Die Wiederaufnahme des Verfahrens gehört zu den außergewöhnlichen Rechtsmitteln, die eine Rechtskraft durchbrechen können. Weitere die Rechtskraft durchbrechende Rechtsmittel sind die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 44 StPO und die Verfassungsbeschwerde.
Zu unterscheiden sind die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten gem. § 359 StPO und die Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten gem. § 362 StPO. Während § 359 StPO die Wiederaufnahme immer schon bei Vorliegen neuer Beweise oder Tatsachen erlaubte, wurde das in § 362 StPO erst in 2021 mit einer neuen Nr. 5 bei Straftaten die nicht der Verjährung unterliegen wie u.a. Mord gem. § 211 StGB eingeführt. Aufgrund der stets besser werdenden DNA Beweisführung kommt dieser Vorschrift in der Praxis eine durchaus erhebliche Relevanz zu.
Die Vorschrift war von Beginn an umstritten, wurde aber u.a. vom OLG Celle mit Beschluss vom 20. April 2022 als verfassungskonform angesehen.
Hinweis
Lesen sie hierzu unsere Entscheidungbesprechung im JURACADEMY Club: https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/wiederaufnahme-zuungunsten-verurteilten-verfassungskonform
Fraglich ist, ob § 362 Nr. 5 StPO vereinbar ist mit dem Grundsatz „ne bis in idem“, der sich aus Art. 103 Abs. 3 GG ergibt wonach „niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf“... Zwar sah auch der bisherige § 362 StPO schon Ausnahmen vor. So konnte ein Verfahren zuungunsten eines Freigesprochenen wieder aufgenommen werden, wenn z.B. eine unechte oder verfälschte Urkunde als Beweismittel in der Hauptverhandlung vorgebracht worden war oder aber ein Zeuge sich gem. § 153 StGB strafbar gemacht hatte bei seiner Aussage. In all diesen Fällen liegt jedoch ein mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil vor, welches eine Rechtskraftdurchbrechung rechtfertigt. Die 2021 eingeführte Nr. 5 sollte aber nach dem gesetzgeberischen Willen der Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit dienen.
Dies jedoch hat das BVerfG als verfassungswidrig angesehen und dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang eingeräumt vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Die Leitsätze des Urteils des BVerfG (Urteil vom 31.10.2023 – 2 BvR 900/22) lauten wie folgt:
1.
Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.
2.
Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.
3.
Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.
4.
Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
5.
Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
6.
Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.
Hinweis
Art. 103 Abs. 3 GG führt zu einem Strafklageverbrauch, welcher wiederum ein Verfahrenshindernis darstellt. Sofern das Verfahrenshindernis im Ermittlungsverfahren bekannt wird, ist das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, im Zwischenverfahren führt es zu einem Nichteröffnungsbeschluss gem. § 204 StPO, im Hauptverfahren außerhalb der Hauptverhandlung zu einer Einstellung des Verfahrens gem. § 206a Abs. 1 StPO und in der Hauptverhandlung zu einem einstellenden Urteil gem. § 260 Abs. 3 StPO. Zu beachten ist, dass sich der Strafklageverbrauch immer nur auf die prozessuale Tat beziehen kann. In der Klausur muss von daher genau überprüft werden, ob die zu begutachtende Tat identisch ist mit der vom Strafklageverbrauch umfassten Tat. Zur Bestimmung der prozessualen Tat kann man sich am materiell-rechtlichen Tatbegriff orientieren, so dass bei Tateinheit i.d.R. eine prozessuale Tat und bei Tatmehrheit mehrere prozessuale Taten angenommen werden können. Nähere Ausführungen dazu finden Sie in unserem StPO Kurs.