Sachverhalt (gekürzt und verändert)
Der Verein A e.V. mit Sitz in Köln setzt sich für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei ein. Nachdem in Deutschland erhebliche Kritik am türkischen Präsidenten wegen dessen Umgang mit oppositionellen Politikern und kritischen Journalisten geäußert wurde, will der Verein A in Köln eine „Pro-Erdogan“-Kundgebung veranstalten und meldet diese ordnungsgemäß an. Auf der Kundgebung soll eine Video-Leinwand aufgestellt werden. Darauf sollen zum einen die unmittelbar vor Ort anwesenden Redner vergrößert dargestellt werden, um für die Masse der erwarteten Demonstranten sichtbar zu sein. Zum anderen soll der Präsident der Türkei, Erdogan, persönlich live für eine Rede zugeschaltet werden.
Die Polizei als zuständige Versammlungsbehörde hat dies untersagt. Die Videoleinwand dürfe ausschließlich zur vergrößerten Darstellung der persönlich bei der Versammlung anwesenden Redner benutzt werden. Insbesondere wird dem Veranstalter verboten bei der Versammlung den türkischen Staatspräsidenten oder andere Regierungsmitglieder über die auf der Bühne aufgestellte Videoleinwand live zuzuschalten. Der entsprechende Bescheid wird formell ordnungsgemäß für sofort vollziehbar erklärt, wobei das besondere Vollzugsinteresse schriftlich begründet wird.
Der Veranstalter A sieht sich dadurch in seinen Rechten, insbesondere aus Art. 8 GG verletzt und will das Verbot im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes aufheben lassen.
Lösung
Zulässigkeit
Der Verwaltungsrechtsweg ist für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet.
Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, da es um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines belastenden Verwaltungsaktes geht. Die Anfechtungsklage bzw. der Widerspruch gegen die Auflage der Polizei hat hier keine aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 1 VwGO, weil die Behörde die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs.2 S. 1 Nr. 4 VwGO besonders angeordnet hat.
Die Antragsbefugnis des A e.V. ergibt sich aus § 42 Abs. 2 VwGO analog, weil eine Verletzung im Recht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG zumindest nicht offensichtlich ausgeschlossen ist.
Zudem müsste das Rechtsschutzbedürfnis vorliegen. Dies ist im Rahmen eines Antrags nach § 80 V VwGO positiv festzustellen.
Zunächst dürfte der Rechtsbehelf in der Hauptsache nicht offensichtlich unzulässig sein. Hier ist in der Hauptsache eine Anfechtungsklage gegen die Auflage möglich, die nicht offensichtlich unzulässig – insbesondere nicht verfristet – ist.
Zudem ist fraglich, ob vor dem Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nach § 80 V VwGO ein vorheriger Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde nach § 80 Abs. 4 erforderlich ist. Eines solchen Antrags bedarf es aber im Grundsatz nicht, wie aus § 80 Abs. 6 VwGO zu schließen ist. Dieser sieht einen vorherigen Antrag bei der Behörde nur im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwGO vor (Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten), der hier nicht gegeben ist. Somit kann A unmittelbar ohne einen vorherigen Antrag bei der Behörde den gerichtlichen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen.
Schließlich ist fraglich, ob der Antragsteller eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO zuvor einen Rechtsbehelf in der Hauptsache erhoben haben muss. Dafür spricht die Überlegung, dass die beantragte Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage (bzw. eines Widerspruchs) deren Existenz voraussetzt. Dagegen wird eingewendet, dass auch die aufschiebende Wirkung einer „noch zu erhebenden Anfechtungsklage“ angeordnet bzw. wiederhergestellt werden kann. Allerdings stellt § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO fest, dass der Antrag schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig ist. Dies kann in Bundesländern, in denen das Widerspruchsverfahren in diesem Fall entbehrlich ist – wie z. B. gem. § 110 JustG NRW, Art. 15 Abs. 2 AGVwGO, § 15 AGVwGO BW – dafür sprechen, dass der Antrag nach § 80 V VwGO schon vor Erhebung eines Rechtsbehelfs in der Hauptsache zulässig ist. Für dieses Ergebnis spricht schließlich folgende Überlegung: Nach § 74 VwGO beträgt die Klagefrist, nach § 70 VwGO die Widerspruchsfrist einen Monat nach Bekanntgabe des belastenden Verwaltungsakts. Dem Adressaten wird also grundsätzlich eine Frist von einem Monat eingeräumt, während der er sich entscheiden kann, einen Hauptsacherechtsbehelf einzulegen (oder nicht). Würde man von ihm verlangen, dass er zwingend vor einem Antrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren bereits den Hauptsacherechtsbehelf eingelegt haben muss, würde diese Klage-/Widerspruchsfrist faktisch verkürzt.
