Der Entscheidung (OLG Celle, Beschluss vom 20.04.2022 - 2 Ws 62/22 und 2 Ws 86/22 – abrufbar auf der Seite des OLG Celle) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Landgericht Verden hatte mit Beschluss vom 25.02.2022 die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den 1983 rechtskräftig freigesprochenen A als zulässig erachtet. A wurde seinerzeit vorgeworfen, die 17 Jahre alte Schülerin F als Anhalterin mitgenommen, gegen ihren Willen in ein Waldgebiet verbracht und dort vergewaltigt zu haben. Im Anschluss soll A zur Verdeckung der Tat mehrfach mit einem Messer auf F eingestochen und ihr die Kehle durchschnitten haben, was zum Tod der F führte. Die seinerzeitige Beweislage reichte nicht aus, um A zweifelsfrei wegen Vergewaltigung und Verdeckungsmord zu verurteilen. 2012 führte das Landeskriminalamt molekulargenetische Vergleichs-Untersuchungen von Sekretanhaftungen durch, die an der Kleidung der Toten sichergestellt worden waren. Diese Untersuchung, die seinerzeit nicht möglich war, kam zu dem Ergebnis einer Übereinstimmung mit den DNA-Merkmalen des A. Auch ein neueres Gutachten vom 16.03.2022 bestätigt diesen Befund.
Damit lagen laut LG Verden die Voraussetzungen des § 362 Nr. 5 StPO vor, weswegen das Gericht die Wiederaufnahme für zulässig erachtet hat und zugleich entsprechend dem Antrag der StA die Untersuchungshaft anordnete, was zur Festnahme des Beschwerdeführers am 25.02.2022 führte.
Hinweis
Als Haftgrund wurde § 112 Abs. 3 StPO aufgeführt. Laut Rechtsprechung des BVerfG muss die Norm aber verfassungskonform ausgelegt werden. Das bedeutet, dass Untersuchungshaft dann nicht angeordnet werden darf, wenn Haftgründe gem. § 112 Abs. 2 oder 112a StPO ausgeschlossen sind. In der Regel wird mit der zu erwartenden, lebenslangen Freiheitsstrafe der Fluchtanreiz begründet. Wenn dann noch, wie im vorliegenden Fall, gute Kontakte ins Ausland und eine Übertragung der Vermögenswerte auf die Kinder hinzukommen, können die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO bejaht werden.
Gegen diesen Beschluss legte der Verurteilte und jetzige Beschwerdeführer A sofortige Beschwerde gem. § 372 StPO ein. Die Zuständigkeit des OLG Celle ergibt sich aus den §§ 367 StPO, 140a GVG.
Die Beschwerde wurde zum einen damit begründet, dass kein dringender Tatverdacht hinsichtlich der Begehung eines Verdeckungsmordes gem. § 211 StGB besteht, da der Sexualverkehr einvernehmlich gewesen sei und die Tötung aus einem Affekt heraus begangen worden sei. Da eine Wiederaufnahme nur bei den im Gesetz genannten Delikten, die allesamt eine lebenslange, nicht verjährbare Freiheitsstrafe vorsehen, möglich ist, würden die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme fehlen.
Darüber hinaus wurde die Verfassungskonformität der durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit am 31.12.2021 in Kraft getretenen Nr. 5 in Zweifel gezogen. Das OLG Celle wurde aufgegeben, das Verfahren auszusetzen und die Angelegenheit gem. Art. 100 Abs. 1 GG (konkrete Normenkontrolle) dem BVerfG zur Entscheidung vorzulegen.
Das OLG bejahte jedoch die Verfassungskonformität und sah keine Veranlassung einer Vorlage.
In Betracht kommt zunächst ein Verstoß gegen „ne bis in idem“ also gegen das in Art. 103 Abs. 3 GG geregelte Verbot der Doppelbestrafung, welches auch die Garantie beinhaltet, nach einem rechtskräftigen Freispruch nicht erneut belangt werden zu können.
