Staatsorganisationsrecht

Historischer Kontext und „Lehren von Weimar“

C. Historischer Kontext und „Lehren von Weimar“

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Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23.5.1949 entstand die Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz ist wie jedes Gesetz in einem historischen Kontext eingebunden, der bei der Auslegung der einzelnen Regelungen zu berücksichtigen ist.

Der totalitäre Unrechtsstaat der Nationalsozialistischen Diktatur führte zum Zusammenbruch des Deutschen Reiches. Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches wurde am 7. und 8.5.1945 unterschrieben und trat am 8.5.1945 in Kraft. Die vier Siegemächte (Sowjetunion, Vereinigte Staaten, Großbritannien und Frankreich) setzten auf den besetzten Gebieten Militärverwaltungen ein und übernahmen die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Hierdurch war der deutsche Staat nicht untergegangen. Im Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 erkannten die alliierten Siegermächte ausdrücklich das Fortbestehen des deutschen Staates an, legten für Berlin aber einen Sonderstatus fest.Vgl. hierzu Waldhoff JuS 2021, 289, 292.

Nachdem sich aber zeigte, dass eine Einigung der vier Siegermächte über die Zukunft Gesamtdeutschlands nicht zu erreichen war, beschlossen die Westalliierten die Errichtung eines westdeutschen Teilstaates. Hierzu überreichten am 1.7.1948 die Militärgouverneure der drei Westzonen den Ministerpräsidenten der mittlerweile errichteten Länder die sogenannten Frankfurter Dokumente. Hierin wurden die Ministerpräsidenten beauftragt eine zu wählende verfassungsgebende Versammlung (Parlamentarischer Rat) einzuberufen. Inhaltliche Vorgaben betrafen die Errichtung einer föderativen Staatsform, die die deutsche Einheit wieder herstellen kann, den Schutz der Rechte der Länder, die Schaffung einer angemessenen Zentralinstanz und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten. Schließlich wurden die Voraussetzungen des Inkrafttretens der Verfassung bestimmt, namentlich die Genehmigung der Militärgouverneure und die Annahme durch Volksabstimmung mit einfacher Mehrheit in mindestens zwei Dritteln der Länder.

Die Ministerpräsidenten beriefen zur Vorbereitung der Beratungen des Parlamentarischen Rates einen Sachverständigenausschuss (Herrenchiemseer Verfassungskonvent) ein, der einen Verfassungsentwurf als Beratungsgrundlage erstellen sollte. Der Ausschuss tagte vom 10. bis 23.3.1948 auf der Insel Herrenchiemsee in Bayern.

Zur Ausarbeitung der Verfassung waren die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates berufen. Diese wurden im Laufe des Augusts 1948 von den Landtagen gewählt. Am 8.5.1949 beschloss der Parlamentarische Rat das Grundgesetz. Statt der Bezeichnung „Verfassung“ wurde bewusst die Bezeichnung „Grundgesetz“ gewählt, um den vorläufigen Übergangscharakter als Provisorium bis zur Vollendung der staatlichen Einheit zu betonen. Nach der Genehmigung durch die drei westlichen Militärgouverneure war noch die Annahme durch die Landtage von zwei Dritteln der Länder erforderlich. Auf eine Volksabstimmung wurde verzichtet, um dadurch den provisorischen Charakter des Grundgesetzes herauszustellen.

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten sich umfangreich mit den Regelungen der Weimarer Reichsverfassung als Vorgängerverfassung und den damit gemachten Erfahrungen auseinandergesetzt. Man wollte insbesondere aus den „Fehlern von Weimar“ lernen und sich bewusst von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus absetzen.Vgl. Otto Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1 ff. Aufgrund dieser historischen Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht daher das Grundgesetz „als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“ gedeutet.BVerfGE 124, 300. 

Expertentipp

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Die Kenntnisse der Instrumente der NS-Diktatur sowie des Weges dorthin und der inhaltlichen Aufarbeitung durch entsprechende Vorkehrungen im Grundgesetz sind in staatsrechtlichen Prüfungen keinesfalls zu unterschätzen. In mündlichen Prüfungen gehört ein Wissen über die „Lehren von Weimar“ zum Standardrepertoire. Auch in Klausuren kann die Kenntnis des historischen Kontextes bei der Auslegung von Normen und als Argumentation in Abwägungs- oder Zweifelsfällen eine wertvolle Hilfe sein.

