Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung des BGH (Beschluss v. 26.04.2016, 2 StR 484/14 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de oder bei NStZ 2017, 22) zugrunde:
Der später verstorbene A hatte zusammen mit den Angeklagten H und D beschlossen, nachts einen am Bahnhof G installierten Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn AG zu sprengen und das darin befindliche Bargeld zu entwenden. Der Tatort war wegen seiner Abgeschiedenheit gezielt ausgewählt worden. Gemäß seinem Tatplan sollte D in unmittelbarer Nähe „Schmiere stehen“, H in ein bis zwei Kilometer Entfernung mit dem Auto warten und beide nach der Begehung vom Tatort abholen. A hingegen wollte die Sprengung vornehmen. Beim Auslösen der Explosion konnte A sich aber nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen, so dass er durch die Wucht der Detonation einige Meter durch die Luft geschleudert wurde und schließlich unter einer 25 kg schweren Metallabdeckung auf dem Rücken zu liegen kam. Der unmittelbar hinzukommende D stellte fest, dass sich um den Kopf des A eine Blutlache entwickelte, dass er eine 8 cm lange, bis zum Knochen reichende Wunde über der linken Augenbraue hatte und nicht ansprechbar war. Tatsächlich hatte sich A bei der Explosion auch einen Schädelbruch sowie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zugezogen. Zusammen mit dem durch die Detonation aufmerksam gewordenen H, der mittlerweile ebenfalls zum Tatort gekommen war, schleppten H und D den A zusammen mit 2 Geldkassetten ins Auto, um ihn vom Tatort weg zu bringen. Beide gingen dabei davon aus, dass A ärztliche Hilfe benötige und schwer verletzt sei. Aus Angst vor Entdeckung und hoher Strafe in dem Bundesland, in dem sie die Tat begangen hatten, wollten sie aber keinen Notruf absetzen oder aber A ins nächst gelegene Krankenhaus fahren. Sie fuhren vielmehr nach rund 2 stündiger Fahrt auf einen Bahnhof in einem anderen Bundesland, legten A dort ab und informierten anonym die Rettungskräfte, die dann aber nur noch den Tod des A feststellen konnten. Wie sich später herausstellte, war A aufgrund der Explosion so stark verletzt worden, dass auch eine sofort eingeleitete Rettungsmaßnahme den Tod, der während der Fahrt eintrat, wohl nicht hätte verhindern können. H hatte sich in der Hauptverhandlung dahingehend eingelassen, ihm sei klar gewesen, dass die Verletzungen schwer gewesen seien, der Geschädigte aber überleben werde. Bei dieser Einlassung könnte es sich um eine wahrheitswidrige Schutzbehauptung oder aber um die Wahrheit handeln.
Das LG Hanau hat beide Täter u.a. wegen versuchten Mordes bestraft. Die hiergegen gerichtete Revision des H war vor dem BGH erfolgreich.
Hinweis
Neben dem möglicherweise verwirklichten § 211 StGB haben sich die Täter jedenfalls strafbar gemacht wegen gemeinschaftlichen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion gem. §§ 308, 25 II StGB, gemeinschaftlicher gemeinschädlicher Sachbeschädigung gem. §§ 304, 25 II StGB sowie gemeinschaftlichem Diebstahl gem. §§ 242, 243 I Nr. 2, 25 II StGB. Die Taten stehen zueinander in Tateinheit.
Des Weiteren könnten sich gem. §§ 211, 212, 22, 23, 25 II StGB strafbar gemacht haben, indem sie A ins Auto legten und ihn 2 Stunden später am Bahnhof ablegten.
Expertentipp
Natürlich denkt man zunächst an §§ 211, 22, 13 durch das Unterlassen der ärztlichen Rettung. Diese haben die Täter aber letztlich nicht unterlassen, da sie A zwei Stunden später einer solchen Rettungsmaßnahme zuführten. Der Vorwurf liegt vielmehr darin, dass sie ihn vom Bahnhof wegbrachten und zu einem weit entfernten anderen Bahnhof brachten. Dies stellt aber eine Handlung dar, weswegen es auf § 13 StGB nicht ankommt.
Da A auch bei sofortigen Alarmieren eines Notarztes wahrscheinlich nicht hätte gerettet werden können, fehlt es an der Kausalität zwischen der Handlung und dem Erfolg. Der Transport des A war nicht kausal für den Tod. Damit ist die Tat nicht vollendet.
Im Tatentschluss ist nun der Vorsatz zu prüfen. In Betracht kommt allein dolus eventualis, der aber sorgfältig von der bewussten Fahrlässigkeit abzugrenzen ist, umso mehr als es Anhaltspunkte für eine bewusste Fahrlässigkeit gibt, wie hier die Einlassung des Angeklagten. Nach h.M. besteht auch der dolus eventualis aus einem Wissens- und einem Wollenselement. Das Wissenselemnt besteht darin, dass der Täter den Eintritt des Erfolges für möglich halten muss. Das Wollenselement besteht in der billigenden Inkaufnahme, wobei es ausreicht, dass er sich innerlich mit dem Erfolg abfindet.
