Hinweis
Die Urteile können Sie auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts unter www.bundesverfassungsgericht.de abrufen.
A. BVerfG, Beschlüsse v. 05.06. 2024, - 2 BvC 15/20 - und - BvR 1177/20
Beschwerden gegen Wahlalter bei Europawahl unzulässig
I. Sachverhalt
Bei der Wahl zum Europäische Parlament betrug das gesetzliche Mindestwahlalter bis 2024 18 Jahre (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Europawahlgesetzes (EuWG) in der Fassung vom 8. März 1994), für die Europawahl 2024 wurde es auf 16 Jahre herabgesetzt (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG n.F.). Der Deutsche Bundestag wies den Einspruch der Beschwerdeführer gegen die Europawahl 2019 zurück. Mit Verfassungsbeschwerde greifen sie nun die gesetzliche Bestimmung des Mindestwahlalters an, auch nach der Herabsetzung des Mindestwahlalters erhielten sie diese aufrecht.
II. Entscheidung
Die Beschwerden sind unzulässig, weil verfristet. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht innerhalb der geltenden Jahresfrist gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG erhoben worden: „Dabei kann dahinstehen, ob für den Fristbeginn auf das Inkrafttreten des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. am 13. März 1994 oder sogar bereits auf die ursprüngliche Fassung des Europawahlgesetzes vom 16. Juni 1978 abzustellen ist, weil die Neubekanntmachung vom 8. März 1994 für die Bestimmung des Wahlalters keine inhaltlichen Änderungen zur Folge hatte. Die Erhebung der Verfassungsbeschwerde am 3. Juli 2020 erfolgte jedenfalls offensichtlich nicht innerhalb eines Jahres seit dem 13. März 1994.“
Auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführer erst nach Ablauf dieser Frist geboren wurden führt zu keiner anderen Bewertung: „Es ist entgegen dem Beschwerdevorbringen auch keine andere Bewertung deshalb geboten, weil die Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2. erst nach Ablauf der an das Inkrafttreten des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. anknüpfenden Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG geboren wurden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielt es für den Fristlauf grundsätzlich keine Rolle, wann ein Beschwerdeführer durch eine Norm erstmalig beschwert wird, weil die Ausschlussfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG sonst ihren Zweck, Rechtssicherheit zu schaffen, verfehlen würde.“
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt ebenfalls nicht in Betracht, da es sich hier um eine Ausschlussfrist handelt. Darüber hinaus fehlt es nach der Änderung der Norm am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
B. BVerfG, Beschl.v. 14.05.2024, - 2 BvQ 33/24 -
MLPD scheitert mit Eilantrag auf Ausstrahlung von Wahlwerbespot
I. Sachverhalt
Die politische Partei begehrt, nach Ausschöpfung des Rechtswegs, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihren Wahlwerbespot zur Europawahl 2024 im Rahmen der Wahlsendezeiten der ARD-Rundfunkanstalten in der von ihr eingereichten Form – einschließlich der Einblendung des Buches „Die globale Umweltkatastrophe hat begonnen!“ – auszustrahlen.
II. Entscheidung
Die Kammer lehnt dies ab – der Antrag erfüllt nicht die strengen Darlegungsvoraussetzungen. Denn „Wendet sich die Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, so bedarf es daher in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit den konkreten Entscheidungen und deren konkreter Begründung dahin gehend, dass und weshalb bei dem substantiiert und schlüssig darzustellenden Sachverhalt ein Verstoß der angegriffenen Entscheidungen gegen das mit der Beschwerde geltend gemachte verfassungsbeschwerdefähige Recht möglich erscheint“.
Dies gilt insbesondere, wenn vom BVerfG bereits Vorgaben entwickelt wurden: „Hat das Bundesverfassungsgericht zu den von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen bereits Maßstäbe entwickelt, muss die Verfassungsbeschwerde auch an diese anknüpfen, sich mit ihnen auseinandersetzen und auf dieser Grundlage darlegen, dass und aus welchen Gründen eine Verletzung in den geltend gemachten verfassungsbeschwerdefähigen Rechten vorliegen soll“.
Basierend auf dem Vortrag der Antragstellerin wäre eine Verfassungsbeschwerde demnach klar unzulässig, da sie diesen Darlegungserfordernissen ersichtlich nicht genügt. Denn die Beanstandung der Einblendung des Buches richtet sich nicht gegen eine inhaltliche Aussage, sondern allein gegen die Präsentation eines kommerziell vertriebenen Buches. Der Antragstellerin bleibt es insoweit unbenommen, die für sie zentrale Aussage ohne gleichzeitige Präsentation des Buches in ihren Wahlwerbespot aufzunehmen.
C. BVerfG, Beschl. v. 21.05. 2024, - 2 BvR 1694/23 -, und 28.06.2024, - Az. 2 BvQ 49/24 –
Erfolgreiche Eilanträge gegen Auslieferung in die Türkei und nach Ungarn
I. Sachverhalt
In Fall 1 wurde der Antragsteller und Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, in der Türkei wegen mehrerer Delikte zu einer mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Nach Anordnung der Auslieferungshaft versuchte er sich das Leben zu nehmen; dabei fügte er sich schwere Verletzungen zu, die ständiger ärztlicher Behandlung bedürfen. Im Februar 2023 wurde der Auslieferungshaftbefehl in Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer inhaftiert, das OLG erklärte die Auslieferung für zulässig, insbesondere seine Suizidalität stehe dem nicht entgegen. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde.
Dem Antragsteller wird im 2. Fall von den ungarischen Behörden zur Last gelegt, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein und andere Straftaten begangen zu haben. Das Kammergericht hat die Auslieferung des Antragstellers für zulässig erklärt, er wandte sich an das BVerfG mit Antrag auf einstweilige Anordnung.
II. Entscheidung
Die Erklärung der Zulässigkeit der Auslieferung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das OLG hat nicht hinreichend aufgeklärt, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers Maßnahmen zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs gebieten könnte, denn „Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Dabei unterliegen die deutschen Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht, zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt. Sie sind zudem verpflichtet, zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren.“
Insoweit war die Entscheidung des OLG nicht korrekt, denn es „hat nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers Maßnahmen zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs gebieten könne. Unter Berücksichtigung dieser Umstände und angesichts der eindringlichen Warnung von insgesamt vier Ärzten hätte sich das Oberlandesgericht veranlasst sehen müssen, zumindest aufzuklären, ob und wie während des Transports die Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs sichergestellt werden könne, oder − bei fortbestehenden Zweifeln an der Tragfähigkeit der ärztlichen Stellungnahmen − ein Sachverständigengutachten zur Transport- und Haftfähigkeit des Beschwerdeführers einholen müssen.“
Im 2. Fall wird die Übergabe des Antragstellers an die ungarischen Behörden bis zur Entscheidung über die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Wochen, einstweilen untersagt; die Generalstaatsanwaltschaft Berlin wird angewiesen, durch geeignete Maßnahmen eine Übergabe des Antragstellers an die ungarischen Behörden zu verhindern und seine Rückführung in die Bundesrepublik Deutschland zu erwirken.