In 2021/2022 sind diverse Entscheidungen des BGH zum Mordmerkmal der Heimtücke in § 211 StGB ergangen, die wir mit dieser Rechtsprechungsübersicht einmal zusammenstellen wollen.
1. Zur Rechtsfolgenlösung
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, wie das Mordmerkmal der Heimtücke zu definieren ist. Mit der „Basis“ – Definition setzt die Heimtücke zunächst das bewusste Ausnutzen der Arg- und darauf beruhenden Wehrlosigkeit voraus. Da aber die heimliche Tötung häufig das Mittel des Schwächeren gegen den Stärkeren ist und aufgrund dessen nicht zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen muss, verlangt die h.Lit. darüber hinaus einen verwerflichen Vertrauensbruch, um das Tückische und damit das Verwerfliche der Tötung zu bestimmen. Andere Literaturvertreter grenzen die Heimtücke über eine Typenkorrektur ein. (weitere Ausführungen dazu nebst den entsprechenden Fundstellen finden Sie in der JURACADEMY, Tofahrn, Kurs Strafrecht BT I, Rn. 41 ff)
Der BGH belässt es mit Ausnahme einer normativen Korrektur in den Fällen, in denen eine Notwehrlage gegeben ist, bei der „Basis“ – Definition und löst Fälle, in welchen die Tötung einen nachvollziehbaren Anlass hat, auf Rechtsfolgenseite über § 49 I Nr. 1 StGB analog.
Dazu hat der BGH (NStZ 2021,105) folgendes ausgeführt:
„Der Große Senat für Strafsachen hat … entschieden, dass bei einer Tötung in heimtückischer Begehungsweise stets ein Schuldspruch wegen Mordes zu erfolgen hat und lediglich beim Vorliegen außergewöhnlicher mildernder Umstände eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung von § 49 I StGB in Betracht kommt… Die verfassungskonforme Rechtsanwendung gebiete die Ersetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe durch einen für Strafzumessungserwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungsweise mit Entlastungsmomenten zusammentreffe, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führten, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheine. Dazu gehörten etwa in großer Verzweiflung begangene oder aus gerechtem Zorn auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund hätten. Allerdings könne nicht jeder Entlastungsfaktor, der nach § 213 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles zu führen vermöge, genügen. Vielmehr könne das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, dass jener ‚Grenzfall‘ … eintrete, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich geminderter Schuld unverhältnismäßig wäre.“
Um einem vorschnellen Rückgriff auf die Rechtsfolgenlösung entgegenzutreten führt der BGH des Weiteren folgendes aus:
„Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen hat nichts daran geändert, dass im Regelfall für eine heimtückisch begangene Tötung auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen ist. Durch die Entscheidung wurde nicht allgemein ein Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle eingeführt. Die in dem Beschluss entwickelten Grundsätze für die Anwendung des gemilderten Strafrahmens betreffen nach der Rechtsprechung des BGH vielmehr nur solche Fälle, in denen das Täterverschulden so viel geringer ist, dass die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe das verfassungsrechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens missachten würde. Es müssen deshalb schuldmindernde Umstände besonderer Art vorliegen, die in ihrer Gewichtung gesetzlichen Milderungsgründen vergleichbar sind… Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Tatrichter aufgrund einer umfassenden Würdigung der Tat sowie der zu ihr hinführenden Umstände zu prüfen.“
2. Zum Heimtückemord an Kleinkindern
Das bewusste Ausnutzen der Arg- und darauf beruhenden Wehrlosigkeit setzt voraus, dass der Getötet überhaupt dazu fähig ist, Argwohn zu empfinden, damit er in der konkreten Situation arglos sein kann. Bei Schlafenden geht man davon aus, dass die Arglosigkeit mit in den Schlaf genommen wird, würde man sich doch nicht schlafen legen, erwartete man einen Angriff. Vor dem Hintergrund kann Arglosigkeit aber bei einem Sekundenschlaf ausscheiden, der das Opfer übermannt.
Bei Kleinkindern wird in der Regel erst ab einem gewissen Alter die Fähigkeit angenommen, argwöhnisch bzw. arglos zu sein. Dazu der BGH (BeckRS 2020, 19416) wie folgt: „Heimtückisches Handeln ist einem Kleinstkind gegenüber in der Regel nicht möglich, weil es nicht fähig ist, anderen Vertrauen entgegenzubringen …, wobei bei dreijährigen Kindern Arglosigkeit gegeben sein kann“
Eine heimtückische Tötung ist aber möglich, wenn die Arg- und Wehrlosigkeit eines Dritten ausgenutzt wird. Dies gilt aber nur, wenn der Dritte zum Zeitpunkt der Begehung der Tat schutzbereit ist.