Insgesamt ergibt sich daraus, dass der A e.V. ein ausreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat.
Eine Frist ist für den Antrag nach § 80 VwGO nicht vorgesehen. Schließlich müssen die allgemeinen Sachentscheidungsvoraussetzungen nach §§ 61 ff., 78 VwGO erfüllt sein.
Der Antrag ist also zulässig.
Begründetheit
Fraglich ist, ob der Antrag des A e.V. nach § 80 V VwGO auch begründet ist.
Die Begründetheit des Antrags richtet sich nach einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Vollzug des angegriffenen Verwaltungsaktes und dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Diese Abwägung richtet sich in maßgeblich nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache.
In den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO, in denen die Behörde die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse angeordnet hat ist zudem zunächst die formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung zur sofortigen Vollziehung zu prüfen. Diese muss von der zuständigen Behörde erlassen worden sein und ist nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO schriftlich zu begründen. Allgemein gehaltene Floskeln oder die bloße Wiederholung der Gründe, die den Erlass des Verwaltungsaktes selbst rechtfertigen, sind dabei nicht ausreichend. Laut Sachverhalt ist die Vollziehungsanordnung formell ordnungsgemäß und ausreichend begründet.
Expertentipp
Es wäre ein gravierender Fehler, hier bereits den Inhalt der Begründung näher zu untersuchen. Ob die Begründung die Entscheidung im Ergebnis inhaltlich trägt ist eine Frage der Abwägung zwischen dem Vollzugs- und dem Aussetzungsinteresse, also der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes und ggf. dem darüber hinaus erforderlichen besonderen Vollzugsinteresse. An dieser Stelle ist allein zu prüfen, ob die Begründung die Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO erfüllt, also schriftlich erfolgt und erkennen lässt, dass sich die Behörde des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst ist.
Entscheidend kommt es daher auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes an, wie er sich in einer summarischen Prüfung darstellt. Denn für einen rechtswidrigen Verwaltungsakt besteht grundsätzlich kein Vollziehungsinteresse, das das Aussetzungsinteresse überwiegen könnte.
Ermächtigungsgrundlage für die Auflage ist § 15 Abs. 1 VersG.
Hinweis
Einige Bundesländer haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht und Landes-Versammlungsgesetze zu erlassen (z.B. Bayern, Niedersachsen, Sachsen und zuletzt Schleswig-Holstein). Inhaltlich weichen diese meist nicht grundlegend vom (Bundes-)Versammlungsgesetz ab. In Ländern, die kein Landes-Versammlungsgesetz erlassen haben (z.B. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen) gilt das Versammlungsgesetz des Bundes gem. Art. 125a Abs. 1 GG als Bundesrecht fort.
Die Anordnung müsste formell rechtmäßig sein. Die Polizei ist die zuständige Versammlungsbehörde. Grundsätzlich ist gem. § 28 Abs. 1 VwVfG eine Anhörung erforderlich, die hier jedoch ggf. nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 (Gefahr im Verzug) oder gem. § 28 Abs. 2 Nr. 4 (Allgemeinverfügung) entbehrlich sein kann, jedenfalls aber gem. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG nachgeholt werden kann.
Die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung richtet sich nach § 15 Abs. 1 VersG. Erforderlich ist also eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Erforderlich ist eine unmittelbare Gefahr, die eine Gefahrenprognose der Versammlungsbehörde voraussetzt, die auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage und nicht nur auf Vermutungen beruht. Denkbar ist hier eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, weil es in der insgesamt aufgeheizten Stimmung durch die Rede des türkischen Präsidenten zu Auseinandersetzungen kommen könnte.
