Inhaltsverzeichnis
D. Ersatz immaterieller Schäden
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Bei der Schadensfeststellung haben wir bereits gesehen, dass Schäden in wirtschaftlichen Einbußen bestehen können, aber eben auch aus immateriellen Nachteilen.
I. Naturalrestitution (§ 249)
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Die Regel des § 253 Abs. 1 erlaubt bei Nichtvermögensschäden eine Restitution in Geld nur in den gesetzliche geregelten Fällen (§§ 253 Abs. 2, 11 S. 2 StVG, 8 ProdHG). Eine Naturalrestitution ist hingegen immer zulässig, sofern sie überhaupt möglich ist.
Beispiel
Wer ein altes Urlaubsdia eines anderen unbefugt und schuldhaft an sich genommen hat, muss es auch über den Schadensersatz zurückgeben: §§ 823 Abs. 1, 249 Abs. 1.
Wer jemanden in der Ehre verletzt, muss sich entschuldigen, §§ 823 Abs. 1, 249 Abs. 1 bzw. §§ 823 Abs. 2 i.V.m. § 185 StGB, 249 Abs. 1 und ggfs. seine Äußerungen widerrufen.
Grüneberg/Grüneberg § 253 Rn. 3.Wer jemanden durch Täuschung zu einem wirtschaftlich neutralen Vertrag verleitet hat, schuldet dem Getäuschten Aufhebung und Rückabwicklung des Vertrages, etwa aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 249 Abs. 1.
BGH Urteil vom 31. Mai 2010 (Az: II ZR 30/09) unter Tz. 19 = NJW 2010, 2506 ff.II. Schmerzensgeld
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Prüfungsschema
Wie prüft man: Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2
I. | Rechtsgutsverletzung i.S.d. § 253 Abs. 2 | |
II. | Schadensersatzpflicht des Anspruchsgegners wegen der Rechtsgutsverletzung | |
| = Inzidente Prüfung des Haftungstatbestandes (z. B. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 oder § 823 Abs. 1), sofern nicht bereits wegen Vermögensschadens an anderer Stelle geprüft; | |
| = Rechtsgutsverletzung i.S.d. § 253 Abs. 2 ist dabei entweder bereits haftungsbegründend (z. B. § 823 Abs. 1) oder haftungsausfüllender (immaterieller) Schaden (z. B. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2) | |
III. | Rechtsfolge: Billige Entschädigung in Geld unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände |
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Unter den Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 kann man für einen immateriellen Schaden eine „billige Entschädigung in Geld“ fordern.
Diese müssen Sie in der Klausur nicht ausrechnen! Bei der spezialgesetzlichen Gefährdungshaftung existieren dabei vergleichbare Tatbestände (vgl. § 8 S. 2 ProdHaftG sowie § 11 S. 2 StVG), die § 253 Abs. 2 BGB als speziellere Normen verdrängen.408
Eine Verpflichtung zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes setzt nach § 253 Abs. 2 voraus, dass ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung eines der in § 253 Abs. 2 aufgeführten höchstpersönlichen Rechtsgüter dem Grunde nach gegeben ist, gleich aus welchem Rechtsgrund (§§ 280 ff., 678, 823 etc.).
Hinweis
Die Rechtsnatur des Schmerzensgeldanspruches wird oft unterschiedlich gesehen. Bei dem Anspruch auf Schmerzensgeld handelt es sich nach der wohl überwiegenden Auffassung um einen selbständigen Anspruch eigener Art, der tatbestandsmäßig an (1) eine Verletzung eines der im Tatbestand genannten Rechtsgüter und (2) an eine deswegen bestehende Schadensersatzpflicht gekoppelt ist. § 253 Abs. 2 ist danach Anspruchsgrundlage mit partieller Rechtsgrundverweisung auf den in Bezug genommenen Haftungstatbestand, der wegen der Rechtsgutsverletzung erfüllt ist.