„Allerdings ist schützender Dritter nur derjenige, der den Schutz des Kindes übernommen hat und ihn im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil er dem Täter vertraut… Der schutzbereite Dritte muss den Schutz auf Grund der Umstände des Einzelfalls wirksam erbringen können.“
Im zu entscheidenden Fall schlief die Mutter, als der Täter einen Brand legte, der sowohl sie als auch das Kleinkind hätte töten können. Der BGH hat mit den vorstehenden Erwägungen die Heimtücke verneint.
3. Zum Zeitpunkt der Beurteilung der Arglosigkeit
Die Arglosigkeit setzt voraus, dass das Opfers sich keines Angriffs auf sein Leben versieht. Problematisch sind die Fälle, in denen den mit Tötungsvorsatz ausgeführten Handlungen andere feindselige Handlungen vorangegangen waren. Versetzt also ein Täter einem Opfer nur mit Körperverletzungsvorsatz einen Schlag und sticht er danach mit Tötungsvorsatz auf das Opfer ein, dann ist fraglich, ob das Opfer noch arglos ist zum Zeitpunkt der Ausführung der Tötungshandlung.
Der BGH (NStZ 2021, 287) hat deutlich gemacht, dass es darauf ankomme, wieviel Zeit zwischen den Handlungen verstrichen sei. Er führt aus:
„Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rspr. des BGH kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs.“
Geht also der Täter unmittelbar von einem Körperverletzungsschlag zu einem Tötungsstich über, dann ist die Zeitspanne so kurz, dass Arglosigkeit abgenommen werden kann. Der Beurteilungszeitpunkt wird also vorverlagert.
Das Gleiche gilt, wenn der Täter das Opfer in eine Falle lockt und das Opfer dies nach Betreten der Falle erkennt, mithin also zum Zeitpunkt des Ausführens der Tötungshandlung nicht mehr arglos ist.
Dazu der BGH (NStZ 2021, 609) wie folgt:
„Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Dies gilt indes nicht uneingeschränkt. So ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat das heimtückische Vorgehen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB auch gerade in den Vorkehrungen liegen kann, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Ausführung der Tat noch fortwirken….
In den Fällen des Lockens in einen Hinterhalt ist es für die Erfüllung des Heimtückemerkmals ausreichend, dass der mit Tötungsvorsatz handelnde Täter das Tatopfer im Vorbereitungsstadium der Tat unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeiten bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Ob das Opfer zu Beginn des Tötungsangriffs noch arglos war, ist in diesen Sachverhaltskonstellationen ohne jede Bedeutung.“
4. Zur normativen Korrektur der Heimtückebegriffs
Wie bereits ausgeführt lehnt der BGH eine Eingrenzung des Mordmerkmals der Heimtücke über einen verwerflichen Vertrauensbruch oder eine Typenkorrektur ab. Er nimmt aber eine normative Einschränkung in den Fällen vor, in denen der Täter sich in einer vom Opfer herbeigeführten Notwehrlage gem. § 32 StGB befindet. In einer solchen Situation muss das Opfer, welches den gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff ausführt damit rechnen, dass der Angegriffene sich zur Wehr setzt. Dem Angreifer soll also der Schutz über § 211 StGB versagt werden, auch wenn er tatsächlich nicht mit einer Gegenwehr des Angegriffenen rechnet.
Die Sachverhalte, die der BGH zu entscheiden hatte, waren jeweils dadurch gekennzeichnet, dass das spätere Opfer den Täter zuvor erpresst hatte und die Erpressung noch nicht beendet war, als der Täter das Opfer tötete. Der BGH (BeckRS 2021, 41665) führt dazu folgendes aus:
„Denn in einer Konstellation, in der sich das Erpressungsopfer gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen erpresserischen Angriff durch Tötung seines Erpressers wehrt, ist regelmäßig der Erpresser der Angreifer, weil er durch sein Verhalten den schützenden oder trutzwehrenden Gegenangriff herausgefordert hat, mag dieser Gegenangriff sich nun iRd durch Notwehr Gerechtfertigten halten oder die Grenzen der Notwehr überschreiten… Da der Erpresser mit einer Ausübung des Notwehrrechts durch sein Opfer grundsätzlich jederzeit rechnen muss, spricht bereits die Grundkonstellation gegen dessen Arglosigkeit.
Das Mordmerkmal der Heimtücke ist insoweit einer – auch normativ orientierten – einschränkenden Auslegung zugänglich, die dem Wortsinn des Begriffs der Heimtücke mit dem ihm innewohnenden Element des Tückischen Rechnung zu tragen hat… Letztlich kann aber dahinstehen, ob das spätere Opfer des Gegenangriffs (der Erpresser) mit seinem konkreten Angriff auf die Willensfreiheit des Erpressungsopfers seine Arglosigkeit tatsächlich bereits verloren hat, weil es in einer von ihm geschaffenen Notwehrlage schon nach der gesetzlichen Wertung jederzeit mit einem Gegenangriff des Erpressten rechnen muss …, erscheint es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht, dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzubürden, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen.“