Beide Elemente sind getrennt voneinander zu prüfen und mit sorgfältiger Argumentation zu bejahen. Der BGH hat stets deutlich gemacht, das sich bei Tötungsdelikten wegen der Überwindung einer gewissen Hemmschwelle aus § 261 StPO hohe Anforderungen an die Überzeugung des Gerichts ergäben.
Im vorliegenden Fall genügt die Begründung des LG diesen Anforderungen jedenfalls hinsichtlich des Wollenselementes nicht. Zu den Anforderungen an den dolus eventualis führt er zunächst folgendes aus:
„Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Tatumstände erfolgen …. Die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist dabei ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes …. Hinsichtlich des Willenselements sind neben der konkreten Angriffsweise regelmäßig auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation in die erforderliche umfassende Gesamtbetrachtung einzubeziehen …. Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Täter die Gefahr des Eintritts eines tödlichen Erfolgs ausnahmsweise nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten, ist der Tatrichter verpflichtet, sich hiermit auseinander zu setzen …. Bezugspunkt der Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes ist dabei die konkrete Tathandlung, die nach dem Vorstellungsbild des Täters den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges herbeiführen soll.“
Hinsichtlich des Wissenselementes kann mit überzeugender Begründung davon ausgegangen werden, dass die Angeklagten den Erfolgseintritt für möglich hielten. Sie erkannten die schweren Verletzungen, die Blutlache am Kopf und wussten um die Notwendigkeit ärztlicher Hilfe.
Problematisch ist aber nach Auffassung des BGH das Wollenselement:
„Das LG hat jedoch angenommen, dass der Angekl. H nach seinem Vorstellungsbild den Tod des A billigend in Kauf nahm, weil er ihn „durch seinen Transport […] bewusst von jeder Rettungsmöglichkeit“ habe fernhalten wollen. Dabei hat das SchwurG, das sich für seine Rechtsauffassung auf das Urteil des 1. Strafsenats vom 20.9.2005 (1 StR 288/05, NStZ-RR 2006, 10 f.) gestützt hat, nicht dargelegt, aufgrund welcher konkreten Tatsachen der Angekl. H annahm, der Schwerverletzte A hätte – am Tatort zurückgelassen – durch das Eingreifen Dritter gerettet werden können. Dies verstand sich hier auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls nicht von selbst. Zwar konnte die festgestellte ohrenbetäubende Explosion, die der Angekl. H auch in einer Entfernung rund zwei Kilometer vom Tatort entfernt noch wahrgenommen hatte, sowie das unerwartete Ausmaß der eingetretenen Zerstörung und der Umstand, dass sich der Tatort in der Nähe einer Ortschaft befand, für die Erwartung des Angekl. H sprechen, dass Polizei und Feuerwehr alsbald am Tatort eintreffen würden und den schwerverletzten A retten könnten. Auch der Umstand, dass der Mitangekl. D den Tatort absichern und „Schmiere stehen“ sollte, konnte auf die Erwartung des Angekl. hindeuten, dass der Bahnhof ungeachtet seiner Abgeschiedenheit und der nächtlichen Stunde von dritten Personen aufgesucht werden könnte. Von selbst verstand sich dies jedoch nicht und hätte näherer Darlegung und Erörterung in den Urteilsgründen bedurft.
Darüber hinaus hätte sich das LG bei Prüfung der voluntativen Seite des bedingten Tötungsvorsatzes näher mit der Einlassung des Angekl. H auseinandersetzen müssen. Dieser hatte angegeben, den Verletzten A gemeinsam mit dem Mitangekl. D in das Fahrzeug gelegt zu haben, um ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Der damit dokumentierte Rettungswille konnte gegen die billigende Inkaufnahme des tödlichen Erfolges des mit dem Tatopfer befreundeten Angekl. sprechen, auch wenn er außerdem bekundet hatte, dass ihm klar gewesen sei, dass A nur durch sofortige ärztliche Hilfe habe gerettet werden können. Dass der Angekl., der außerdem angab, angenommen zu haben, der Geschädigte A werde überleben, nicht auf ein Ausbleiben des – ihm unerwünschten – Erfolgs vertraute, verstand sich in Ansehung dieser widersprüchlich anmutenden Einlassungen nicht von selbst und hätte näherer Darlegung und Erörterung bedurft.
In Ansehung dieser Umstände hätte das SchwurG ungeachtet der Motivlage des Angekl., seine Beteiligung an der Automatensprengung zu verschleiern, das voluntative Element bedingten Tötungsvorsatzes sorgfältiger als geschehen begründen müssen.“
Expertentipp
Sie lernen aus dieser Entscheidung für Ihre Klausuren einmal mehr, dass Sie sich am Sachverhalt orientiert Mühe geben sollten, wenn es um die Abgrenzung dolus evetualis – bewusste Fahrlässigkeit geht. Machen Sie sich bewusst, dass Sie in der Rolle des Landgerichts sind und Ihre Prüfer in jener des BGH. Ihre Ausführungen müssen also „revisionsfest“ sein. Es geht bei Fällen dieser Art auch im 1. StEx weniger um die Abgrenzung der Theorien voneinander als vielmehr um eine überzeugende Argumentation.