auf Beteiligung nicht durch regierungsinterne politische Einflussnahme aufgewogen werden können.
ee) Form und Frist
224
Der Antrag ist unter Bezeichnung der verletzten Normen des Grundgesetzes schriftlich zu begründen, §§ 23, 64 Abs. 2 BVerfGG. Es gilt eine Frist von 6 Monaten. Sie beginnt, sobald die Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt wurde, § 64 Abs. 3 BVerfGG. Bei einem Unterlassen beginnt die Frist spätestens dann, wenn der Antragsgegner sich erkennbar eindeutig weigert, in der Weise tätig zu werden, die der Antragsteller zur Wahrung seiner Rechte aus dem Grundgesetz für erforderlich hält.
b) Begründetheit des Organstreits
225
Das Gericht prüft, ob die Maßnahme oder Unterlassung gegen die im Grundgesetz begründeten Rechte und Pflichten verstößt. Ist der Antrag begründet, spricht es durch das Urteil die Feststellung aus, dass eine Rechtsverletzung vorliegt. Dieses Urteil hat gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG Bindungswirkung für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.
Hinweis
Beachten Sie, dass durch das BVerfG keine Verurteilung des Antragsgegners zu einer bestimmten Handlung erfolgt.