A. Sachverhalt (vereinfacht)
Der BGH (Beschluss vom 12.07.2023 - 6 StR 231/23 in NStZ 2023, 675) setzte sich mit folgendem Sachverhalt auseinander:
Die Angeklagte lebte zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer gemeinsamen drei Monate alten Tochter in einer Asylbewerberunterkunft. Sie fühlte sich zunehmend allein gelassen und hilflos. Am Abend des 6.8.2022 tötete sie das Kind mit mehreren Messerstichen. Zum Zeitpunkt der Tat war ihr Ehemann etwa 360 Meter vom Gebäude entfernt, in dem sich das Zimmer der Familie befand.
Das Landgericht stufte die Tat als Mord ein. Die Angeklagte habe heimtückisch gehandelt, indem sie die vorübergehende Abwesenheit ihres Ehemannes, der nicht mit einem Angriff auf das Kind gerechnet habe und als schutzbereiter Dritter anzusehen sei, bewusst zur Begehung der Tat ausgenutzt habe. Die Revision dagegen war erfolgreich.
B. Lösung
In Betracht kommt vorliegend der Mord §§ 212 Abs. 1, 211 StGB.
I. Tatbestand
1. Zunächst müsste der objektive Tatbestand vorliegen.
Der Tod eines Menschen liegt vor. Der Säugling ist tot.
2. Heimtücke
Fraglich ist allerdings, ob die Angeklagte heimtückisch handelte.
Vertiefung
Definition Heimtücke
Heimtücke ist die bewusste Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung. Arglos ist, wer sich bei Beginn des Tötungsversuches keines erheblichen tätlichen Angriffs auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit versieht. Wehrlosigkeit liegt vor, wer aufgrund seiner Arglosigkeit zur Verteidung außerstande oder in dieser erheblich eingeschränkt ist.
Bei der Tötung eines wenige Monate alten Säugling kommt es bei der Heimtücke nicht auf die Arg- und Wehrlosigkeit des Säuglings an. Dieses ist aufgrund seines jungen Alters nicht zu Argwohn und Gegenwehr fähig. Es kommt vielmehr auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten an. Ein schutzbereiter Dritter ist jede Person, die den Schutz des Kindes dauernd oder vorübergehend übernommen hat und dies im Tatzeitpunkt nicht ausübt, da sie dem Täter vertraut oder vom Täter ausgeschaltet wurde. Der BGH verlangt allerdings eine gewisse räumliche Nähe der Schutzperson zum Opfer. Dies setzt zwar nicht voraus, dass der schutzbereite Dritte unmittelbar zugegen ist, unerlässlich ist aber eine „gewisse räumliche Nähe“.
Es ist nach Umständen des Einzelfalls zu betrachten, ob der schutzbereite Dritte den Schutz wirksam erbringen konnte. Dafür muss grundsätzlich, wie bereits erwähnt, eine gewisse räumliche Nähe vorliegen. Eine solche räumliche Nähe liegt nicht vor, wenn die schutzbereite Dritte Person aufgrund der räumlichen Entfernung vom Tatort den tödlichen Angriff nicht wahrnehmen kann und eine Gegenwehr der schutzbereiten Person daher zu spät käme, weil zunächst eine räumliche Distanz überwunden werden muss. Eine Zurechnung der Arg- und Wehrlosigkeit zu Gunsten eines zu diesem unfähigen Säugling ist daher nur möglich, wenn der schutzbereite Dritte dem Angriff des Täters/ der Täterin auf den Säugling etwas entgegensetzen konnte.
Zu prüfen ist, ob es sich bei dem Vater des Kindes um einen schutzbereiten Dritten handelt. Dieser befand sich zum Zeitpunkt der Tat im Außengelände des Gebäudes, 360m entfernt von dem Säugling und der Mutter. An diesem Standort hatte er nicht die Möglichkeit einen Angriff auf sein Kind, wie durch einen Schrei nach einer ersten Verletzung, wahrzunehmen. Vorliegend handelte es sich daher beim Vater des Kindes im Zeitpunkt des Angriffes nicht um einen schutzbereiten Dritten. Die Angeklagte handelte daher nicht heimtückisch.
Andere Mordmerkmale kommen nicht in Betracht.
2. Subjektiver Tatbestand
Der subjektive Tatbestand liegt vor. Die Angeklagte handelte vorsätzlich bzgl. der Tötung des Säuglings.
II. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe
Solche sind nicht ersichtlich. Die Angeklagte handelte rechtswidrig und schuldhaft.
III. Ergebnis
Die Angeklagte hat sich des Totschlages nach § 212 StGB strafbar gemacht.