Vgl. BGH Urteil vom 9.7.2009 (Az: IX ZR 88/08) unter Tz. 10, 13 = NJW 2009, 3025 ff. Für die Qualität einer Anspruchsgrundlage spricht, dass § 253 Abs. 2 Tatbestand und Rechtsfolge regelt. Die teilweise Bezugnahme auf andere Normen (hier Haftungstatbestand wegen Rechtsgutsverletzung) ist im BGB als Regelungstechnik nicht ungewöhnlich (vgl. etwa § 284 mit Verweis auf Grundlage für Schadenersatz statt der Leistung oder den Verweis auf § 286 in § 280 Abs. 1, Abs. 2).Wenn Sie dieser Ansicht folgen, zitieren Sie als Anspruchsgrundlage „§ 253 Abs. 2 i.V.m. Haftungsnorm“ (z. B. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2). Wir empfehlen Ihnen diesen Weg, weil er manche Überfrachtung und Fehler in der Darstellung des haftungsausfüllenden Tatbestandes vermeidet. Außerdem empfiehlt es sich ohnehin, die Schadensersatzansprüche getrennt nach den einzelnen Schadenspositionen zu untersuchen. Prüft man das Schmerzensgeld hingegen als Einzelposten im Rahmen eines Gesamtanspruchs neben Vermögensschäden,
So MüKo-Oetker § 253 Rn. 15 f. – dafür spricht die systematische Stellung des § 253 Abs. 2. darf man ein etwaiges Mitverschulden nicht auf das Schmerzensgeld beziehen. Das Schmerzensgeld bemisst sich als „billige Entschädigung in Geld“ von vorneherein anhand aller Umstände auch unter Berücksichtigung eines etwaigen Mitverschuldens. § 254 ist daneben nicht mehr – wie sonst – zusätzlich als anspruchskürzender Einwand anwendbar.Grüneberg/Grüneberg § 253 Rn. 20. Wenn Sie diesen Fehler vermeiden, können Sie selbstverständlich § 253 Abs. 2 auch so behandeln wie § 249 oder § 251: als reine Normen zur näheren Bestimmung der Haftungsausfüllung.Es handelt sich letztlich nur um eine Frage des Aufbaus und des richtigen Umgangs mit einem etwaigen Mitverschulden.
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Zwar ist die Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in § 253 Abs. 2 nicht eigens aufgeführt. Damit ist aber nicht gemeint, dass ein Schmerzensgeldanspruch in diesen Fällen ausscheidet. Vielmehr wird ein solcher Anspruch unmittelbar aus dem deliktischen Schutz des Persönlichkeitsrechts als „sonstiges Recht“ i.S.d. § 823 Abs. 1 abgeleitet und die Vorschrift des § 253 Abs. 2 als insoweit unmaßgeblich angesehen.
Grüneberg/Grüneberg § 253 Rn. 10. Allerdings erfordert eine Schmerzensgeldzahlung danach eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts.MüKo-Oetker § 253 Rn. 27 mit Verweis auf MüKo-Riecker Anhang zu § 12 Rn. 221 ff.III. Sonderfall: Entzogene Gebrauchsmöglichkeit
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Grüneberg/Grüneberg § 253 Rn. 10.Die Frage der Ersatzfähigkeit immaterieller Schäden kann sich auch in den folgenden Fällen eines Nutzungsausfallschadens stellen. Hier führt ein haftungsbegründendes Ereignis dazu, dass dem Geschädigten eine Sache und damit die Gebrauchsvorteile dieser Sache entzogen werden. Nicht der potentielle Nutzer fällt aus, sondern die zu nutzende Sache.
Beispiel
E ist Eigentümer und Halter eines Wohnmobils, das er für seine Urlaubsreisen nutzt. Kurz bevor E damit in seinen Sommerurlaub aufbrechen will, macht er mit seinem Wohnmobil eine kurze Ausflugsfahrt. Dabei verschuldet S einen Auffahrunfall, bei dem das Wohnmobil einen erheblichen Schaden erleidet und repariert werden muss. Für die Urlaubsreise steht das Wohnmobil definitiv nicht mehr zur Verfügung.
1. Variante: E musste sich wegen der Reparaturarbeiten ein Wohnmobil mieten, um seine im August geplante Urlaubsreise durchzuführen.
