Inhaltsverzeichnis
- E. Das Bundesstaatsprinzip
- I. Das Bundesstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Grundentscheidung
- II. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
- III. Die Länder als eigene Staaten in der Bundesrepublik Deutschland
- IV. Gegenseitige Einflussnahme bei Bund und Ländern
- V. Der Grundsatz der Bundestreue
E. Das Bundesstaatsprinzip
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Art. 20 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die Bundesrepublik als Bundesstaat. Das Bundesstaatsprinzip ist normativ dort gleich doppelt verankert, in dem es heißt:“ Die Bundesrepublik ist ein…Bundesstaat.“
Die Bedeutung des Bundesstaatsprinzips als wesentlichen Strukturprinzip für den Staatsaufbau wird durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG unterstrichen. Weder die aus Art. 20 GG sich ergebenden Grundsätze des Bundesstaatsprinzips noch die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung dürfen geändert werden.
Expertentipp
Bitte wiederholen Sie an dieser Stelle die Grundsätze der Allgemeinen Staatslehre in Rn. 2–5.
Gegensätze zum Bundesstaat bilden einerseits der Einheitsstaat und andererseits der Staatenbund.
Hinweis
Bei einem Einheitsstaat (Bsp. Frankreich) existiert nur ein einheitlicher Staat, der allenfalls Verwaltungsuntergliederungen ohne eigene Staatsqualität kennt. Beim Staatenbund (Bsp. Afrikanische Union) haben nur die im Staatenbund zusammengeschlossenen Staaten Staatsqualität, nicht aber der Bund selber. Die Europäische Union ist weder Bundesstaat noch Staatenbund, sondern ein dazwischen einzuordnender „supranationaler Staatenverbund“.BVerfGE 89, 155, 184, 190.
I. Das Bundesstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Grundentscheidung
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Die sechzehn Bundesländer sind in Satz 2 der Präambel aufgeführt. Sie haben aufgrund ihrer Staatsqualität jeweils ein eigenes Staatsvolk („Landesvolk“, aus dem sich die Wahlberechtigten für die Landtagswahl ergeben), Staatsgebiet und eine eigene Staatsgewalt, die näher in der jeweiligen Landesverfassung ausgestaltet ist und durch eigene Landesorgane (insbesondere Landtag, Landesregierung, Gerichte) ausgeübt wird.
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Das Bundesstaatsprinzip umfasst die Staatlichkeit sowohl des Bundes als auch der Gliedstaaten. Als Bundesstaat besteht die BR Deutschland damit aus siebzehn Staaten: Die sechzehn Bundesländer und die BR Deutschland selbst. Sowohl Bundes- als auch Länderorgane üben eine im Rahmen ihrer Kompetenz jeweils unabhängige Staatsgewalt aus. Die Staatsqualität der Länder (und des Bundes) kommt ausdrücklich in der Abgrenzungsnorm des Art. 30 GG zum Ausdruck, da dort die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben als Sache der Länder beschrieben werden, soweit nicht das Grundgesetz dies dem Bund zuweist.
Das Bundesstaatsprinzip ist in Deutschland historisch begründet.Zur historischen Verankerung des Bundesstaatsprinzips Degenhart Staatsrecht I Rn. 471 f. In der Umsetzung bedeutet es eine Stärkung der Demokratie:
• | Stärkere Rückkopplung des Bürgers an die Politik |
• | Stärkung der Opposition |
• | Vertikale Gewaltenteilung |
II. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
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Die Ausübung der Staatsgewalt ist zwischen Bund und Ländern verteilt. Dabei gilt grundsätzlich das Primat der Länder: Nach Art. 30 GG ist die Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben und Befugnisse Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Bei der Gesetzgebung wird diese Regel in Art. 70 Abs. 1 GG wiederholt, allerdings durch die Art. 71 ff. GG zugunsten des Bundes deutlich eingegrenzt. Die Ausführung der Gesetze und die sonstige gesetzesfreie Verwaltung sind überwiegend Sache der Länder (Regelvollzug), Art. 83 GG. Nach Art. 92 ff. GG sind die Länder für die Rechtsprechung verantwortlich, mit Ausnahme der Bundesgerichte und des BVerfG. Hinsichtlich der auswärtigen Gewalt gilt hingegen das Primat des Bundes, Art. 32 GG.
Im Falle einer Normenkollision zwischen Bundesrecht und Landesrecht gilt Art. 31 GG: Bundesrecht bricht Landesrecht
(vgl. hierzu Rn. 50).
III. Die Länder als eigene Staaten in der Bundesrepublik Deutschland
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Die Länder haben das Recht, ihre Staatsorganisation eigenständig zu regeln. Eine Grenze dieser selbstständigen Befugnis bildet allerdings die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG als Sonderregel zu Art. 31 GG:
Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.
Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG bringt als Homogenitätsprinzip nur eine grundsätzliche Orientierung zum Ausdruck und darf nicht als Uniformitätsgebot fehlinterpretiert werden. Dieses wird deutlich durch die Verwendung der Begriffe „entsprechen“ (statt „einhalten“) und „Grundsätze“ der Staatsstrukturprinzipien (d.h. nicht in vollem Umfang).
