I. Das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehlosigkeit bei der Heimtücke
Die Definition der Heimtücke bei § 211 StGB ist streitig, wobei Uneinigkeit hinsichtlich der über die „Basis“ Definition hinausgehenden Einschränkungen des Tatbestandsmerkmals besteht.
Nach der „Basis“ Definition setzt die Heimtücke das bewusste Ausnutzen der Arg- und darauf beruhenden Wehrlosigkeit des Opfers voraus. (BGH 2 StR 445/21 – NStZ 2022, 541)
Wann ein solches bewusstes Ausnutzen vorliegt, kann im Einzelfall problematisch werden, insbesondere dann, wenn der Täter aus einer affektiven Erregung heraus spontan seinen Tötungsvorsatz fasst.
Mit einem solchen Fall musste sich der BGH (a.a.O.) auseinandersetzen:
Der bereits wegen mehrerer schwerer Gewaltdelikte einschlägig vorbestrafte, drogenabhängige und erwerbslose A hat in der Vergangenheit seine Ex-Freundinnen massiv körperlich drangsaliert und manipuliert, damit diese seine Drogensucht finanzieren. Im Zuge dessen hat er mehrfach mit Selbstmord gedroht und in einem Fall diesen auch dilettantisch versucht, um zuletzt O dazu zu bringen, bei ihm zu bleiben und ihn weiterhin zu finanzieren. Nachdem O sich von ihm getrennt und ihn auch bei der Polizei angezeigt hat, trifft sie ihn abends auf der Straße. Als A ihr erneut droht, er werde sich umbringen, wenn sie nicht zu ihm zurückkehre, erwidert O, dass man doch gleich im nahe gelegenen Supermarkt ein Messer kaufen könne, damit er seinen Entschluss nunmehr endgültig und erfolgreich umsetzen könne. Beide gehen dann in den Supermarkt, wo O ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 21 cm kauft und an A übergibt. A fordert nun die O erneut auf, zu ihm zurückzukehren, andernfalls werde er sich töten. Als er merkt, dass diese Drohung O, die ihm unmittelbar gegenübersteht, kalt lässt, fasst er aus Zorn über den Verlust einer Einnahmequelle, aus Wut über die Aussage der O und die endgültige Zurückweisung sowie aus Frustration über die Situation den Entschluss, nunmehr sie zu töten und sticht 33-mal auf sie ein, woraufhin O verstirbt.
Der Umstand, dass O das Messer besorgt und alsdann einigermaßen gelassen vor O steht, macht deutlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt trotz der gewalttätigen Vorgeschichte nicht mit einem Angriff des O rechnet und dementsprechend auch keine Abwehrmöglichkeit hat, als A das Messer gegen sie richtet.
Gleichwohl hat das LG Frankfurt a.M. die Heimtücke verneint, weil es das bewusste Ausnutzen dieser Situation durch A verneint hat. Für A spreche, dass „er die Geschädigte nach dem Verlassen des Marktes schon nicht von hinten angegriffen (habe), um sie so mit weniger Kraftaufwand zu töten. Hätte er die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten bewusst ausnutzen wollen, hätte er mit ihr einen verlassenen Ort aufgesucht und sie bis dahin weiter in Sicherheit gewähnt. Im Übrigen habe er sich in einer ihn psychisch belastenden und subjektiv emotional sehr verletzenden Situation befunden, weil ihm klar geworden sei, dass die Geschädigte weder zu ihm zurückkehren noch ihn weiter finanziell unterstützen würde.“ (NStZ 2022, 541)
Damit hat das LG aber nach Auffassung des BGH die Anforderungen an das „bewusste“ Ausnutzen zu hoch gesetzt. Der BGH (a.a.O.) führt folgendes aus:
„Ausreichend ist, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen … Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Täter die Arglosigkeit herbeiführt oder bestärkt ... Worauf die Arglosigkeit des Angegriffenen beruht, ist ohne Belang.
Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt …..Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat…..Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontanität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angekl. nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Maßgeblich sind die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit .“
Da es laut Gutachten eines Sachverständigen keine Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt gab (§ 21 StGB) sieht der BGH auch keine Anhaltspunkte dafür, dass A die Arg- und Wehrlosigkeit nicht erkannt habe.