2. Variante: E hat auf eine Anmietung verzichtet.
1. Tatsächlich entstandene Mehrkosten
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Wendet der Gläubiger im Fall des Sachentzuges Kosten für eine vorübergehende Beschaffung des Leistungsgegenstandes auf, stellen sich diese als durch den Sachentzug veranlasste und zweckdienliche Aufwendungen dar. Es handelt sich damit um eine ersatzfähige (materielle) Schadensposition (siehe oben Rn. 350). Diese Kosten wären bei hypothetischer Betrachtung nicht angefallen. Im Beispiel kann E also die Mietkosten ersetzt verlangen, wenn er tatsächlich ein Wohnmobil gemietet hat. Allerdings besteht der ersatzfähige Schaden nicht in voller Höhe der tatsächlich aufgewendeten Kosten, wenn der Gläubiger tatsächlich eigene Aufwendungen gespart oder sonstige Vorteile erlangt hat (z. B. ersparte Abnutzung des eigenen Wohnmobiles). Nach dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot sind diese Vorteile anzurechnen („Vorteilsausgleichung“, siehe Rn. 353).
Grüneberg/Grüneberg § 249 Rn. 32: bis 10 % Abzug von den Mietwagenkosten.2. Ersatzfähigkeit entgangener Gebrauchsmöglichkeit in sonstigen Fällen
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Fraglich ist aber, ob im Beispiel ein ersatzfähiger Schaden auch dann anzunehmen ist, wenn der E auf die Anmietung verzichtet.
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Ausgangspunkt unserer Überlegungen sind §§ 251 Abs. 1, 253.
Da eine entgangene Nutzungsmöglichkeit nicht mehr (rückwirkend) gewährt werden kann, scheidet eine Naturalrestitution gem. § 249 Abs. 1 aus. In Betracht kommt allein eine Entschädigung in Geld wegen Unmöglichkeit der Naturalrestitution nach § 251 Abs. 1.
Nach § 253 Abs. 1 sind grundsätzlich nur Vermögensschäden in Geld ersatzfähig. Immaterielle Schäden können innerhalb des BGB nur nach Maßgabe des § 253 Abs. 2 oder der § 651n Abs. 2 in Geld ersetzt werden („Schmerzensgeld“). Im Beispiel fehlt es aber an der nach § 253 Abs. 2 erforderlichen Rechtsgutsverletzung.
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Nach der Differenzhypothese besteht der Nachteil erst einmal darin, dass der Gläubiger die Sache für die Zeit ihrer Vorenthaltung nicht nutzen kann. Wenn ihm dadurch Gewinn entgeht oder Mietkosten entstehen, liegt nach der Differenzhypothese ein ersatzfähiger Vermögensschaden vor.
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Löst die entgangene Nutzungsmöglichkeit hingegen keinen direkten Vermögensnachteil aus, scheint die entgangene Nutzung lediglich einen immateriellen Schaden darzustellen, der nach § 253 Abs. 1 grundsätzlich nicht in Geld ersetzt werden darf. Im Beispiel stellt sich E also besser, wenn er ein Wohnmobil anmietet, als wenn er darauf verzichtet und damit dem säumigen Schuldner Kosten erspart.
Dies wird für unbillig gehalten, so dass die Rechtsprechung nach Korrekturmöglichkeiten gesucht hat, die heute grundsätzlich anerkannt sind.
Vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung bei Grüneberg/Grüneberg § 249 Rn. 40-52.416
Wenn die vorenthaltene Sache auf dem Markt vermietet wird, hat ihre Nutzungsmöglichkeit einen Marktwert. Der Marktwert kann in Kosten für die Anmietung einer vergleichbaren Ersatzsache gesehen werden. Die wirtschaftliche Werthaltigkeit kann man auch damit begründen, dass der Gläubiger des Ersatzanspruches für die vorenthaltene Sache finanzielle Mittel aufwenden musste, um sie zu erhalten.