Beispiel
Die Landesverfassungen enthalten Elemente direkter Demokratie in Form von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden, die das Grundgesetz allenfalls ansatzweise kennt (vgl. Rn. 24). Diese zusätzlichen Formen unmittelbarer Demokratie entsprechen noch den Grundsätzen des Demokratieprinzips im Grundgesetz. Zwar geht dieses von der Grundkonzeption einer mittelbaren repräsentativen Demokratie aus, allerdings zeigt die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG normierte grundsätzliche Erwähnung von „Abstimmungen“, dass auch dem Grundgesetz unmittelbare Demokratieelemente nicht wesensfremd sind.
Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
• | Die Verfassung der Länder muss den Grundsätzen des Grundgesetzes, also Republik, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat entsprechen. Das heißt, die Landesverfassungen müssen die Leitentscheidungen des Grundgesetzes aufnehmen und anerkennen. |
Hinweis
Folge: Eine Regelung in der Landesverfassung, die dem Grundgesetz widerspricht, ist nichtig.
• | Das Volk muss eine Vertretung haben, die aus „allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist“. Das bedeutet, dass die Volkssouveränität auch in den Ländern gilt. Es werden von den Wahlberechtigten der Landesvölker die Landtage gewählt. Die Länder werden durch eigene Regierungen regiert, die sich demokratisch durch die Wahlentscheidung des jeweiligen Landtages legitimieren. |
Hinweis
Die Wahlen zu den Landtagen richten sich nach Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, nicht nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (der nur für die Wahl des Bundestages gilt). Die Grundprinzipien der Wahl sind aber gleich.
• | Es muss auch Volksvertretungen auf der Ebene der Gemeinden und Kreise geben.Vgl. dazu Bätge Kommunalrecht NRW, Rn. 113 ff. |
IV. Gegenseitige Einflussnahme bei Bund und Ländern
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Grundsätzlich sind die Zuständigkeiten und Arbeitsbereiche von Bund und Ländern streng voneinander getrennt. Es bestehen aber Mechanismen der gemeinsamen Koordination und Kontrolle. Die Länder wirken durch den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung, an der Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mit (Art. 50 GG). Bei der Gesetzgebung geschieht dies – abhängig von der Art des Gesetzes – durch das Einspruchsrecht bzw. der Zustimmungspflicht; im Bereich der vollziehenden Gewalt etwa durch die Zustimmungsbedürftigkeit von Rechtsverordnungen gem. Art. 80 Abs. 2 GG, bei Angelegenheiten der Europäischen Union durch die Mitwirkungsbefugnisse gem. Art. 23 Abs. 2 S. 1 und Abs. 4–7 GG. Gerichtliche Kontrolle über Handlungen des Bundes können die Länder durch die Anrufung des BVerfG im Bund-Länder-Streitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und 4 GG sowie im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ausüben.
Umgekehrt kann auch der Bund auf die Länder einwirken: Er führt Aufsicht über den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder (Art. 84 Abs. 3, Abs. 4 und Art. 85 Abs. 4 GG) und hat nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2–4 GG bei Auseinandersetzungen mit den Ländern die Möglichkeit, das BVerfG anzurufen. Einflussnahme kann schließlich auch im Wege des Bundeszwanges nach Art. 37 GG geschehen, wenn ein Land die ihm kraft Bundesgesetz obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt.
V. Der Grundsatz der Bundestreue
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Der Grundsatz der Bundestreue bzw. des bundesfreundlichen Verhaltens begründet über das geschriebene Recht hinaus Rechte und Pflichten von Bund und Ländern. Er verpflichtet Bund und Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen“.BVerfGE 81, 319, 337. Er gilt im Verhältnis von Bund und Ländern, aber auch zwischen den Ländern.
Die aus dem Prinzip bundesfreundlichen Verhaltens ableitbaren Pflichten reichen von Informations-, Abstimmungs-, und Zusammenarbeitsgeboten bis zur Verpflichtung, eine Kompetenz im Einzelfall nicht auszuüben bzw. sie in einer bestimmten Weise wahrzunehmen.
Beispiel
Der Bund verletzt den Grundsatz der Bundestreue, wenn er vor Erlass einer Weisung gem. Art. 85 Abs. 3 GG dem Land keine Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Die Länder verletzen den Grundsatz, wenn sie Verhandlungen mit dem Bund willkürlich zum Scheitern bringen.
Beispiel
Für die Regelung der Staatsangehörigkeit ist ausschließlich der Bund zuständig (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG). Es handelt sich hierbei nicht um eine örtliche Angelegenheit im Sinne von Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG; so dass eine Befassungskompetenz der Gemeinden ausscheidet. Wenn ungeachtet dessen ein Gemeinderat eine kritische Resolution zu der Staatsangehörigkeit beschließt, handelt er rechtswidrig. Nach der Landesgemeindeordnung steht der Landesaufsichtsbehörde grundsätzlich ein Ermessen beim Einschreiten zur Verfügung. Aufgrund des Grundsatzes der Bundestreue ist ihr Ermessen in solchen Fällen aber auf Null reduziert, d.h. sie muss einschreiten.Vgl. ausführlich Bätge Kommunalrecht NRW, Rn. 354 ff.
Das Prinzip der Bundestreue zieht der Kompetenzausübung jedoch nur bestimmte äußerste Grenzen. Es dient primär der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Staates im Ganzen und nicht dem Schutz subjektiver Rechte.Morlok/Michael Staatsorganisationsrecht Rn. 393.