Fraglich ist, ob hier ein Ermessensfehler vorliegt, der insbesondere in einer Verletzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit liegen könnte. Dazu führt das OVG Münster zunächst grundsätzlich zur Versammlungsfreiheit aus:
„Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zweck einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung öffentlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung konstituierend. Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten wie Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung.“
Insbesondere zur Wahl der Redner, Aktionsformen und Auswahl der verwendeten Medien präzisiert das Gericht:
„Zu dem Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters der Versammlung gehört prinzipiell auch das Recht, die auf ihnen auftretenden Redner festzulegen. Zählt ein Redebeitrag zu den Programmpunkten einer öffentlichen Versammlung, so beeinträchtigt ein Redeverbot die Möglichkeit kommunikativer Entfaltung in Gemeinschaft mit anderen Versammlungsteilnehmern und damit auch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.“
Das OVG beschreibt auch noch einmal nachdrücklich Sinn und Zweck der Versammlungsfreiheit:
„Der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung zugunsten einer weitreichenden Versammlungsfreiheit liegt die Erwägung zugrunde, dass deren Ausübung seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers in einem freiheitlichen Staatswesen gelten. Indem der Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit und ohne Zwischenschaltung von Medien kundgibt, entfaltet auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer einerseits in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.“
Allerdings sieht das OVG Münster im konkreten Fall keine Verletzung der Versammlungsfreiheit und begründet dies wie folgt:
„Weder die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG noch andere Grundrechte – wie insbesondere die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG oder die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG – verleihen dem Veranstalter einer Versammlung von ihrem Schutzgehalt her einen Anspruch darauf, ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern die Gelegenheit zu geben, in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen öffentlicher Versammlungen in ihrer Funktion als Staatsoberhaupt bzw. Regierungsmitglied zu politischen Themen zu sprechen.“
„Art. 8 Abs. 1 GG ist kein Instrument dafür, ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern ein Forum zu eröffnen, sich auf öffentlichen Versammlungen im Bundesgebiet in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger amtlich zu politischen Fragestellungen zu äußern….zumal dieser als solcher – ebenso wie andere Hoheitsträger – kein Grundrechtsberechtigter im Verhältnis zu dem grundrechtsverpflichteten Antragsgegner ist (vgl. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG).“
Schließlich weist das OVG Münster noch auf außenpolitische Erwägungen hin und begründet mit ihnen ebenfalls die Rechtmäßigkeit der Auflage:
„…die Möglichkeit ausländischer Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder zur Abgabe politischer Stellungnahmen im Bundesgebiet ist nach der Regelungssystematik des Grundgesetzes nicht grundrechtlich fundiert. Der Grundentscheidung der Art. 20 Abs. 1, Abs. 2, 23, 24, 32 Abs. 1, 59 GG ist zu entnehmen, dass sich die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten – d.h. auch zu deren Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern – allein nach Maßgabe dieser Bestimmungen auf der zwischenstaatlichen Ebene vollziehen. Sie sind in diesem Rahmen Gegenstand der Gestaltung der Außenpolitik des Bundes…Es ist damit Sache des Bundes zu entscheiden, ob und unter welchen Rahmenbedingungen sich ausländische Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im öffentlichen Raum durch amtliche Äußerungen politisch betätigen dürfen. Die Entscheidung darüber liegt nicht bei dem privaten Anmelder einer Versammlung“.
Insgesamt ist die Auflage damit rechtmäßig. Somit überwiegt das Vollziehungsinteresse der Versammlungsbehörde das Aussetzungsinteresse des Antragstellers A e.V.
Weiterführende Hinweise
Eine Entscheidung des OVG Münster, die sich schon allein deswegen für eine Prüfungsaufgabe anbietet, weil der Sachverhalt für große öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Der gegen den Beschluss des OVG Münster beim BVerfG gestellt Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfG wurde vom BVerfG abgelehnt (Az. 1 BvQ 29/16, Beschluss v. 30.07.2016).
Die Entscheidung des OVG Münster ist nur schwer in das übliche „Prüfungsschema“ einzuordnen. Es wird in der Begründung nicht ganz deutlich, ob das OVG bereits den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG als nicht eröffnet ansieht. Dafür spricht die Formulierung, Art. 8 Abs. 1 GG verleihe keinen „Anspruch darauf, ausländischen Staatsoberhäuptern die Gelegenheit zu geben, in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen öffentlicher Versammlungen zu sprechen“.
Grundrechtsdogmatisch ist das allerdings wenig überzeugend, da es nicht um die Grundrechtsfähigkeit des türkischen Staatsoberhauptes geht, sondern um die Versammlungsfreiheit des Veranstalters, die grundsätzlich auch das Recht erfasst, die auftretenden Redner festzulegen.
Ebenfalls unklar ist, wie die Ausführungen des OVG zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Außenpolitik nach dem GG im Verhältnis zu den Grundrechten zu verstehen sind. Grundsätzlich treffen nämlich die genannten Art. 23, 24, 32, 59 GG keine Aussagen über die Einschränkung der Grundrechte, sondern enthalten staatsorganisationsrechtliche Aussagen über das Verhältnis von Bund und Land bzw. Bundesregierung und Bundestag in außenpolitischen Belangen.