II. Die niedrigen Beweggründe bei einem Motivbündel
In dem vorgenannten Fall hat das LG Frankfurt a.M. zudem die niedrigen Beweggründe verneint. Nach Auffassung des BGH halten auch diese Ausführungen einer näheren Überprüfung nicht stand. Dazu der BGH (a.a.O.):
„Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit einschließt. Gefühlsregungen wie Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht kommen nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie nicht menschlich verständlich, sondern Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind … Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt … Die Urteilsgründe lassen die gebotene Gesamtwürdigung vermissen.“
Das Problem besteht vorliegend darin, dass der Täter aus einem Motivbündel heraus gehandelt hat. Wie in einer solchen Situation zu verfahren ist, macht in seiner Anmerkung zur Entscheidung Herr Prof. Schneider deutlich (NStZ 2022, 541):
„Derart komplexe Motivbündel sind im Schwurgerichtsalltag häufig anzutreffen … In diesen Fällen sind zunächst die auf den Täter seinerzeit einwirkenden Tatantriebe vollständig namhaft zu machen. Sodann gilt es zu klären, ob einer von ihnen handlungsleitend war. Lässt sich ein bewusstseinsdominanter Beweggrund ausmachen, muss sich das Tatgericht im Rahmen seiner Erörterungen nach § 211 Abs. 2 StGB allein mit ihm auseinandersetzen …. Erweist er sich bei gesamtwürdigender Betrachtung nach sozialethischen Maßstäben als hochgradig verwerflich und somit niedrig im Sinne der Motivgeneralklausel, liegt der äußere Tatbestand des Mordmerkmals vor. Vermag das Tatgericht hingegen innerhalb des Motivbündels keinen bewusstseinsdominanten Faktor festzustellen, muss es nunmehr sämtliche Tatantriebe auf ihre Niedrigkeit hin analysieren. Sollten sie allesamt diesem Verdikt unterfallen, geht das Tötungsverbrechen im Endergebnis auf einen niedrigen Beweggrund zurück. Unter diesen Umständen ist es rechtlich gleichgültig, was genau den Täter zur Tatbegehung veranlasst hat … Enthält das Motivbündel indessen einen Beweggrund, der bei separater Prüfung nicht als niedrig eingestuft werden kann, so scheidet die Subsumtion der Tat unter die Motivgeneralklausel aus. In solchen Konstellationen offener Beweislagen kann letztendlich nicht ausgeschlossen werden, dass genau dieser Beweggrund für den Täter möglicherweise doch handlungsleitend war.
III. Die Verdeckungsabsicht bei dolus eventualis
Bei der Verdeckungsabsicht stellt sich regelmäßig die Frage, ob diese dem Täter nachgewiesen werden kann, wenn er bezüglich des Todeseintritts nur mit dolus eventualis handelt.
Hinweis
Machen Sie sich klar, dass sich die Absicht nur auf die nach der Vorstellung des Täters existierende und zu verdeckende Tat beziehen muss. Ansonsten reicht bezüglich der Verwirklichung des Tatbestandes dolus eventualis aus.
Dolus eventualis bedeutet nun, dass der Täter nur mit der Möglichkeit des Erfolgseintritts rechnet, mithin es also genauso gut für möglich hält, dass das Opfer überlebt und der Erfolg nicht eintritt. („50/50 Situation“)
Ob ein solcher Täter nun mit Verdeckungsabsicht gehandelt haben kann, ergibt sich daraus, ob er in der konkreten Situation den Tod des Opfers zur Verdeckung brauchte, weil er z.B. davon ausging, dass Opfer habe ihn erkannt und werde ihn anschließend überführen können oder ob nur die Tötungshandlung wichtig war zur Verdeckung der Tat, so z.B. wenn der Täter einen Brand legt, um Spuren zu verwischen wobei das schlafende Opfer ihn noch gar nicht bemerkt hat.
Reicht als Mittel zur Verdeckung die Tötungshandlung aus, kann Verdeckungsabsicht bei dolus eventualis vorliegen.
Dies hat der BGH (4 StR 356/21, JuS 2022, 888) noch einmal bestätigt:
„In Verdeckungsabsicht iSd § 211 II StGB handelt, wer als Täter ein Opfer deswegen tötet, um dadurch eine vorangegangene Straftat als solche oder auch Spuren zu verdecken, die bei einer näheren Untersuchung Aufschluss über bedeutsame Tatumstände geben könnten. Zu den einer Verdeckung zugänglichen Tatumständen gehört insbesondere die eigene Beteiligung an der vorangegangenen Tat. Schon begrifflich scheidet eine Tötung zur Verdeckung einer Straftat dagegen aus, wenn diese bereits aufgedeckt ist…. Auch der mit bedingtem Tötungsvorsatz vorgehende Täter kann mit Verdeckungsabsicht handeln… Dies setzt indessen voraus, dass der Täter davon ausgeht, die Aufdeckung der vorangegangenen Straftat durch die mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführte Tathandlung als solche unabhängig vom Eintritt eines Todeserfolgs verhindern zu können. Hält er dagegen den erstrebten Verdeckungserfolg nur durch den Tod des Opfers für erreichbar, sind bedingter Tötungsvorsatz und Verdeckungsabsicht nicht miteinander in Einklang zu bringen.“