I. Reaktionen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus

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Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) wurde auch in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in den Jahren von 1933 bis 1945 formal nicht außer Kraft gesetzt. Sie entstand nach der Niederlage des Deutschen Reiches im ersten Weltkrieg und der vorherigen Abdankung des Deutschen Kaisers Wilhelm II.

Die Weimarer Reichsverfassung wurde unter dem nationalsozialistischen Regime durch gesetzgeberische Maßnahmen allerdings derart demontiert und ausgehöhlt, dass sich die Staatsform des Deutschen Reiches hin zu einem totalitären, autoritären Einparteien- und Führerstaat auf völkischer und rassischer Grundlage wandelte. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzlers am 30.1.1933 erfolgte im Zuge des Reichstagsbrandes die Verordnung des Reichspräsidenten Hindenburg „zum Schutze von Volk und Staat“ („Reichstagsbrandverordnung“). Hierdurch wurden wichtige in der Weimarer Reichsverfassung enthaltene Grundrechte wie die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungsfreiheit und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Die Reichstagsbrandverordnung blieb während der Dauer des NS-Regimes in Kraft und beseitigte damit den Rechtsstaat zugunsten eines Polizeistaates.

Am 24.3.1933 wurde vom Reichstag das Ermächtigungsgesetz („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) beschlossen. Lediglich die SPD-Fraktion stimmte dagegen, die Abgeordneten der KPD-Fraktion waren von der Abstimmung ausgeschlossen. Die Reichsregierung konnte nunmehr ohne Mitwirkung des Reichstages Gesetze beschließen, die sogar von der Reichsverfassung abweichen konnten. Damit war die gesetzgeberische Gewalt praktisch auf die Exekutive übergegangen und die Gewaltenteilung beseitigt.

Durch Gesetz der Reichsregierung vom 14.7.1933 wurde die NSDAP zur „einzigen politischen Partei“ erklärte und andere Parteien verboten (Einparteienstaat). Anfang 1934 wurden sodann die Länder samt ihrer Parlamente aufgelöst und der Reichsrat aufgehoben. Das Deutsche Reich war damit zu einem Einheitsstaat geworden.

Nach dem Tode des Reichspräsidenten Hindenburgs am 2.8.1934 wurde durch das „Gesetz über das Staatsoberhaupt“ das Amt des Reichspräsidenten beseitigt und dessen Befugnisse mit denen des Reichskanzlers auf den „Führer und Reichskanzler“ übertragen. Dadurch wurde die Diktatur vollendet. Vom Reichstag ließ sich Hitler 1942 noch zum „obersten Gerichtsherrn“ proklamieren.

Der totalitäre Unrechtsstaat entfachte im Innern eine Schreckensherrschaft und führte nach Außen einen Angriffskrieg gegen weite Teile der Welt, der zu ca. 80 Millionen Kriegstoten und zum Zusammenbruch des Deutschen Reiches führte.

Als unmittelbare Reaktionen auf diese Verbrechen des Nationalsozialismus können insbesondere folgende Bestimmungen des Grundgesetzes gewertet werden:

die Ausrichtung der Verfassung auf die unantastbare Menschenwürde, deren Schutz durch staatliche Gewalt und deren Unabänderlichkeit (Art. 1 Abs. 1, Art. 79 Abs. 3 GG),

die Bindung aller staatlichen Gewalten inklusive der Gesetzgebung an die Grundrechte, welche unmittelbare subjektive Rechte darstellen (Art. 1 Abs. 3 GG),

das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten (Art. 1 Abs. 2 GG),

das Verbot des Angriffskrieges (Art. 26 GG) und

die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG).

II. Abkehr von Regelungen der Weimarer Reichsverfassung

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In der historischen Rückschau enthielt die Weimarer Reichsverfassung einige prägende Merkmale, die sich aus Sicht des Parlamentarischen Rates als besonders problematisch erwiesen haben.Vgl. Protokolle des Parlamentarischen Rates Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 1 (1951). Hierzu gehörten insbesondere die starke Stellung des unmittelbar vom Volk gewählten Reichspräsidenten sowie das Fehlen von effektiven Schutzmechanismen gegen Verfassungsfeinde und wirksamen Vorkehrungen zur konstruktiven Aufarbeitung von Regierungskrisen. Zudem wurde den Grundrechten die Wirkung genommen, da viele durch einfache Gesetze abänderbar waren und durch Verordnung des Reichspräsidenten außer Kraft gesetzt werden konnten.