Dieses Verbot gilt und galt jedoch auch vor Einführung der neuen Nr. 5 nicht uneingeschränkt. Schon die Reichsstrafprozessordnung sah Ausnahmen vor, die den jetzigen Ausnahmen des § 362 Nr. 1 bis 4 StPO entsprechen. Als der historische Verfassungsgeber Art. 103 Abs. 3 GG aufnahm, bestanden diese Ausnahmen also schon seit geraumer Zeit, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass sich der Gesetzgeber bewusst für ein „Regel-Ausnahme-Prinzip“ entscheiden hat. Anhaltspunkte dafür, dass die bestehenden Ausnahmen die einzigen sein sollten, können aus den Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes nicht entnommen werden.
1981 hat das BVerfG klarstellend ausgeführt, „dass die Bezugnahme von Art. 103 Abs. 3 GG auf den bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Stand des Prozessrechts nicht bedeute, dass das überlieferte Verständnis des ne bis in indem-Grundsatzes für jede auftauchende Zweifelsfrage bereits eine verbindliche Auslegung durch die Rechtsprechung bereithalte. Stattdessen sei eine Weiterentwicklung in offenen Randbereichen und dogmatischen Zweifelsfällen zulässig. Art. 103 Abs. 3 GG stehe Grenzkorrekturen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht entgegen. Er garantiere nur den Kern dessen, was vorkonstitutionell als Inhalt des ne bis in indem-Grundsatzes in der Rechtsprechung herausgearbeitet worden sei“.
Vor diesem Hintergrund hat sich das OLG Celle nun gefragt, ob der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO in diesen unantastbaren Kernbereich eingegriffen hat. Dabei hat das Gericht auf das Rechtsstaatsprinzip verwiesen und einander gegenübergestellt zum einen die Rechtssicherheit, die gegen eine Verfassungskonformität der neuen Regelung sprechen könnte und auf der anderen Seite das gesellschaftliche Interesse an materieller Gerechtigkeit, welches für die Wiederaufnahme des Verfahrens bei besonders schweren Straftaten sprechen könnte.
Das OLG hat dazu folgendes ausgeführt: „Im Hinblick auf die Frage, ob durch die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO der Kernbereich des Mehrfachverfolgungsverbots in Art. 103 Abs. 3 GG verletzt wird, ist ferner in den Blick zu nehmen, dass die schuldangemessene Bestrafung schweren Unrechts auf der Grundlage einer zutreffenden Tatsachenermittlung das Kernanliegen des Strafrechts und ein Gebot der Rechtstaatlichkeit ist. Hierbei gewährt das Grundgesetz dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber einen weiten Raum freier politischer Gestaltung …. Der Gesetzgeber hat hiervon auf der Grundlage seiner vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zuerkannten Ermächtigung zur Korrektur des Schutzgehalts von Art. 103 Abs. 3 GG in Grenzbereichen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.01.1981, 2 BvR 873/80 – BVerfGE 56, 22) mit der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO zur Überzeugung des Senats in verfassungskonformer Weise Gebrauch gemacht. Er hat über die in § 362 Nrn. 1-4 StPO genannten Wiederaufnahmegründe einen weiteren Wiederaufnahmegrund für eine eng umrissene Ausnahmekonstellation geschaffen, der unter dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit eine herausragende Bedeutung zukommt. Die hierzu getroffene Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO bewegt sich im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit der Weiterentwicklung des in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten ne bis in idem-Grundsatzes in Randbereichen.“
Das OLG hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Wiederaufnahme nur unter engen Voraussetzungen in Betracht kommt:
- Bei Taten mit lebenslanger, nicht verjährbarer Freiheitsstrafe,
- bei dringendem Tatverdacht
- und neuen Tatsachen.
