Rechtsprechungsübersicht
Im heutigen Beitrag blicken wir zurück auf ausgesuchte Urteile, die kürzlich in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.
A. BGH Urteil vom 25.10.2022 - VI ZR 1283/20, JA 2023, 334
I. Fragestellung
Im vorliegenden Urteil beschäftigt sich der BGH mit der Frage der Beweislastverteilung und insbesondere Reichweite der Beweislastumkehr aus § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB.
Unproblematisch kann zunächst festgehalten werden, dass § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB die Beweislast für das fehlende Vertretenmüssen dem Schuldner zuordnet. Die Pflichtverletzung dagegen muss der Gläubiger beweisen. Im Einzelfall kann jedoch fraglich sein, welche konkreten Tatsachen der Schuldner und welche der Gläubiger zu beweisen haben. Anders gesagt: was gehört zur Pflichtverletzung und was gehört zum Vertretenmüssen? Insbesondere im Rahmen von Verkehrssicherungspflichten verschwimmt die Grenze zwischen der Pflichtverletzung und dem äußeren Tatbestand des Verschuldens.
II. Antwort
Schauen wir uns einleitend noch einmal an, was unter Verkehrssicherungspflichten zu verstehen ist:
„Nach ständiger Senatsrechtsprechung ist derjenige, der eine Gefahrenlage - gleich welcher Art - schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die den Umständen nach zuzumuten sind.“
Die vorstehenden Ausführungen beschreiben die Pflichtverletzung. Es gilt jedoch zu beachten, dass wer diesen Anforderungen nachkommt, auch die (äußere) im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet. Demnach überschneiden sich die zu prüfenden Tatsachen, welche für die Bestimmung der Pflichtverletzung und den äußeren Tatbestand des Vertretenmüssens relevant sind. Wie wirkt sich dieser Umstand auf die Beweislastverteilung aus? § 280 Abs. 1 BGB beantwortet dies für solche Konstellationen gerade nicht.
Der BGH greift hier auf die vor der Schuldrechtsreform entwickelten Grundsätze zur Beweislastverteilung nach Gefahr- und Organisationsbereichen zurück. D.h. der Schuldner muss darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass ihn keine Pflichtverletzung trifft, wenn die für den Schaden in Betracht kommenden Ursachen allein in seinem Gefahrenbereich liegen.
B. BGH Urteil vom 27.4.2022 – VIII ZR 304/21, BGH JA 2023, 336
I. Fragestellung
Der BGH beschäftigt sich im vorliegenden Urteil mit der Frage, ob Mietern einer WG ein Anspruch auf Zustimmung zum Wechsel der Mietparteien ggü. dem Vermieter zusteht.
II. Antwort
Die erste Aufgabe in der Klausur wird schon darin bestehen, die möglichen Anspruchsgrundlagen für einen solchen Anspruch zu erarbeiten. Hier gibt es insbesondere zwei Anknüpfungspunkte.
1. Vertragliche Abrede
Zunächst gilt es demnach zu prüfen, ob bereits im Mietvertrag eine Situation für die Parteien angelegt war, die deutlich darauf schließen lässt, dass die Mietparteien einen unter dem Vorbehalt von § 553 Abs. 1 S. 2 BGB stehenden Anspruch auf Zustimmung zum Mieterwechsel vereinbart haben. Die Auslegung richtet sich dabei nach den §§ 133, 157 BGB.
Relevant wird ein solcher Anspruch dann, wenn der Vertrag mit den einzelnen Bewohnern einer WG geschlossen wurde. Stellen die Parteien der WG schon eine GbR dar, ist ein Wechsel auch ohne Zustimmung des Vermieters möglich.
Der BGH betont, dass sich pauschale Lösungen verbieten. Ferner legte er der Auslegung folgende Grundsätze zu Grunde: Bei der Auslegung ist im Ausgangspunkt die Interessenlage der Parteien - und dabei maßgeblich die gesetzliche Lastenverteilung zu berücksichtigen. Legt man dies zugrunde, so ist es zunächst Sache der Mieter, den Vertrag derart auszugestalten, dass bereits zu Vertragsschluss ersichtliche Interessen mit Blick auf einen Wechsel der Parteien interessengerecht abgedeckt werden.
Hinweis
Hier setzt die teilweise in der Literatur vorgetragene Kritik an. Prof. Schrader trägt vor, dass dieses formal korrekte Argument in der Praxis nicht trägt. So seien die Mieter – insbesondere unter Berücksichtigung der Wohnungsnot – kaum in der Lage, ihre Interessen vertraglich durchzusetzen. Die fehlende passende Ausgestaltung des Vertrags lässt daher keine Rückschlüsse auf ein Desinteresse der Mieterseite an einer passenden Ausgestaltung zu.
Auf der anderen Seite bestehen schutzwürdige Interessen des Vermieters am Fortbestand des Mietverhältnisses mit den vereinbarten Parteien. So ergibt sich bei einem bloßen Austausch der Partei keine Möglichkeit der Mieterhöhung (§ 573 c Abs. 1 Satz 2). Auch mit Blick auf die gesamtschuldnerische Haftung ist ein einfaches Entlassen aus dem Mietvertrag formal gesehen nicht im Interesse des Vermieters.