Staatsoberhaupt war nach der Weimarer Reichsverfassung ein unmittelbar für die Dauer von sieben Jahren vom Volke gewählter Reichspräsident. Dieser vereinigte eine erhebliche Machtfülle in seiner Person („Ersatzkaiser“). Er konnte die Reichsregierung ernennen und entlassen, hatte das Recht zur Auflösung des Reichstages, war Oberbefehlshaber über die gesamte Wehrmacht des Reiches, hatte die Möglichkeit zur Reichsexekution gegen einzelne Gliedstaaten, konnte Volksentscheide über Gesetze anordnen und hatte ein Notverordnungsrecht nach Art. 48 Abs. 2 WRV „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Zu diesem Zweck durfte er vorübergehend auch bestimmte Grundrechte „außer Kraft setzen“.

Weitere oberste Staatsorgane waren insbesondere der Reichstag, der Reichsrat und die Reichsregierung. Der Reichstag wurde nach dem Verhältniswahlsystem ohne wahlrechtliche Sperrklausel auf vier Jahre gewählt. Er war zwar das maßgebliche Gesetzgebungsorgan, konnte aber vom Reichspräsidenten ohne weitere Voraussetzungen jederzeit aufgelöst werden (Art. 25 Abs. 1 WRV). Weitere Einschränkungen bestanden infolge des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten. Zwar konnte der Reichstag Notverordnungen nach Art. 48 Abs. 3 WRV wieder außer Kraft setzen, musste für diesen Fall aber seine Auflösung befürchten. Der Reichsrat war die Vertretung der Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches (Art. 60 WRV). Die Reichsregierung war neben dem mächtigen Reichspräsidenten das zweite Exekutivorgan. Sie bestand aus dem Reichskanzler und den Reichsministern. Die Ernennung der Regierung stand dem Reichspräsidenten zu und bedurfte der Bestätigung durch den Reichstag. Der Rücktritt eines Regierungsmitgliedes konnte sowohl vom Reichstag beschlossen als auch vom Reichspräsidenten angeordnet werden. Das Misstrauensvotum des Reichstages war destruktiver Natur, d.h. es war nicht an die Mehrheit für einen neuen Amtsinhaber gekoppelt.

Die Weimarer Reichsverfassung enthielt des Weiteren einen Grundrechtskatalog. Einige dieser Grundrechte wie die Justizgrundrechte, die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen und die Eigentumsgarantie galten unmittelbar, andere waren aber durch einfache Gesetze oder durch Notverordnung des Reichspräsidenten abänderbar. Zudem gab es weder eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Grundrechte noch eine Verfassungsgerichtsbarkeit zu ihrem Schutz.  

Expertentipp

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Bitte lesen Sie die folgenden Normen und überlegen sich deren Zweck im historischen Kontext.

Eine bewusste Abkehr von Regelungen der Weimarer Reichsverfassung aufgrund der gemachten Erfahrungen vollzieht das Grundgesetz deshalb insbesondere in folgenden Bereichen („Lehren von Weimar“):

der Bundespräsident als Staatsoberhaupt wird nicht unmittelbar vom Volke gewählt und hat – anders als der Reichspräsident in der Weimarer Reichsverfassung – überwiegend repräsentative, staatsnotarielle und integrative Funktionen;

das Grundgesetz ist anders als die Weimarer Reichsverfassung wertgebunden, tritt daher für die freiheitlich demokratische Grundordnung ein und wehrt sich gegen ihrer Gegner („wehrhafte Demokratie“); dies zeigt sich insbesondere in der Möglichkeit eines Parteiverbotes nach Art. 21 Abs. 2 und Abs. 4 GG;

der Bundeskanzler kann vom Parlament nur gestürzt werden, wenn sich eine entsprechende Mehrheit für einen neuen Bundeskanzler findet (konstruktives statt destruktives Misstrauensvotum, Art. 67 GG);

Grundrechte sind unmittelbar geltende subjektive Rechte und gerichtlich durchsetzbar, Art. 19 Abs. 4 GG (später auch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG);

anders als die Weimarer Reichsverfassung kann das Grundgesetz nicht durch abweichende Gesetze modifiziert werden, ohne dass nicht der Text des Grundgesetzes ausdrücklich geändert worden ist (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG) und

bestimmte Verfassungsänderungen sind nach Art. 79 Abs. 3 GG gar nicht möglich („Ewigkeits- oder Sperrklausel“).

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