Insgesamt hat das OLG kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG gesehen, da „das Absehen von der schuldangemessenen Bestrafung eines Freigesprochenen bei den in § 362 Nr. 5 StPO aufgeführten schwersten Straftaten gegen das Leben für eine so evidente Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in den Rechtsstaat und den Rechtsfrieden mit den damit einhergehenden negativen Folgen für die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege hält, dass in diesen Fällen im Interesse der materiellen Gerechtigkeit der Grundsatz der Rechtssicherheit zurücktreten muss“
Schließlich hat sich das OLG noch mit dem Rückwirkungsverbot auseinandergesetzt. Zu beachten ist, dass es die Neuregelung noch nicht zum Zeitpunkt der Begehung der Tat gab.
Ein Verstoß gegen das spezielle Rückwirkungsverbot des Art. 102 Abs. 2 GG sieht das OLG aber nicht, da der „Schutzbereich dieses grundrechtsgleichen Rechts … mithin nur die rückwirkende Anwendung von materiell-rechtlichen Bestimmungen des Strafrechts (untersagt). Auf Änderungen des Strafprozessrechts findet Art. 103 Abs. 2 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daher keine Anwendung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.02.2021, 2 BvL 8/19 – BVerfGE 156, 354).“
Auch ein Verstoß gegen das allgemeine, sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Rückwirkungsverbot sieht das OLG nicht. Zu unterscheiden ist hier die echte von der unechten Rückwirkung. Bei einer echten Rückwirkung wird in einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen. Sie ist nur zulässig bei einem, dem Vertrauensschutz vorgehenden, überwiegenden Gemeinwohlinteresse.
Hierzu führt das OLG folgendes aus: „Diese sieht der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO in der notwendigen Wahrung der materiellen Gerechtigkeit und der Stabilisierung von Normen, welche Rechtsgüter von höchstem Verfassungsrang gegen besonders gefährliche und verwerfliche Angriffe, wie Mord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schützen. Die Integrität der Rechtsordnung würde besonders schwer beschädigt, wenn die vom Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO erfassten schwersten Straftaten unzureichend bewältigt bleiben müssten. Dies würde dem Rechtsstaatsprinzip und der Befriedungsfunktion des Strafrechts in unerträglicher Weise zuwiderlaufen (vgl. BT-Drs. 19/30399, S. 6 und 10). Der Senat hält diese Erwägungen für tragfähig. Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der rückwirkenden Anwendung der Neuregelung des Vermögensabschöpfungsrechts (Art. 316h EGStGB) als überwiegende, zwingende Gemeinwohlbelange auch die Notwendigkeit, „in normbekräftigender Weise“ der Rechtsgemeinschaft die Geltung des Rechts vor Augen zu führen und so „die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken“ sowie einem die „Rechtstreue der Bevölkerung abträglichen Eindruck eines erheblichen Vollzugsdefizits“ entgegenzuwirken, anerkannt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.02.2021, 2 BvL 8/19 – BVerfGE 156, 354).“
Da § 362 Nr. 5 StPO mithin weder gegen Art. 20 Abs. 3 noch gegen Art. 103 Abs. 2 und 3 GG verstößt, hat das OLG die Norm als verfassungskonform angesehen. Es konnte vor dem Hintergrund der vorliegenden Beweise auch nicht erkennen, dass die Annahme des dringenden Tatverdachts in Bezug auf einen Verdeckungsmord gem. § 211 StGB rechtsfehlerhaft war, so dass die gegen die Wiederaufnahmeentscheidung eingelegte Beschwerde ebenso erfolgslos war wie jene, die sich gegen den Erlass des Haftbefehls richtete.
Hinweis
Mittlerweile liegt die Angelegenheit dem BVerfG vor. Der Beschwerdeführer hat am 19. Mai 2022 Verfassungsbeschwerde eingelegt und eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 III GG und aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 20 III GG gerügt. Zugleich hat er im Wege der einstweiligen Anordnung die Außervollzugsetzung des Haftbefehls bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde beantragt. Dieser Antrag hatte teilweise Erfolg (BVerfG BeckRS 2022, 16783). Im Wege einer Folgenabwägung hat das BVerfG entschieden, dass der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt wird, sofern der Beschwerdeführer seine Ausweispapiere abgibt, sich 2 mal wöchentlich meldet und das Stadtgebiet nicht ohne Erlaubnis verlässt.