Daraus folgt, dass ein bloßes Vorliegen einer Mehrheit von Mietern in einer WG nicht automatisch dazu führen kann, dass ein Anspruch auf Zustimmung besteht. Es müssen besondere Umstände hinzutreten, die ein anderes Auslegungsergebnis begründen. Solche Umstände können sich insbesondere daraus ergeben, dass bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses für die Parteien deutlich ersichtlich ist, dass der Mietvertrag auf einen sehr häufigen Mieterwechsel angelegt ist. Dies kann sich beispielsweise bei einer studentischen WG ergeben.
Im konkreten Fall musste der BGH noch klären, ob im Rahmen des Mietverhältnisses erteilte Zustimmungen (Nachtragsvereinbarungen) dazu führen können, dass für die Zukunft ein solcher Anspruch angenommen werden kann. Bloße Nachtragsvereinbarungen reichen jedoch nicht aus um einen solchen Anspruch zu begründen. Sie sind vielmehr Ausdruck eines Zugeständnisses des Vermieters im jeweiligen Einzelfall.
2 Treu und Glauben
Auch ergibt sich kein Anspruch auf Zustimmung aus Treu und Glauben. Die Übertragung der Grundsätze, die für den Mieter gelten, welcher das Mietverhältnis vorzeitig beenden will und hierfür geeignete Nachmieter vorschlägt, ist auf die vorliegenden Konstellation nicht übertragbar (BGH NJW 2007, 2177).
Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Zum einen ist der Vermieter in dieser Konstellation gar nicht verpflichtet, einen Vertrag mit den vorgeschlagenen Nachmietern zu schließen. Er kann den Vertrag daher gar nicht oder zu anderen Konditionen schließen. Das ist mit der Konstellation des Mieterwechsels nicht vergleichbar. Zum anderen trägt der BGH vor, dass ein Anspruch aus Treu und Glauben dann ausscheiden muss, wenn sich die Mieter auf eine Konstellation eingelassen haben, in der sich bloß Probleme realisieren, welche zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Vertrag deutlich angelegt waren.
Hinweis: Auch hier lässt sich das oben genannte Argument für eine andere Stoßrichtung verwenden. Haben die Mieter in der heutigen Zeit tatsächlich die Möglichkeit, auf die Vertragsgestaltung einzuwirken?
C. BGH Urteil vom 30.11.2022 – IV ZR 60/22, BGH JuS 2023, 365
I. Fragestellung
Der BGH beschäftigt sich im vorliegenden Urteil mit der Frage, ob einem Pflichtteilsberechtigten auch nach Ausschlagung seines Erbteils gemäß § 2306 Abs. 1 BGB ein Auskunftsanspruch gemäß § 2314 Abs. 1 BGB zusteht.
II. Antwort
Diese Frage wird nicht einheitlich beantwortet. Teilweise wird davon ausgegangen, dass dem Ausschlagenden kein entsprechender Anspruch zusteht. Immerhin hatte dieser bis zur Ausschlagung als Erbe die Möglichkeit alle Informationen einzuholen.
Dies wird von der überwiegenden Ansicht in der Literatur und Rechtsprechung jedoch anders gesehen. Dieser Ansicht hat sich der BGH vorliegend angeschlossen. Eine solche Differenzierung findet sich in § 2314 Abs. 1 Satz 1 nicht. Die Vorschrift verlangt nur, dass der Anspruchsteller „nicht Erbe“ ist. Es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem pflichtteilsberechtigten Nichterben und dem Pflichtteilsberechtigten der zuvor Erbe war.
Hinweis
Im Hinblick auf das Auskunftsrecht greifen auch keine Sonderregelungen wie für vorläufige Rechtsgeschäfte gemäß § 1959 Abs. 2 und 3 BGB.
Auch die Systematik des Gesetzes sieht vor, dass der Ausschlagende als ein pflichtteilberechtigter Nichterbe gem. §§ 2306 Abs. 1, 1953 BGB anzusehen ist. Mit Blick auf den Sinn und Zweck des Auskunftsanspruchs ist ebenfalls kein gegenteiliges Ergebnis veranlasst. Der Auskunftsanspruch ist ein unselbstständiger Hilfsanspruch, welcher dem Pflichtteilsberechtigten ermöglichen soll, seinen Anspruch zu bestimmen. Es ist kein Grund ersichtlich, diesen Anspruch in der vorliegend streitigen Konstellation zu versagen. Insbesondere bedarf es weiterhin der Auskunft insoweit die notwendigen Informationen im Zeitraum der Erbenstellung nicht erlangt wurden. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass die Ausschlagung einer Erbschaft nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen erfolgen kann, sondern auch aus persönlichen oder sonstigen Gründen. Insoweit ist die Einholung der relevanten wirtschaftlichen Auskünfte keine quasi faktisch notwendige Voraussetzung für die Ausschlagung. Doch auch in denjenigen Fällen, wo die Ausschlagung aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt ist, ist nicht zwingend notwendig eine exakte Berechnung vorzunehmen. So kann die Ausschlagung schon aufgrund einer groben Schätzung erfolgen. Auch in diesen Fällen ist für die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs eine umfassende Auskunft notwendig.
Alles in allem folgt der BGH der herrschenden Meinung und bestätigt den Auskunftsanspruch auch im vorliegenden Fall.