BGH Urteil vom 10. Juni 2008 (Az: VI ZR 248/07) unter Tz. 8 m.w.N. Wenn die Nutzungsmöglichkeit eines Gegenstandes als solche ein Wirtschaftsgut darstellt, geht dieses Gut bei Vorenthaltung der Sache zeitweise unter. Wie der Verlust anderer Vermögenswerte stellt auch dieser Verlust grundsätzlich einen in Geld ersatzfähigen Vermögensschaden dar.BGH Urteil vom 10. Juni 2008 (Az: VI ZR 248/07) unter Tz. 6 m.w.N; ablehnend zum ganzen Ansatz: Gsell „Redaktionelle Anmerkung“ zur hier zitierten BGH-Entscheidung in ZjS 4/2008, S. 412 f., abrufbar unter www.zjs-online.com.417
Im Rahmen der Differenzhypothese ist beim hypothetischen Verlauf nun genau zu prüfen, ob der Gläubiger die Gebrauchsvorteile tatsächlich genossen hätte oder ob eine Nutzung ohnehin unterblieben wäre. Wäre eine tatsächliche Nutzung aus anderen Gründen unterblieben, wäre die bloße Nutzungsmöglichkeit für den Gläubiger wertlos gewesen. Dann kommt ein Ersatz für diesen Zeitraum nicht in Betracht.
BGH Urteil vom 10. Juni 2008 (Az: VI ZR 248/07) unter Tz. 7 m.w.N.Beispiel
Stellen Sie sich vor, E wäre im Ausgangsfall erkrankt und hätte die geplante Reise nicht antreten können. Dann steht fest, dass durch die Sachbeschädigung keine tatsächliche Nutzung vereitelt wurde. Ein Schadensersatzanspruch scheidet insoweit aus.
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Bis hierher ist die Problemlösung (hoffentlich) noch gut nachvollziehbar. Nun baut die Rechtsprechung aber einen Filter ein, um eine ausufernde Haftung zu vermeiden. Dies ist verständlich, weil sie sich in einer Grauzone zwischen Gesetzesauslegung und kompetenzwidriger „Gesetzesänderung durch Richterspruch“ bewegt und dabei keine „Flurschäden“ hinterlassen will.
Deswegen soll eine vorenthaltene Nutzungsmöglichkeit nur dann in Geld ersatzfähig sein, wenn „die Entbehrung der Nutzung fühlbar“ gewesen ist. Eine solche Fühlbarkeit ist nur bei Vorenthaltung solcher Gegenstände gegeben, „auf deren ständige Verfügbarkeit die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise angewiesen ist.“
BGH Urteil vom 10. Juni 2008 (Az: VI ZR 248/07) unter Tz. 7 m.w.N.Beispiel
Im Ausgangsfall fehlt eine solche „Fühlbarkeit“, da E das Wohnmobil für seine alltägliche Lebensführung nicht unbedingt brauchte. Ebenso hat der BGH entschieden, als es um die vereitelte Nutzungsmöglichkeit eines privaten Schwimmbads,
BGHZ 76, 179 ff. PelzmantelsBGHZ 63, 393 ff., WohnwagensBGHZ 86, 128 ff. oder MotorbootsBGHZ 89, 60 ff. ging.Anders ist zu entscheiden, wenn E das Wohnmobil als einzigen Wagen gekauft hätte und es auch im Alltag hätte nutzen wollen.
Hinweis
Beim Kriterium der „Fühlbarkeit“ gibt es kein richtig oder falsch – allein Ihre Argumentation entscheidet!
Denken Sie daran, dass diese Grundsätze nur zum Tragen kommen, wenn sich der Nutzungsausfall weder in einem entgangenen Gewinn noch in konkret entstandenen Mietkosten ausgedrückt hat.
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Liegt eine „fühlbare“ Beeinträchtigung vor, bemisst sich der Wert der entgangenen Gebrauchsvorteile regelmäßig an den Mietkosten für einen vergleichbaren Gegenstand, gekürzt um die Gewinnspanne eines Vermieters und die bei einer privaten Nutzung sonst angefallenen Nachteile (Abnutzung, Versicherungsprämie, etc.).
Grüneberg/Heinrichs Vorb. v. 249 Rn. 23 ff. – im Ergebnis etwa 30–40% der marktüblichen Miete.